FerdinandDas rote Auto

Oskar wurde von seinem Handywecker aus dem Schlaf gerissen. Es war gerade mal halb sechs morgens, aber er hatte ja noch etwas vor, bevor er sich auf den Weg zur Universität machte. Der 21-jährige Oskar Wagner lebte in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Münchner Süden. Nicht gerade billig – die Miete für eine Wohnung in der bayrischen Hauptstadt, aber was tut man nicht alles, um irgendwann selbstständig als Architekt arbeiten zu können. Außerdem unterstützen ihn seine Eltern, wo sie nur können. Nun ja, eigentlich sind es ja gar nicht seine Eltern. Als Oskar 13 Jahre alt war, teilte ihm seine Mutter mit, dass sie nicht seine leibliche Mutter sei und sie und ihr Mann ihn im Kleinkindalter adoptiert hätten. Das warf ihn damals ziemlich aus der Bahn, aber nach einigen langen Gesprächen mit seiner neuen Familie akzeptierte er es und fragte auch nicht mehr nach seinen wahren Eltern. Es war ein Segen, in dieser Familie aufwachsen zu dürfen. Sie konnten jedes Jahr in den Urlaub fahren, hatten keine Geldsorgen und er wurde mehr als alles andere auf dieser Welt geliebt. Nun war er erwachsen geworden, von zuhause weggezogen, um zu studieren. Das war vor zwei Jahren. Seine Mutter und sein Vater lebten jetzt über 150 Kilometer weit von ihm entfernt. In seinen Semesterferien besuchte er sie oft und blieb für ein paar Tage in seinem Heimatdorf Bodenmais.

Er zog sich eine Jeans an, einen schwarzen Hoodie über, schlüpfte in seine Hausschuhe und verließ das Schlafzimmer. Gefrühstückt wurde nur eine Banane, denn mehr brachte er morgens nicht runter. Ab ins Bad, eine kurze, kalte Dusche, Zähne putzen. Sneaker angezogen, Schlüssel genommen, Haustür hinter sich zugezogen. Noch musste er nicht zur Uni, die begann erst um acht Uhr. Er schnappte sich sein Fahrrad aus dem Keller und fuhr Richtung Feldmoching. Dort angekommen versteckte er sich in einem Gebüsch vor einem Mehrfamilienhaus. Sein Fahrrad hatte er schon 100 Meter davor an einem Fahrradparkplatz zurückgelassen. Er beobachtete das Haus eine Weile, bis in einem Zimmer die Jalousie hochgelassen und das Licht angeschaltet wurde. Genau darauf hatte er gewartet. In diesem Zimmer wohnte Valerie, eine wunderschöne, 20-jährige Medizinstudentin. Sie besuchten die gleiche Universität, hatten jedoch noch nie miteinander geredet. Sie wohnte zusammen mit ihrer Familie in diesem Mehrfamilienhaus. Sie hatte blonde Haare, war deutlich kleiner als Oskar. Er glaubte, seine Angebetete habe ihn noch nie wahrgenommen. Er sie aber schon, er war über beide Ohren in sie verliebt. Das konnte er ihr natürlich nicht sagen, sie kannten sich ja kaum. Seit circa einem halben Jahr verfolgte er sie manchmal, bevor die Uni begann und manchmal, wenn er sie nach den Lesungen auf dem Universitätsgelände mit ihren Freundinnen sah. Sie bekam davon nichts mit, da er sich ziemlich unauffällig verhielt. Das konnte aber gerne so bleiben, niemand durfte je von seinem Stalking-Geheimnis Wind bekommen. Wie fast jeden Morgen wartete er also nun vor ihrem Zimmerfenster und beobachtete sie beim Umziehen und Schminken. Natürlich fühlte er sich dabei schlecht, aber er wollte einfach nicht auf ihren Anblick verzichten. Er liebte es, sie jeden Morgen aufs Neue zu beobachten, auch wenn sie ihn wahrscheinlich nie mit der gleichen Begeisterung ansehen würde.

Kurz vor acht Uhr machte er sich dann wieder auf den Weg zurück zu seinem Fahrrad. Valerie würde gleich aus ihrem Haus kommen und sie sollte ihn auf keinen Fall im Gebüsch erwischen. Er schwang sich auf sein Bike und fuhr über Umwege zur Universität, damit niemand nachvollziehen konnte, aus welcher Richtung er kam. Oskar ging zu Saal Nummer 238. Hier fanden seine Lesungen statt. Leider nicht in Saal 136, denn dort hielten sich die Medizinstudenten auf. Das ganze Gelände umfasste vier verschiedene Häuser. Oskars Saal lag in Haus Nummer 3, der von Valerie in Haus Nummer 1. Sein Tag ging bis 15.30 Uhr. Dann würde er sich endlich wieder auf sein Fahrrad setzen und eventuell noch einen kleinen Abstecher in Feldmoching machen. Dort würde er seine große Liebe wiedersehen. Acht Stunden vollgepackt mit Flächenberechnung, technischem Zeichnen und dem Erstellen von Bauplänen. Jetzt war es soweit. Er sah auf seine Uhr, es war exakt 15.30 Uhr. Sofort verabschiedete er seine Freunde. Danach sah er sich noch einmal auf dem großen Platz in der Mitte des Geländes um, denn hier war Valerie auch oft zu finden. Da sie nicht da war, ging er davon aus, dass sie schon auf dem Weg nach Hause sei. Er setze sich mal wieder auf sein Fahrrad und fuhr langsam, sodass ihn niemand bemerken konnte, nach Feldmoching.

Dort angekommen bemerkte er, dass ein unbekanntes Auto vor der Tür des Hauses, in dem sie wohnte, stand. Es war ein alter VW Golf, rot lackiert mit dem Kennzeichen M – KH – 99. Valerie war auch nicht in ihrem Zimmer. Das konnte Oskar von seinem Versteck aus gut sehen. Er wartete dort bestimmt noch 20 Minuten, dann jedoch verließ er unauffällig den Busch und sah gerade noch, wie der rote Golf losfuhr. Das Auto bog um eine Kurve, aber im letzten Moment konnte er noch etwas erkennen. Ja, das war sie. Valerie saß auf dem Beifahrersitz des Autos, das konnte er im rechten Außenspiegel erkennen. Leider konnte Oskar den Fahrer nicht ausmachen. Frustriert fuhr er nach Hause und verabschiedete sich von seinem Wunschgedanken, irgendwann eine Beziehung mit seiner Traumfrau führen zu können. Wie jeden Tag brachte er sein Fahrrad in seinen Keller, schaute nach, was in seinem Briefkasten lag und holte es heraus. Eine Postkarte aus Verona, seine Eltern machten dort gerade Urlaub und schickten ihm freundliche Grüße und hofften, dass bei ihrem Jungen alles gut sei und, dass das Studium gut lief. Oskar sperrte seinen Briefkasten wieder zu und ging hoch in seine Wohnung. Diese lag im fünften Stock eines Hochhauses. Oben angekommen sperrte er seine Haustür auf, zog seine Schuhe und seine Jacke aus und legte seinen Rucksack, der vollgepackt war mit Büchern über Architektur der Neuzeit, in seinem Hausflur ab. Dann begab er sich in sein Wohnzimmer und wollte sein Laptop anschalten, als er bemerkte, dass auf seinem Couchtisch ein kleiner Karton stand. Oskar konnte sich nicht daran erinnern, eine solche Box hierhin gestellt zu haben. Die Aufschrift „Für Oskar“ verwirrte ihn noch mehr. Jemand musste in seiner Wohnung gewesen sein und das Paket dort abgestellt haben. Es gab nur eine Person, die einen Ersatzschlüssel für die Wohnung hatte, es war Oskars bester Freund Aaron, der eine Ausbildung als Schreiner in München begonnen hatte und nur zwei Blocks weiter wohnte. Oskar entschloss sich dazu, zuerst Aaron anzurufen, bevor er das Paket öffnete.

„Hi Aaron, warst du heute zufällig in meiner Wohnung?“, fragte er seinen Kumpel.

„Nein, ich war den ganzen Tag in der Arbeit und bin danach direkt mit dem Motorrad nach Hause gefahren, warum fragst du eigentlich?“

„Nur so, hab hier so ein komisches Päckchen auf meinem Wohnzimmertisch stehen und wollte wissen ob du das dort hingestellt hast.“

„Nein sorry, ich war das nicht. Moment, soll das heißen, dass jemand in deiner Wohnung war, Oskar?“

„Nein, das muss ein Missverständnis sein oder so etwas. Bestimmt habe ich es dorthin gestellt und habe es nur vergessen. Ich mache jetzt noch ein bisschen was für die Uni, ciao.“, log Oskar seinen Freund an.

Sein bester Freund hatte das Päckchen schonmal nicht dorthin gestellt, aber wer dann? Der andere Ersatzschlüssel hing immer noch in seinem Keller. Das hatte Oskar gemerkt, als er sein Fahrrad dorthin zurück stellte.

Mit zittrigen Händen und verschwitztem Gesicht öffnete er den Karton daraufhin vorsichtig. Als er hineinsah, sah er einen Zettel und ein Handy. Auf dem Zettel war in roter Schrift „Lass es einfach!“ geschrieben. WAS solle er lassen? War jemand hinter sein dunkelstes Geheimnis gekommen? Wusste jemand, dass er Valerie hinterher schnüffelte und sie bewunderte? Er nahm das Handy aus der Schachtel. Er schwitzte mittlerweile so, als wäre er gerade einen Marathon ohne Vorbereitung gelaufen. Das Smartphone sah neu aus, hatte keine Kratzer, Gebrauchsspuren oder sichtbare Fingerabdrücke. Als er es anschaltete, war es gesperrt. Man musste einen sechsstelligen PIN eingeben, um Zugriff darauf zu erlangen. Als erstes probierte er den offensichtlichsten Code, nämlich 123456. Falsch. 000000. Falsch. Als nächstes wollte er sein Geburtsdatum eingeben. Er war am achten Februar 1999 geboren.

080299. Richtig, er war drin. Warum hatte der Eigentümer dieses Handys Oskars Geburtsdatum als Code auf seinem Smartphone?

Er durchsuchte das ganze Telefon. Keine Kontakte, keine Apps, keine heruntergeladene Musik. Nur zwei Bilder in der Galerie. Auf dem einen sah man ein Auto. Einen rot lackierten Golf mit dem Kennzeichen M – KH – 99. Niemand geringeres als Oskar selbst saß auf dem Fahrersitz und lächelte in die Kamera. Das Auto erkannte er sofort, aber er selbst war nie darin gesessen. Das zweite Bild verstörte ihn noch mehr. Darauf sah er Valerie. Sie lag in ihrem Bett, das Oskar ja bereits des Öfteren gesehen hatte. Neben ihr lag ein Mann, sie kuschelte sich richtig an ihn heran. Das Gruselige daran war allerdings, dass der Mann, der da neben ihr im Bett lag, wieder er selbst war. Jetzt lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Das Bild konnte doch so niemals entstanden sein, auch wenn er das schön gefunden hätte. Er war nie in ihrem Zimmer und schon gar nicht hat sie sich an ihn gekuschelt.

Für Oskar war jetzt allerdings klar, dass jemand hinter sein Geheimnis gekommen war und dieser „Jemand“ ihm eins auswischen wollte. Nur wer war das? Wie konnten diese Fotos entstehen? Woher hatte dieser Fremde diese Fotos? Warum war sein eigenes Geburtsdatum die PIN eines Handys, das ihm nicht gehörte? Wie war die Person in seine Wohnung gekommen?

Zu viele Fragen, auf die Oskar im Moment noch keine Antworten wusste.

Der nächste Tag war ein Samstag. Eigentlich ein guter Tag, um den Lernstoff der vergangenen Woche zu wiederholen, doch nicht heute. Oskar beschloss, heute mal wieder zu Valeries Haus zu fahren. Da er es etwas eiliger hatte, entschied er sich, dazu den Bus zu nehmen und auf sein Fahrrad zu verzichten. Also ging er zur Haltestelle, die nicht weit entfernt war und nahm den nächsten Bus nach Feldmoching. Er stieg aus und setzte sich in sein kleines Versteck zwischen Bäumen und Büschen. Heute wollte er jedoch nicht sie beobachten, sondern wollte sehen, ob der rote Golf in der Nähe parkte. Dies war leider nicht der Fall, auch Valerie schien nicht zuhause zu sein, da Oskar sie nicht in ihrem Zimmer sehen konnte und dort auch kein Licht brannte. „Verschwendete Zeit“, dachte sich Oskar. Dennoch wartete er, vielleicht würde ja noch etwas passieren. Nach den längsten zwei Stunden seines Lebens gab er auf, lief zur Bushaltestelle und fuhr wieder nach Hause. An der Tür seiner Wohnung angekommen erschrak er. Auf seinem Fußabtreter lag ein Kuvert. Er hob es auf, sperrte seine Wohnungstür auf, zog sich die Schuhe aus und öffnete den Umschlag. In diesem befand sich ein Zettel. Auf dem Blatt Papier stand „Hast du es nicht kapiert? Du sollst es lassen!“.

Jetzt wusste Oskar endgültig, dass der Fremde dahinter gekommen war, dass er Valerie verfolgte. Das Gruseligste jedoch war, dass er gesehen haben muss, dass er heute bei ihr war. Der Unbekannte hatte ihn dabei beobachtet, wie er Valerie hinterher spionierte. Jetzt wurde ihm schlecht.

Am nächsten Tag wollte er nicht aus dem Bett, aber er musste. Sein bester Freund Aaron hatte Geburtstag und er war eingeladen. Gegen 13 Uhr machte sich Oskar auf den Weg dorthin. Es war ein warmer Tag, die Sonne schien, also ging er zu Fuß. Zu Aaron war es nicht weit. Allerhöchstens 15 Minuten, dann würde er dort sein. Kurz bevor er bei Aaron ankam, bemerkte er etwas auf dem Bürgersteig. Darauf stand der rote VW Golf. Jedoch saß niemand darin und auch als er sich umsah, bemerkte er niemanden. Er entschied sich dazu, weiterzugehen. Als Aaron ihm die Tür öffnete, beglückwünschte Oskar seinen Freund und überreichte ihm sein Geschenk. Er hatte eine Flasche teuren Whiskey aus Irland bestellt, da er wusste, dass Aaron ein großer Spirituosen-Liebhaber ist. Auf der Feier waren nicht viele Personen, ein paar Arbeitskollegen von Aaron, die Oskar selbst noch nie gesehen hatte. Sie alle hatten zusammen einen lustigen Tag, tranken Bier und Oskar erzählte alte Geschichten über Aaron aus deren gemeinsamer Jugend. Gegen 20 Uhr verließen jedoch alle die Feier und auch Oskar entschloss sich heim zu gehen, schließlich musste er morgen wieder zur Uni. Das rote Auto jedoch begegnete ihm nicht auf seinem Heimweg, worüber er sehr froh war. Am nächsten Tag musste er wieder zur Uni. Er fuhr am Morgen aber direkt dorthin und stattete Valerie vorher keinen Besuch mehr ab, was bedeutete, dass er länger schlafen konnte. Um viertel nach acht verließ er dann das Haus und fuhr zur Uni. Er stellte sein Fahrrad ab und bemerkte etwas Beängstigendes. Da war er wieder – der rote Golf! Er hielt an einem Gehweg, die Beifahrertür ging auf und Valerie stieg aus. Sie winkte dem Fahrer, den Oskar leider wieder nicht erkennen konnte und ging in Richtung Eingang. Das Auto fuhr weiter und Oskar konnte nur noch sehen, wie es um eine Kurve bog und verschwand. Er wurde das Gefühl nicht los, dass der Fahrer und Besitzer des roten Golfs von seinem Geheimnis wusste. „Nach der Uni werde ich nochmal zu Valerie fahren und sehen, ob das Auto dort ist“, nahm er sich vor. Davor musste er sich allerdings noch gute sechs Stunden gedulden, denn er konnte ja nicht einfach seine Vorlesungen verlassen. Nachdem die Lesungen endlich vorüber waren und er sich auf den Weg machte, wurde er nervös. Er wusste nicht, was ihn erwarten würde, wusste nicht, wie lang das noch gehen sollte. An Valeries Haus angekommen bemerkte er, dass sie sich in ihrem Zimmer befand und an ihrem Schreibtisch saß. Vermutlich lernte sie irgendetwas für die Prüfungen, die bald anstehen würden. Oskar hatte dafür keine Zeit, er hatte andere Probleme. Vom roten Auto fehlte jede Spur, also schwang er sich mal wieder auf sein Bike und fuhr nach Hause. Vor seinem Haus erschrak er fürchterlich, denn der Golf stand auf einem Parkplatz. Darin saß niemand, was Oskar nicht gerade beruhigte. Er ging die Treppen hoch zu seiner Wohnung. Er betrat seinen Flur, schaltete das Licht an und zog sich seine Schuhe aus, als er ein Geräusch aus der Küche wahrnahm. Er schlich sich dorthin. „Ist da jemand? Ich rufe gleich die Polizei!“, drohte er. Er betrat das Zimmer und bemerkte, dass sich hinter ihm jemand befand. Er drehte sich um und betrachtete eine vermummte Person. Sie war schwarz gekleidet, hatte eine zerrissene Jeans an und trug auf dem Kopf eine Sturmmaske, sodass man sie nicht erkennen konnte. 30 Sekunden sahen sie sich einfach an und keiner sprach ein Wort, bis der Unbekannte auf einmal loslegte: „Ich habe dir doch gesagt, dass du aufhören sollst, die Kleine zu verfolgen. Vorhin bist du schon wieder bei ihr gewesen“. Oskar brachte kein Wort raus, er schwitzte, hatte zittrige Knie und sein Atem stockte. Der Vermummte zog ein Messer aus seiner Jackentasche, Oskar hatte Todesangst. „Schon bald bekommst du das, was du verdienst. Dann wird es dir so gehen, wie es mir all die letzten Jahre ergangen ist und woran einzig und allein du schuld bist!!!“, schrie der Fremde. Daraufhin steckte er sein Messer wieder zurück in seine Tasche, trat einen Schritt näher an Oskar ran und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht, wie ihn Oskar selbst nur aus Streetfighter-Filmen und Boxkämpfen kannte. Die maskierte Person verließ die Wohnung anschließend und Oskar lag bewusstlos auf dem Boden. Ein paar Minuten später wurde er wieder wach und versuchte langsam aufzustehen. Ein Zahn wurde ihm ausgeschlagen, er hatte Nasenbluten und seine Augen tränten. Er krabbelte ins Bad, um sein Gesicht zu waschen. „Wer war das gerade? Was habe ich dieser Person getan?“, fragte er sich. Er begann zu weinen und lag nun auf dem Boden in seinem Badezimmer. Daraufhin schlief der Student ein und wachte mitten in der Nacht, gegen vier Uhr wieder auf. Es ging ihm gar nicht gut, Kopfschmerzen plagten ihn und sein Gesicht schmerzte.

Er verließ das Badezimmer und sah sich in der ganzen Wohnung um. Keine fremde Person war hier und es lag auch nirgendwo ein Zettel. Der Karton und das Handy standen dort immer noch. Oskar hatte keine Energie, sich die Fotos noch einmal anzuschauen oder das Paket wegzuräumen. Er sah aus allen Fenstern, nirgendwo stand ein roter Golf. „Ein gutes Zeichen“, dachte er sich.  Er vermisste es irgendwie Valerie zu sehen, wie sie sich die Haare glättete oder sich schminkte, jedoch war das Risiko zu hoch, erwischt zu werden und deshalb würde es keine gute Idee sein, wenn er jetzt dorthin fahren würde.

Drei Tage vergingen, es passierte nichts. Oskar ging jeden Tag zur Uni und machte sich danach ohne Umwege sofort auf den Heimweg. Natürlich störten ihn die ganzen Fragen, was denn mit seiner Nase geschehen sei. Er erzählte dieselbe Geschichte, die er auch Aaron erzählt hatte: Betrunkene hätten ihn überfallen und zusammengeschlagen. Dies hinterfragte niemand so richtig. Oskar unternahm auch keine Ausflüge mehr nach Feldmoching. Er hatte buchstäblich Angst vor dem fremden Mann, da er nicht wusste, wer sich unter der Maske befand. Als er jedoch an diesem Donnerstag seine Wohnung nach der Uni betrat, bekam er Herzrasen. Seine komplette Einrichtung war verwüstet. Der Fernseher war umgeworfen, zerbrochene Trinkgläser lagen auf dem Küchenboden, der Wasserhahn im Bad lief. Nachdem er die Wohnung wieder einigermaßen aufgeräumt hatte, sah er etwas aus der mysteriösen Box herausschauen. Es war etwas aus schwarzem Stoff, das vorher nicht dort lag. Er öffnete die Schachtel und zog eine Maske heraus. Es war die Maske, die der Eindringling bei seinem Überfall anhatte. Darauf klebte ein Zettel: „Hier ist meine Maske! Bei unserem nächsten Treffen wirst du mich definitiv erkennen. Geh damit ja nicht zur Polizei! Wir sprechen uns bald!“. Der mysteriöse Mann hatte also Oskars Wohnung so verunstaltet und hatte seine Maske in die Box gelegt. Der schockierte Oskar entschied sich dazu, wirklich nicht zur Polizei zu gehen, denn das würde es nicht gerade einfacher machen.

„Wir sprechen uns bald!“. „War das eine Drohung? Würde er bald in meiner Wohnung stehen? Was hatte er dann mit mir vor?“.

Am nächsten Tag bemerkte er, dass der Ersatzschlüssel aus seinem Kellerabteil fehlte. Jemand musste ihn gestohlen haben. Mit diesem Wissen wollte er nicht leben. Sofort rief er seinen Vermieter an und teilte ihm mit, dass er gerne das Schloss seiner Wohnung austauschen lassen würde, da ihm der Ersatzschlüssel geklaut wurde. Der Wohnungseigentümer stimmte zu. Zwei Stunden später stand der Handwerker vor der Tür, tauschte das Schloss aus und händigte Oskar die neuen Schlüssel aus. So konnte der Fremde nicht mehr in die Wohnung, was Oskar sehr beruhigte und ihm ein bisschen die Angst nahm.

Nachdem er am selben Abend einen Ersatzschlüssel zu Aaron gebracht hatte und wieder zuhause angekommen war, sah er, dass ein Brief in seinen Briefkasten eingeworfen wurde. Hektisch öffnete er den Umschlag und holte einen Zettel heraus. Auf diesem stand: „Schade, dass ich erst mal nicht in deine Wohnung komme! Ich wollte dir heute einen Besuch abstatten, aber dann muss das wohl noch ein paar Tage warten!“. Schock – der Fremde war in der Zwischenzeit also wieder hier gewesen.

Die Uni rückte für ihn am nächsten Tag in den Hintergrund. Er verstand den Lernstoff gut und dachte, dass es kein großes Problem wäre, wenn er sich für ein oder zwei Tage krankmelden würde. Oskar versuchte, viel zu schlafen, sich zu entspannen. Ab und zu schaute er die Fotos auf dem Handy an, konnte jedoch nichts Neues heraus finden. Seine Gedanken fuhren Karrussell.

„Früher oder später wird der Fremde sowieso wieder bei mir aufkreuzen und dann werde ich erfahren, warum er mir das Leben zur Hölle macht.“, dachte er sich.

Zwei Tage später war es soweit. Oskar saß auf seiner Couch, las ein Buch, denn das Lesen beruhigte ihn zur Zeit. Es war schon spät am Abend. Auf einmal klopfte es an der Tür. Als er aus dem Fenster sah, sah er, dass vor dem Haus der rote Golf stand. Oskar schnappte sich ein Küchenmesser und öffnete vorsichtig die Tür. Er konnte seinen Augen nicht trauen, denn er fühlte sich so, als würde er vor einem Spiegel stehen. Bevor er auch nur die Chance hatte sein Messer zu nutzen, stürmte sein Doppelgänger auf ihn zu. Oskar knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden und seine Augen schlossen sich. Als er langsam wieder wach wurde, war er gefesselt. Er saß auf einem Stuhl und war mit Seilen festgebunden. Sein Mund war mit Klebeband zugeklebt. Gegenüber von ihm stand er, der Fremde. Er war das Spiegelbild von Oskar selbst. Beide hatten dieselbe Haarfarbe, Augenfarbe und dieselbe Gesichtsform. Oskar wusste in diesem Moment nicht, was in den nächsten Minuten passieren würde, was er erfahren würde…

Der zweite Oskar blickte ihm tief in die Augen und ergriff dann das Wort: „Oskar, endlich stehen wir uns gegenüber. Endlich kann ich loswerden, was mich die ganzen Jahre begleitet hat.“ Die Panik im Gefesselten wurde immer größer und größer. „Du fragst dich bestimmt, warum ich das Ganze tue, woher wir uns kennen. Nun ja, schau uns einmal an, ich denke dann weißt du, was wir gemeinsam haben.“

Oskars Hirn ratterte: „Das ist mein Zwillingsbruder, er sieht genauso aus wie ich. Deswegen war mein Geburtsdatum auch das Passwort für das Handy. Mein Geburtsdatum ist gleichzeitig auch seines.“

„Lass mich dir eine kleine Geschichte erzählen“, fing der Zwilling an. „Du weißt, dass wir nach unserer Geburt zur Adoption freigegeben wurden und wir beide in unterschiedliche Haushalte gekommen sind. Einer von uns kam in eine Familie, die ihn liebte, als wäre es deren eigener Sohn. Einer von uns hatte dort eine schöne Kindheit. Der andere von uns beiden jedoch wurde von einem Säuferpaar adoptiert, das ihn schlug und misshandelte. Wer von uns beiden welches Schicksal erlitt, muss ich dir wahrscheinlich nicht erklären.“

Langsam fing der Zwilling an, sich in Rage zu reden und wurde immer wütender. Er verwüstete die Wohnung und Oskar hörte still zu und konnte sich immer noch nicht bewegen.

„Mit 15 Jahren habe ich erfahren, dass ich adoptiert wurde und, dass ich einen Zwillingsbruder habe. Diese Info wurde dir vermutlich bis heute vorenthalten, schätze ich. Als ich dann mit 18 von zuhause abgehauen bin, machte ich mich auf die Suche nach dir. Ich war bei dem Kinderheim, wo wir beide damals waren. Nach vielen Behördengängen habe ich deinen jetzigen Namen herausgefunden. Oskar Wagner. Ich war in jeder Einwohnermeldebehörde im Umkreis und suchte nach dir. Vor einem halben Jahr habe ich dann herausgefunden auf welche Uni du gehst, ich habe dich beobachtet. Eines Tages bist du mir aufgefallen, wie du bei Valerie warst. Ich wusste, dass du in sie verliebt bist, aber niemals auf die Idee kommen würdest, sie nach einem Date zu fragen. Ich jedoch konnte sie fragen, ob sie mit mir ausgehen würde. Sie ging sofort darauf ein.“

Jetzt leuchtete Oskar alles ein. Sein Bruder wollte sich an ihm rächen. Dafür, dass er selbst eine schöne Kindheit hatte und sein Bruder geschlagen wurde. Dass er dafür jedoch nichts konnte schien dem Zwilling nicht zu interessieren. Er hatte so einen Hass auf Oskar entwickelt, dass er keinerlei Hemmungen hatte, ihn zu bestrafen.

Was würde jetzt mit Oskar geschehen? Nach diesem Geständnis war Oskar klar, dass sein eigener Bruder ihm etwas antun wird. Er saß immer noch gefesselt auf seinem Stuhl und konnte sich nicht bewegen oder etwas sagen.

Der Bruder bewegte sich die ganze Zeit unruhig in der Wohnung. Er wurde immer wütender und schaute Oskar grimmig an. Er machte wirklich den Bruder für seine schlimme Kindheit verantwortlich und alles deutete nun darauf hin, dass er dem Ganzen die Krone aufsetzen wollte. Er befreite Oskar vom Stuhl und zerrte ihn aus der Wohnung. Da es schon nach Mitternacht war und die Nachbarn schon schliefen, bemerkten diese nichts. Der Bruder ohne Namen schleppte ihn zum roten Golf und sperrte ihn im Kofferraum ein. Sie fuhren circa zehn Minuten in ein Waldstück außerhalb von München. Zu dieser Zeit war hier niemand anzutreffen. Oskar wurde aus dem Auto gezerrt und auf einem abgelegenen Stück Land an einen einzeln stehenden Baum gefesselt. Das Klebeband hatte er noch immer vor seinem Mund. Der Zwilling redete davon, dass jetzt endlich der Moment gekommen sei, auf den er solange gewartet habe. Diesen Satz verstand Oskar in diesem Moment nicht. Der Bruder vergoss um den Baum Benzin und war dabei ein Streichholz aus seiner Jackentasche zu suchen. Jetzt begriff Oskar, dass er hier gleich bei lebendigem Leibe verbrannt werden würde.

„Sorry, dass ich mich bisher nicht vorgestellt habe. Ich heiße Kilian.“, sagte er.

Danach zündete er das Streichholz, das er mittlerweile gefunden hatte an und warf es in das Benzin. Alles fing sofort Feuer, auch der Baum, an dem er gefesselt war, würde gleich anfangen zu brennen. Kilian verabschiedete sich mit einem lockeren „Ciao“ und stieg in sein Auto. Oskar hörte noch wie es davon fuhr und sich immer weiter entfernte, bis es nicht mehr zu hören war. Das Feuer griff mittlerweile langsam auf den Baum über, er sah keine Chance, sich befreien zu können.

Er spürte, wie beißender Rauch mit jedem Atemzug unaufhaltsam in seine Lungen kroch, er immer schlechter atmen konnte und sich seine Augen langsam schlossen. Seine letzte Wahrnehmung vor seiner Ohnmacht war die Silhouette einer Frau, die auf ihn zuschritt…

3 thoughts on “Das rote Auto

  1. Spannende Geschichte, dein offenes Ende gefällt mir.
    Erinnert mich an die Geschichte Null negativ, ihr habt ein paar Parallelen.

    Das rote Auto als Stilmittel einzusetzen gefällt mir.

    Viel Erfolg weiterhin,

    Jenny /madame_papilio

    Falls du noch Zeit fur meine Geschichte hast, dann freue ich mich natürlich. Heißt “Nur ein kleiner Schlüssel”

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