Frederic-PeacefulRulerDas Phantom in Dir

Das Phantom in Dir

 

 

Vor 17 Jahren

„Sprich mit niemandem darüber. Niemals. Das geht nur dich und mich etwas an, hast du verstanden? Wenn du dich daran hältst, wird dir nichts passieren, und niemand wird etwas merken. Denn ich weiß, was ich tue. Ich weiß, wie ich dir helfe und auch wenn du das jetzt nicht verstehst, ich weiß, dass es so das Beste für dich ist. Verstehst du?“

Ich hasse dich. Lass mich doch einfach in Ruhe. Ich will das alles nicht. Lass mich in Ruhe. Geh weg von mir. Hör auf mich anzufassen. Ich will das nicht!

„Nicht weinen. So schlimm ist es doch gar nicht. Du gewöhnst dich schon noch dran. Glaub‘ mir, es ist das Beste für dich.“

Ich will das nicht. Es tut so weh. Immer tut es weh.

„Wir sind fertig für heute. Du kannst dich wieder anziehen… warte, ich helfe dir. Und vergiss nicht, das bleibt unser kleines Geheimnis.“

Jetzt

1.637.439,29 €. Matthias kontrollierte fast jeden Abend den Kontostand – einfach, weil es sich so besser schlafen ließ. Dazu kamen noch Aktien und ein paar andere Anlagen. Und natürlich die Sparkonten. Ja, man konnte ganz zufrieden sein. Die prestigereiche Stelle, das Haus, das Auto, teure Reisen und nicht zuletzt die ein oder andere Affäre versüßten Matthias‘ Leben. Klar, das Spiel mit dem Feuer war gefährlich und manches Mal stand seine Ehe auf dem Spiel, aber der Nervenkitzel war es wert. Geld ist Macht, das hatte Matthias verstanden und er wusste, wie er diese Macht einzusetzen hatte. Er bekam, was er wollte. Früher oder später. Alle hatten einen Preis. Ausnahmslos alle.

An diesem Abend war er allein zuhause – eine Seltenheit, die es auszunutzen galt. Es war ein anstrengender Tag gewesen, als Chefarzt der Chirurgie wurde er zu einem kritischen Gespräch zu einem Kunstfehler hinzugebeten. Solche Fälle hasste er, denn in diesem Stadium hatte nicht mehr er die Kontrolle, sondern die Rechtsabteilung. Seit er Chefarzt war, hatte er immer mehr mit Anwält_innen zu tun und musste sich seiner Meinung nach viel zu oft rechtfertigen. Für ihn ging es dabei nicht nur um seine Reputation, sondern auch um alles, was er sich mühsam über die Jahre hinweg aufgebaut hatte. Er konnte es sich einfach nicht leisten, in dieser Position verklagt zu werden. Dieses Mal schien es zumindest gut auszugehen und nun hatte er sich einen gemütlichen Abend mit einem Glas Wein wirklich verdient. In der Badewanne. Mit Sue am Ohr. Sue … er hatte sie erst letzte Woche auf einem Kongress in Berlin kennengelernt. Nachdem er das Wasser in die Wanne einlaufen ließ, griff er in seine Hosentasche. Insgeheim hoffte er, dass Sue ihm bereits ein intimes Foto auf WhatsApp geschickt hatte. Aber seine Hand griff ins Leere. Seine Hände durchsuchten beide Hosentaschen, die Aktentasche, Jackentasche – nichts! Verdammt. Schnell streifte er sich das Hemd wieder über und ging zurück zum Auto. Doch soweit musste er gar nicht gehen; kaum hatte er die Haustür geöffnet, fand er sein neues, schwarzes iPhone auf der Türschwelle liegen. Matthias hatte das Handy noch nicht lange, aber schon mindestens fünf Nummern von Frauen gespeichert, die er bereits nackt gesehen hatte oder in naher Zukunft nackt sehen würde. Privat, nicht beruflich, versteht sich. Er hob es auf und verfluchte innerlich seine Unachtsamkeit. Unnötige Kratzer auf dem neuen Gerät. Das Hemd wieder abstreifend ging er nach oben Richtung Badezimmer. Das Handy in der einen, den Wein in der anderen Hand. Wie gut, dass ihm gerade heute jemand eine Flasche Château Angélus von 2016 auf den Schreibtisch gestellt hatte – einen seiner Lieblingsweine. Kurz dachte er an seine Frau, sie wird ihm den Wein doch wohl nicht vorbeigeschickt haben? Wein war vermutlich das einzige, was die Ehe noch am Laufen hielt. Naja, Wein und Geld… und Bequemlichkeit. Viele blieben der Kinder wegen zusammen, aber aus den Kindern hatte er sich noch nie viel gemacht. Sie waren ganz nett, aber hatten lange nicht das Potential, das er gern in ihnen gesehen hätte. Er machte das Glas voll und zog die letzten Kleidungsstücke aus. Seine Vorfreude auf das Telefonat mit Sue, die bestimmt 35 Jahre jünger war als er und mit einem wunderbaren amerikanischen Akzent sprach, hatte bereits Form angenommen und auch die Badewanne war mittlerweile voll. Er nahm einen großen Schluck Wein und ließ sich vorsichtig, mit dem Handy in der Hand, ins Wasser gleiten. Ohne nachzudenken fuhr er routiniert über die Oberfläche des iPhones und erweckte so das Display zum Leben. Das, was er zunächst nur im Augenwinkel sah, ließ ihn zusammenzucken. Das Handydisplay hatte nun seine volle Aufmerksamkeit. Was sollte das bedeuten?

In der gleichen Sekunde hörte er ein Knacken. Was war das? Schnell sprang er aus der Wanne. Die Haustür war verschlossen, das wusste aber, aber die Terrassentür zum Garten war noch auf. Ohne nach einem Handtuch zu greifen rannte er nach unten und schloss die Tür zur Terrasse. Nur um sicher zu sein kontrollierte er auch noch einmal die Haustür. Das Bild auf dem Handy ließ ihn nicht los. Diese Nachricht konnte nur von einer Person kommen… aber war das möglich? Es war schon so lange her. Damals war er bei den vielen Nachuntersuchungen einen Schritt zu weit gegangen, aber es war nie zu einer Klage gekommen. Er atmete tief durch und sein Blick fiel auf die Kommode im Durchgang zwischen Flur und Wohnzimmer. Neben seinem Badge, den er für die Türen in der Klinik benutzte, und dem Autoschlüssel lag ein Handy. SEIN Handy. Was zum…? Ihm wurde schwindlig. Mit zittrigen Fingern griff er nach seinem Handy. Er entsperrte es und sah, was er immer sah: das Hintergrundbild, was ihn selbst an seinem Schreibtisch vor der Wand mit all den Urkunden und Zeugnissen zeigte, sowie die aktuelle Uhrzeit und das Datum. Sein Herzschlag beschleunigte sich und er rannte schwankend zurück nach oben ins Badezimmer. Dort lag das andere, das offensichtlich fremde Handy auf dem kleinen Teppich vor der Badewanne. Schwarz, das gleiche Modell wie sein eigenes. Wie konnte das sein? Mit weichen Knien nahm er es in die Hand und entsperrte es. Es war der gleiche Code – sein Geburtsdatum. Und wieder sah er das Bild. Wie sein eigenes Hintergrundbild zeigte auch dieses Bild ihn selbst. Allerdings in einer weitaus verletzlicheren Situation: er lag offensichtlich tief schlafend im Bett und darunter stand:

Hast du dein Phantom vergessen?

In diesem Moment ging das Licht aus und wieder hörte er ein Geräusch. Er tastete nach dem Lichtschalter – aber dieser reagierte nicht. Im Schein des Handydisplays stand er da – sollte er zum Sicherungskasten im Keller gehen? Oder gleich die Polizei rufen? Aber was sollte er ihnen sagen? Dass er Angst hatte, es dunkel war und vielleicht jemand hier war, weil …?

„Mach‘ dir nicht die Mühe.“

Matthias fuhr herum. Sein Herzschlag hatte ein fast schmerzhaftes Level erreicht. Eine Person stand direkt vor ihm, mit einem Elektroschockgerät in der Hand.

 „Was…?“ Er war wie gelähmt vor Schock.

„Versuch‘ gar nicht erst zu schreien oder wegzulaufen. Der Wein war von mir, ich hoffe er hat geschmeckt?“

„Wieso tust du das?“

„Keine Angst, es ist nur ein leichtes Betäubungsmittel. Und wenn du dich nicht wehrst, ist alles auch gleich vorbei.“

„Was willst du von mir?“ Matthias bemühte sich um eine feste Stimme.

„Ich dachte, das wäre klar. Hast du die Nachricht nicht verstanden? Ich will sichergehen, dass du dein Phantom nicht vergessen hast. Dass du es niemals vergisst. Nie wieder. Ich will, dass du endlich verstehst, was du getan hast!“

Matthias lief es kalt den Rücken hinunter. Das Phantom. Das Bild. Die Nachricht. Die Momente hinter verschlossener Tür damals. Nur sie und er. Es würde ihn einiges kosten, unbeschadet aus dieser Situation heraus zu kommen. Auch wenn er immer auf seinen Vorteil bedacht war, wusste Matthias genau, wann es Zeit war, zu bezahlen. Alle hatten einen Preis – er musste nur herausfinden, welchen.

„Ja, lange her, nicht wahr? Du hättest wohl nicht gedacht, mich wieder zu sehen? Du hast immer noch nicht begriffen, um was es hier eigentlich geht, oder? Ist auch schon ein paar Jahre her, zugegeben. Jahre, in denen ich jeden Tag, jede Stunde, jede Minute verflucht habe. Du hast mich kaputt gemacht und es hat dir gefallen. Es ist alles deine schuld! Du hast mir genommen, was mir war, du hast mir einen Teil von mir unwiederbringlich genommen! Ich fühle nichts mehr… nichts! Du hast keine Ahnung, was du mir angetan hast!“

„Es war zu deinem besten! Sag mir, wie war es in der Schule? Bist du nicht ohne Probleme, ohne Mobbing durchgekommen? Hast du einen Freund? Schläfst du mit ihm? Dass das überhaupt möglich ist, hast du allein mir zu verdanken!“

„Nichts als Schmerz habe ich dir zu verdanken! Du hast mir genommen, was mich ausmachte!“

„Ich habe dich erst zu einem richtigen Menschen gemacht, Samantha!“

„Verstümmelt hast du mich! Ich heiße jetzt Sam, merk‘ dir das!“

„Sam, also gut. Sam, was willst du? Brauchst du Geld?“

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass du dich jetzt freikaufen kannst? Das, was du getan hast, ist nicht mit Geld wieder gut zu machen. Die Schmerzen, die Therapie, die ganzen Medikamente, die Ablehnung… all das hat mich kaputt gemacht. Weißt du überhaupt, wie es ist, wenn man sich selbst ablehnt? Weil einem das genommen wurde, was man war? Du hast gesagt, dass es nur so geht, dass es keine andere Möglichkeit für mich gäbe, aber das stimmt nicht! Meine Mutter hast du überredet zuzustimmen, obwohl sie das nicht wollte. Aber du hast ihr Angst gemacht, gedroht, dass ich sonst kein Leben hätte! Ich war perfekt und du hast mir alles genommen! Wieso hast du das getan? Für deinen Facharzttitel? Um deine abartigen Phantasien zu befriedigen? Glaubst du, ich weiß nicht, dass das falsch war, was du danach im Behandlungszimmer mit mir gemacht hast? Du hast keine Ahnung, welche Schmerzen ich ertragen musste. Aber damit ist Schluss. Heute hole ich mir, was du mir genommen hast!“

Blitzschnell setzte Sam den Elektroschocker ein und Matthias fiel sofort zu Boden. Sam fesselte und knebelte ihn. Matthias lag zwischen der freistehenden Badewanne und dem massiven Waschtisch; ein Bein band Sam an den Fuß der Badewanne, das andere an den Waschtisch, sodass Matthias mit gespreizten Beinen auf dem Fliesenboden lag. Die Arme befestigte er an der Heizung an der Wand. Dann positionierte er mehrere Taschenlampen im Raum und holte ein schwarzes Bündel aus seinem Rucksack. Als Matthias wieder zu sich kam, konnte er nicht fassen, was hier gerade geschah und betrachtete mit Entsetzen das Bündel, das Sam gerade vor ihm ausrollte. OP-Besteck blitzte ihn im Licht der Taschenlampen an. Und ein… Phantom.

„Damit hast du nicht gerechnet, was? Ich damals auch nicht, das kannst du mir glauben. Weißt du, wie schmerzhaft es ist, ein Phantom einzuführen? Hm? Nein?“

Matthias versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Ihm wurde übel und durch das Betäubungsmittel fühlte er sich kraftlos und leicht benommen. Er war Sam vollkommen wehrlos ausgeliefert.

Sam verschwand aus dem Badezimmer und kam kurz darauf mit dem großen Standspiegel aus dem Ankleidezimmer zurück. Er positionierte den Spiegel zwischen Matthias‘ Beinen so, dass dieser sich selbst sehen konnte. Matthias wimmerte.

„Was sagst du? Ich fürchte, ich muss das Tuch leider in deinem Mund lassen, denn das, was jetzt folgt, wird für dich sehr schmerzhaft werden. So wie für mich damals. Du sollst wissen, wie sich das anfühlt, damit du mich besser verstehen kannst. Damit du uns alle besser verstehen kannst. Ich werde dich jetzt zu einem Menschen machen, Matthias. Zu einem Menschen, der dann vielleicht Empathie für seine Patientinnen und Patienten empfinden kann. Du weißt ja, man wird nicht als Frau – oder Mann – geboren, man wird dazu gemacht!“

Im Licht der Taschenlampen griff Sam nach dem Skalpell.

Glossar

Phantom:

In der Medizin wird als Phantom die künstliche Nachbildung von Teilen des Körpers oder Organen bezeichnet. Bei intersexuellen Kindern, d.h. bei Kindern, die mit uneindeutigem Geschlecht geboren wurden, wurden und werden noch heute geschlechtsangleichende Operationen vorgenommen. In vielen Fällen werden aus diesen Kindern Mädchen „gemacht“, da dies die einfachere Operation ist. Allerdings wächst eine künstlich hergestellte Vagina nicht mit, d.h. diese muss „bougiert“ werden, indem regelmäßig ein sogenanntes „Phantom“ eingeführt wird. Das ist „ein harter, rohrähnlicher Gegenstand, der die [Neovagina] dehnen und das erneute Zuwachsen verhindern [soll]. Ziel ist, ein funktionstüchtiges Geschlechtsorgan für späteren Geschlechtsverkehr herzustellen.“ (Vgl. http://www.wega-film.at/tintenfischalarm/index.php?id=facts3&facts=5, zuletzt aufgerufen am 27.04.2020). Es gibt Fachliteratur hierzu, allerdings ist das Thema der Intersexualität auch heute oft noch ein „Tabuthema“ und die betroffenen Personen, die gegen ihren Willen geschlechtsangleichende Operationen erhalten haben, leiden später oft sehr darunter.

2 thoughts on “Das Phantom in Dir

  1. Hey, zuerst einmal finde ich es toll, dass Du Dich an ein solches Thema herangewagt hast. Der Titel ist sehr gut gewählt, da man bei einem Phantom natürlich erstmal an etwas anderes denkt. Das Ende war sehr überraschend und es ist gut, dass Du den Begriff am Ende nochmal erklärt hast, denn ich kannte den Begriff in diesem Zusammenhang nicht.
    Hab Dir ein ♥️ da gelassen!

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

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