wonnyDas verlorene Glück

Seit drei Wochen klingelte täglich um 5:30 Uhr mein Wecker. Von der Müdigkeit im Bett gehalten, schaffe ich es dann doch, mich endlich aus dem Bett zu quälen. Es ist leider die einzige Möglichkeit, in den Zeiten des Coronaviruses, alleine in Frankfurt am Main-Ufer spazieren zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt bin ich fast alleine, muss keinem ausweichen oder mich über ignorante Leute ärgern. Das war es mit Wert, so früh aufzustehen. Ich dusche kurz und versuchte diesen ersten Moment des Tages zu genießen. In einer Welt der Digitalisierung waren es gerade die substantiellen Dinge, die mich faszinierten. Vielleicht gerade deshalb, weil sie mich nicht ablenken und mich mehr auf mich fokussieren lassen. Der erste Atemzug am Mainufer ist ebenfalls erfrischend. Das Vogelgezwitscher übertönt den noch geringen Verkehr. Am Himmel sind keine Flugzeuge unterwegs. Ich versuche jeden Schritt bewusst wahrzunehmen und damit die Energie für den Tag zu tanken. Heute ist ein besonders wichtiger Tag. Mein Unternehmen hat einen internationalen Investorentermin. Ich hatte mich seit zwei Wochen mit nichts anderem beschäftigt und mich akribisch vorbereitet. Heute muss alles perfekt sein. In der Corona-Krise arbeitete ich fast ausschließlich von Zuhause, aber heute muss ich ins Büro. Der Investorentermin fand persönlich in einem kleinen Rahmen statt, allerdings nehmen Investoren aus aller Welt per Videokonferenz teil. Wenn heute nichts schief geht, werde ich mir um meine Karriere keine Sorgen mehr machen müssen.

Als ich bereits wieder auf dem Rückweg bin, hörte ich plötzlich ein Klingeln. Ich blieb stehen, schaute mich um. Da entdeckte ich im dunklen Ufergras ein helles künstliches Licht. Es ist ein verlorenes Handy, das im Gras liegt und klingelte. Als ich das Handy gerade aufheben will, verstummte es und ich lese auf dem Display „Ein verpasster Anruf“. Da ich später sowieso am Polizeipräsidium vorbei radeln will, stecke ich das verlassene Handy ein und mache mich, nach einem kurzen stop beim Kiosk, auf den Weg nach Hause. Das Schönste an meinem morgendlichen Ritual ist das Frühstück nach dem Spaziergang. Das Frühstück stellt so eine Art Belohnung für mich da, nachdem ich früh aufgestanden bin und spazieren war. Ich schlage die Tageszeitung auf und blätterte von einem Thema zum anderen. Die aktuellsten Zahlen der Corona-Krise in Deutschland und dem restlichen Europa. Zahlreiche Aussagen von Virologen, Wirtschaftsweisen und weiterer Spezialisten. Ich bleibe bei einem Interview mit dem Chaos Computer Club hängen. Es geht dabei um die neue Corona-App, die ich mir erst vorherige Woche runtergeladen hatte. So wie fast alle Freunde und Arbeitskollegen. Die App nutzte neben vielen anderen Daten auch den Wohnort über GPS als Verifikation und hatte deshalb einige Diskussionen unter Datenschützer hervorgerufen. Zudem wird ein Benutzer direkt gewarnt, sobald sich ein Corona-Infizierter nähert, und kann deshalb sehr diskriminierend wirken. Ich war anfangs sehr skeptisch aber die Gesundheit steht bei mir nun mal an erster Stelle. Die Zeitungsartikel lese ich immer noch aus meiner professionellen, journalistischen Brille. Allerdings habe ich meinen Job als Journalistin schon vor einer Weile aufgegeben. Damals recherchierte ich zu einem vermeintlichen Kinderschänder sehr ambitioniert. Der Mann stellte sich im Nachhinein als unschuldig heraus, aber mit meinem Artikel hatte ich sein Leben zerstört. Ich war jung, ehrgeizig und so sicher, dass er schuldig war. Ich dachte ich als Journalistin mache es besser als die Justiz. Jeden Morgen, wenn ich die Zeitung lese, verfolgt mich diese Geschichte. Heute arbeite ich als PR Spezialistin für ein junges Technologie Start-up. Verfasse die Pressemeldungen, kümmere mich um den Webseitenauftritt, den Blog und die sozialen Medien. Die heutige Investorenkonferenz war der wichtigste Tag für mich und die Möglichkeit zur Chefin des kompletten Kommunikationsbereiches aufzusteigen. Ich schaue auf die Uhr und merke, dass ich viel zu spät bin, ich trinke den letzten Schluck Kaffee aus, schwing mir meinen Fahrrad-Airbag um und will gerade losradeln, als das gefunden Handy wieder klingelte. Ich kramte hektisch in meiner Tasche, wollte den Anruf nicht erneut verpassen. Vielleicht war es sein Besitzer und ich konnte mir den Weg zur Polizei sparen. Mist, wieder zu spät, denke ich mir, als das Klingeln verstummt. Vielleicht kann ich ja ohne die Sperre zurückrufen und tippe und schiebe auf dem Display herum, wo „2 verpasste Anrufe“ aufleuchtet. Plötzlich stockt mir der Atem und ich lass das Handy vor Schreck fallen. Warum ist mir das noch nicht vorher aufgefallen, als ich das Handy gefunden hatte? Vielleicht weil die Nachricht der verpassten Anrufe das halbe Gesicht der Person verdeckt hat, die es als Hintergrundbild darstellt. Als Hintergrundbild hatte das gefundene Handy ein Bild von mir. Völlig perplex setze ich mich erstmal hin und frage mich, warum mein Bild auf diesem Handy zu sehen ist. Es hätte mir beim Spazieren gehen schon auffallen müssen. Es war ein Bild von meiner damaligen Feier, als ich den Artikel erfolgreich herausbrachte. Als sich die ganze Sache als Fehler rausstellte, hatte ich alle Bilder, alles Material von damals gelöscht. Woher kommt also nur das Foto? Ich war immer noch Journalistin und aus Berufswegen neugierig, also stecke ich das Handy ein und radel zur Arbeit. Ich muss mich jetzt erstmal auf meinen heutigen Tag im Büro konzentrieren, bevor ich mich um das fremde Handy kümmern werde. Zur Polizei werde ich es auf jeden Fall erstmal nicht bringen. Als ich mit meinem Rad die Wohnung verlasse, hat das Leben auf der Straße schon deutlich zugenommen im Gegensatz zu meinem morgendlichen Spaziergang. Ich radel hektisch durch den Frankfurter Verkehr. Auch wenn die Radfahrer nun mehr Recht bekommen, fühle ich mich immer noch unsicher in der Stadt. Sobald diese Krise rum ist, werde ich mir Zeit für eine Radtour auf dem Land nehmen. Nur ich und mein Fahrrad.

Als ich im Büro ankomme, spüre ich die Freude der Kollegen. Endlich wieder raus aus den eigenen vier Wänden zu sein. Viele der Kollegen sind Single und leben ausschließlich allein. Für die meisten ist es seit ein paar Wochen der erste Tag, an dem sie wieder mal einen bekannten Menschen persönlich treffen. Voller Lebenslust und Tatendrang sind alle bereit für den großen Tag. Ich beeile mich, um nach oben zu kommen, um unsere Chefs zu begrüßen. Patric unser Vorstand empfängt mich freundlich im Vorbeilaufen: „Guten Morgen Mareike, bist du bereit für den großen Tag?“. „Natürlich Patric, alles wird super funktionieren!“, versichere ich ihm mit großer Zuversicht. Patric ist ein junger, gutaussehender und sehr intelligenter Mann. Er hat Finanzio vor ein paar Jahren mit seinem Bruder gegründet und mittlerweile einen 8-stelligen Betrag an Investorengelder zusammengesammelt. Finanzio hat sich mittlerweile in Deutschland sehr gut etabliert. Jetzt geht es darum nach Europa und Asien zu expandieren und darum ist der internationale Investorentermin heute so wichtig. Das Fintec, wie Start-ups in der Finanzbranche genannt werden, bietet Geldkonten für sogenannte Digital Natives an. Alles online, ohne Filialen. Patric, selbst ein Digital Native, ist sehr charismatisch und gibt jedem Mitarbeiter das Gefühl, ein wichtiger Teil der Firma zu sein. Ich würde lügen, wenn ich sage, sein lächeln lässt mich kalt. Gerade jetzt spüre ich wie mein Puls sich leicht erhöht. Außerdem hat Patric einen tollen Knackarsch. Aus dem Schwärmen aufgewacht, eile ich über den gläsernen Steg in unserem modernen Gebäudekomplex zu meinem Büro. Beim Vorbeilaufen an den einzelnen Arbeitsplätzen gebe ich Anweisungen an mein Team. „Maria gehst Du Bitte nochmal die Teilnehmerlisten durch und schreibst die einzelnen Investoren mit einer privaten eMail an.“ „Silvio, mach bitte nochmal einen Testlauf für die Videokonferenz, ich will nachher keine bösen Überraschungen erleben.“ Der Tag ist zu wichtig, um einige Dinge dem Zufall zu überlassen. Als ich unsere Kommunikationsabteilung ankomme, sitzen schon alle fleißig am Arbeiten. Noch war ich nicht die Chefin dieser Abteilung, aber ich war mir sicher, dass ich es heute Abend sein werde. Patric hatte dazu mit mir schon gesprochen. Viktoria, die zweite PR-Spezialistein bei Finanzio war ohne journalistische Ausbildung. Außerdem war sie immer zu aufgetakelt und so ein Püppchen nimmt doch niemand ernst. Ich war die Nummer eins und dass beweise ich heute. Ich ziehe meinen Fahrradairbag aus, werfe die Jacke über den Stuhl, fahre meinen Rechner hoch und gehe meine Rede nochmal durch, als plötzlich das fremde Handy wieder klingelt. Jetzt wo ich weiß, dass das Handy mit mir zu tun hatte, erschrecke ich mich beim ersten klingeln. Ich suche nach dem Handy in meiner Tasche. Ich darf heute nicht abgelenkt werden. Ich schalte es auf lautlos, aber meine Konzentration war weg. Daher drucke ich meine Rede aus und setze mich in den kleinen Park vor unsere Firma, um dort wieder meine Gedanken zu fassen. Ich gehe Satz für Satz durch, doch ich finde keinen Zugang zu meinem Text wie sonst. Wer verdammt nochmal hat mein Bild auf seinem Handy. Ich kann nun keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich schau auf die Uhr. Mist nur noch 4 Stunden bis zu dem großen Auftritt. Ich laufe etwas in der Stadt hin und her und hole mir bei meinem Lieblingsbäcker ein Croissant und einen Cappuccino. Als ich gerade den ersten Schluck nehmen will, piepst das Handy eines vorbeilaufenden Joggers. Die Corona-App hatte einen sehr speziellen Warnton. Es ist ein Mix aus einem Warnsignal eines Atomkraftwerks und dem eines Computerspiels, wenn man verloren hat. Er war einfach nur schrecklich, aber genau das sollte er wohl auch sein. Der Jogger blieb stehen, schaute auf sein Handy, blickte zu mir und lief schnellstmöglich in die entgegengesetzte Richtung. Ich schaue mich um und stelle fest, dass ich die einzige Person weit und breit bin. Verwundert von dem Vorfall laufe ich wieder zurück ins Gebäude. Als ich mein Büro wieder betrete, fangen plötzlich sämtliche Handys meiner Kollegen an dieses Coronawarnsignal wiederzugeben. Alle schauen mich skeptisch an. Die Kollegen sind alle zwischen 20 und 30 Jahren alt und gehören nicht zur Risikogruppe. Somit gehen sie eher locker mit dem Thema um, doch als plötzlich bei allen dieser Warnton erklingt, spüre ich, wie plötzlich eine gewisse Angst über sie kommt. Dann rennt der erste nach draußen, gefolgt vom zweiten und dritten. Bis ich plötzlich ganz alleine im Raum stehe. Kurze Zeit später betritt Patric unser Büro. Nach 30 Sekunden gibt auch sein Handy das Coronawarnsignal aus. Der sonst immer so cool wirkende Patric, dreht sich schnurstracks um, stolpert über seine neuen weißen Sneakers und flüchtet aus dem Büro. Bevor ich wirklich begreife, was los ist, kommt Patric mit unserem IT-Experten ins Büro zurück. Beide tragen Masken und sogar Handschuhe. Ich fühle mich plötzlich sehr unwohl in meiner Haut und habe ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust. Ohne es kontrollieren zu können, muss ich einmal husten. „Mareike, die App zeigt an, das Du mit dem Coronavirus infiziert bist. Bitte nimm Deine Sachen und fahr wieder nach Hause.“, sagte Patric mit einem gewollten, beruhigenden Tonfall, der eher ängstlich wirkte. „Ich finde es wirklich sehr verantwortungslos von Dir ,infiziert zur Arbeit zu erscheinen. Ab nach Hause mit Dir!“. „Patric  ich bin nicht mit dem Coronavirus infiziert, ich bin vollkommen gesund.“ „Die App sagt was anderes.“, sagte er nun deutlich und sauer. „Aber was ist mit dem Termin heute Nachmittag? Ich habe mich lange vorbereitet Patric !“. „Schick Deine Rede an Viktoria, die wird das für dich übernehmen.“ Gerade Viktoria, meine stärkste Konkurrentin bei Finanzio. Sie hatte doch keine journalistische Ausbildung, noch war sie besonders originell. „Aber Patric….“, will ich gerade dagegen argumentieren als einige Kollegen im Hintergrund rufen „Bitte geh Mareike, sei vernünftig“. Ich greife zu meinem Handy, öffne die Corona-App und zeige meinen Kollegen meinen grünen Status. „Ich bin nicht infiziert schaut her“, rufe ich laut in den Raum. Es nützt leider nichts, da alle schon etwas panisch zu seien scheinen. Also geh ich deprimiert zu meinem Platz, um die Rede an Viktoria zu schicken. Meine kleinste Bewegung lässt alle im Raum zusammenzucken. Ich packe meine Sachen und verlasse das Gebäude. Als ich draußen bin, muss ich weinen. Ich weiß gar nicht so recht wofür? War es wegen dieses Termins heute, der so unheimlich wichtig für mich war oder lag es daran dass mich meine Kollegen wie eine aussätzige behandelten. Ich war so vorsichtig und komme auch niemanden zu nahe, warum soll ich jetzt der Grund für diesen Warnton sein. Da ertönt der Ton schon wieder und die Passanten um mich herum nehmen reiß aus. Ich hatte plötzlich ein kleines und mickriges Selbstbewusstsein. In nicht mal einer Stunde war ich von der aufstrebenden PR-Chefin zu einem Häufchen Elend mutiert. Ich setze mich aufs Rad und fahre nach Hause. Ich halte jedes Mal die Luft an, wenn ich einem Menschen begegne, und hoffe, dass dieser Warnton nicht wieder losgeht. Bei den meisten tut er es allerdings. „Ein Spießrutenlauf“, flüstere ich leise zu mir selbst! Zuhause angekommen, habe ich erstmal das Gefühl duschen zu müssen. Nach dem Duschen mache ich mir einen Bronchialtee, als ob ich damit das Virus aufhalten könnte. Ich setze mich aufs Sofa, umklammere die warme Tasse Tee mit beiden Händen und denke über die heutigen Ereignisse nach. Die Corona-App auf meinem Handy zeigt meinen Status grün an, warum also werden die Leute in meiner Umgebung gewarnt? Da fällt es mir auf einmal ein, ja natürlich, es muss das gefunden Handy von heute Morgen sein. Ich brauche dringend jemanden, der mir hilft. Ich nehme also mein Handy und rufe Bernd an. Bernd ist im selben Alter wie ich und IT-Experte, also genau der den ich brauche. Er wohnt im gleichen Haus und ich habe das Gefühl, er schwärmt etwas für mich. Wir treffen uns manchmal im Keller während des Wäschewaschens, wobei er dann immer hektisch und nervös wird. Bernd ist eigentlich so, wie man sich einen IT-Experten vorstellt. Klein, vollbärtig und etwas dicklich. Also das genaue Gegenteil von Patric. 45 Sekunden nach meinem Anruf klingelte es schon an meiner Haustüre. Bernds Handy bleibt stumm, beim Eintritt in meine Wohnung. Er war es, der mich auch gewarnt hatte, diese Corona-App zu installieren. Ich erzähle Bernd von dem gefundenen Handy und der Situation heute im Büro. Ohne große Worte zu verlieren, nimmt er das Handy und schließt es an seinen Laptop an. Bernd riecht etwas nach Schweiß, wenn er sich für etwas erfreuen kann, aber ich ignoriere es und bin froh, dass mir jemand hilft. Ich setze mich gegenüber auf den Esszimmertisch. Auf- und ablaufende Textzeilen spiegeln sich in seinen Brillengläsern und ich komme mir ein bisschen wie Marie bei Jason Bourne vor. Nur halt das Bernd so gar nichts von Matt Damon hatte. Nach etwas 15min lehnt sich Bernd mit einem triumphierenden Lächeln auf dem Stuhl zurück „Voila Madame“. Wobei das Voila, bei Bernd eher nach Cola klang. „Was ist ?“, frage ich erwartungsvoll. „Das Handy ist entsperrt !“, antwortetet Bernd. Ich springe auf und greife nach dem Handy, fange an es durchzustöberen. Ich beginne bei den Fotos und finde tatsächlich noch mehr Fotos von mir. Alle stehen im Zusammenhang über den Artikel des vermeintlichen Kinderschänders. Fotos von meinen Recherchearbeiten, das Haus des Mannes, sogar der Artikel selbst war abfotografiert worden. Ich suche weiter nach Hinweisen, aber außer der Corona-App war nicht viel auf dem Handy. Ich öffne die Corona-App und sehe ein komplett angelegtes Profil von mir. Vor- und Nachname sowie Wohnort, Arbeitsstätte, und auch meinen aktuellen Status: Corona-Infiziert. Ich kann kaum glauben, was ich da lese. Jetzt war mir auch klar, was die Warnsignale der Leute aus meiner Umgebung auslöste. Irgendjemand muss von meinen morgendlichen Routinen gewusst haben und das Handy dort platziert haben. Derjenige wusste auch von meiner Ausbildung als Journalisten und hat ein Hintergrundbild von mir auf dem Handy platziert, um meine Neugier zu wecken. Derjenige wusste auch, dass ich es mir näher anschauen werde. Außerdem kennt er die Vergangenheit zu meinem Artikel, zu dem so viel Fotos auf dem Handy waren. Umso länger ich darüber nachdenke, umso mehr kann es nur der damalige Kinderschänder sein, dessen Leben ich mit diesem Artikel zerstört hatte. Nun will er mir damit schaden, und mich als Coronainfizierten isolieren. Meine Karriere bei Finanzio war somit gelaufen und meine Rivalin Viktoria hat sich nun den Job geschnappt. Somit hat sein Plan Erfolg. Aber was soll ich denn nur tun jetzt? Zur Polizei zu gehen ohne Beweise ist wohl keine so gute Idee. Ich beschließe die Sache selbst in die Hand zu nehmen. So wie ich es als Journalistin schon früher immer getan habe. Außerdem ereignete sich die damalige Geschichte in einem kleinen Dorf im Taunus, hier ganz in der Nähe von Frankfurt. Also beschließe ich hinzufahren, um ihn zur Rede zu stellen. Bernd bietet mir an mich mit seinem Auto zu fahren. Da es bis zum Taunus den halben Tag mit dem Rad dauern wird und ich ehrlicherweise auch über etwas männlichen Beistand dankbar bin, nehme ich sein Angebot dankend an. Die etwa 30-minütige Autofahrt muss ich Dead Punk hören und habe das Gefühl bei der Ankunft taub zu sein. Der kleine Ort liegt sehr idyllisch, wenn man davon absieht, dass hier ein Kind vor Jahren brutal misshandelt wurde. Ich hatte es mir damals zu meiner Lebensaufgabe gemacht den vermeintlichen Täter für immer hinter Schloss und Riegel zu führen, doch er wurde für unschuldig befunden und freigesprochen. Mir war klar, dass sein Leben von nun an sehr schwierig in so einem kleinen Ort wie diesem sein würde. Wo jeder jeden kennt und jeder Nachbar mehr weiß über dich als Du selbst. Ich kann mich noch genau erinnern, als wäre es gestern. Der Freispruch kam überraschend für mich. Ich war mir so sicher, aber Beweise hatte ich damals natürlich keine. Nur mein Bauchgefühl. Das wichtigste Instrument eines Journalisten, sagte mir damals mein Mentor. Da ich mich damals so getäuscht hatte, habe ich auch meinen Beruf als Journalistin an den Nagel gehängt, da ich dieses wichtige Instrument wohl überhaupt nicht besitze.

Es überkommt mich ein ungutes Gefühl als wir mit dem Auto vor dem Haus anhalten. Als würde sich ein kühler Wind vom Boden an meinen Beinen hoch über meinen Rücken zu meinen Schultern vorarbeiten, um dort zu verharren. Ich öffne die Türe und spüre die herrliche Landluft in meine Nase dringen. Nur ein paar Kilometer von hier ist mein Heimatdorf. Ich lebte dort, bis ich 20 war, und bin dann zum Studieren nach Frankfurt gezogen. Seither vermisse ich diese ländliche Idylle, die frische Luft, die freundlichen Leute die einen täglich Grüßen. Die Hilfsbereitschaft und die Zusammengehörigkeit auf dem Dorf. All das vermisse ich in der Stadt. Ich kann mich aber auch erinnern, dass ich mich hier oft nie wohl gefühlt habe, mir alles zu eng erschien und ich keine Luft zum Atmen hatte. Damals war ich froh, aus der ländlichen Gegend in die Stadt zu ziehen. Bis heute weiß ich nicht, ob ich nun eher ein Landei oder Stadtkind bin oder sein möchte. In den jungen Jahren genoss ich es, Nächte lang durch die Stadt zu ziehen, am Puls des Lebens zu sein. Ich hasste es zu meinen Eltern zu fahren und dass sogar an Weihnachten. Ich hatte diese ständige Unruhe und Angst in mir, etwas zu verpassen. Heute sehne ich mich immer mehr in die Natur. Danach dass die Zeit stehen bleibt und ich auftanken kann. Egal ob beim morgendlichen Spaziergang oder meiner Idee, mit dem Rad übers Land zu fahren, ich suche die Ruhe in meinem viel zu hektischem Leben. So ändern sich die Dinge im Laufe der Zeit.

Doch gerade erscheint mir das vorliegende Haus zu ruhig, ja fast schon verlassen. Ich laufe langsam, mich umsehend, zu dem alten verrosteten Gartentor. Beim Öffnen quietscht es so laut, als ob ich damit das ganze Dorf wecken könnte. Der Rasen im Vorgarten wurde lange nicht gemäht und die Rollläden waren an fast allen Fenstern verschlossen. Ich erschrecke, als Bernd die Tür vom Auto zuschlägt, um sich mir anzuschließen. Als Bernd bei mir ist, klopfe ich leicht an die alte Holztür, fast schon so als will ich nicht, dass jemand mich hört. Obwohl ich Bernd für nicht gerade sozialkompetent halte, spürt er anscheinend meine Zurückhaltung und klopft deutlich stärker an die Tür. Nach mehrmaligem Klopfen scheint es, als wäre niemand Zuhause. Ich ziehe Bernd am Ärmel und laufe die Treppe zurück in den Vorgarten. Wir laufen auf der linken Seite um das Haus, in den hinteren Garten. Eine Müllhalde wirkt aufgeräumter als dieser Garten. Zudem stinkt es wie auf einem fischverarbeitenden Betrieb. Während ich es immer noch nicht fassen kann, wie jemand so seinen Garten verkommen lassen kann, ruft Bernd, „Mareike hier ist offen.“ Ich dreh mich um und sehe, wie Bernd durch die Kellertür ins Haus verschwindet. Heimgesucht von dem unwohlen Gefühl, alleine zu sein, springe ich Bernd hinterher ins Haus. Hier ist der Gestank noch schlimmer. Ich nehme mein Handy und aktiviere die Taschenlampe. Überall sehe ich Spinnenweben an den Wänden. Das ganze Haus wirkt, als wäre es fluchtartig verlassen worden. Wenn nicht überall zentimeterdick der Staub liegen würde, könnte man meinen, es kommt jeden Moment jemand vom Einkaufen zurück. Im Erdgeschoss angekommen finde ich einen gedeckten Tisch. In den weiteren Räumen finde ich Betten, die nicht gemacht worden sind. Überall stehen leere Alkoholflaschen. Es scheint, als wäre das Leben des damaligen vermeintlichen Kinderschänders total aus dem Ruder gelaufen. Als ich dann noch ein Bild von ihm, seiner Frau und einem kleinen Mädchen sehe, was wohl die Tochter der beiden ist, hole ich tief Luft und es rollen mir Tränen über die Wange. Ich hatte damals meine Karriere vor das Leben eines Menschen gestellt. Obwohl mir bewusst war, was ich damals angestellt hatte, machte dieses Haus es nochmals deutlich klarer, was ich damals angerichtet habe. Ich muss raus hier, rufe nach Bernd und renne aus dem Haus. Ich setze mich im Vorgarten des Hauses auf die Treppe. Bernd umarmt mich und versucht mir ein klein wenig Trost zu spenden. Mir geht dieses Bild mit dem Mädchen nicht aus dem Kopf. Hatte ich bei meinen Recherchearbeiten damals etwa was übersehen? Ich hatte nie etwas von einer Tochter gefunden. Umso länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir bewusst, dass ich nicht nur das Leben des Mannes zerstört habe, sondern auch das seiner ganzen Familie. Das Haus hinter mir ist der sinnbildliche Trümmerhaufen der ganzen Geschichte. Traurig bitte ich Bernd mich nach Hause zu fahren. Als ich das rostige Tor durchschreite, spricht uns ein älterer Mann an, „Sind Sie die neue Besitzer dieses Hauses ?“ „Nein, wir hatten nur jemanden besuchen wollen und dachten er wohnt hier“, antwortete ich, „Wissen Sie wo sich diese Familie befindet ?“. „Oh, das ist eine tragische Geschichte“, sprach der alte Mann leise nach vorne gebeugt, „Die Familie die hier wohnte. Vor Jahren wurde der Mann beschuldigt ein Kind missbraucht zu haben. Hinterher stellt sich heraus er hatte nichts damit zu tun, leidete aber sein Leben lang darunter. Er verlor damals seinen Job, betrank sich jeden Tag bis Frau und Tochter ihn verließen. Ungefähr 1 Jahr später brachte er sich dann um. Die Frau und Tochter habe ich nie wieder hier gesehen“. „Danke“, erwidere ich mit traurigerer Stimme und laufe zurück zum Auto. Bernd fragt den alten Mann, ob er denn weiß wo die Frau und Tochter heute wohnen. „Irgendwo in Frankfurt“, antwortete der alte Mann und läuft mit seinem Stock in gebückter Haltung weiter.

Auf der Fahrt zurück nach Frankfurt bin ich in Gedanken noch immer bei dem Bild und der Tochter. Sie muss etwa in meinem Alter sein. Bernd stattdessen war immer noch drauf und dran den Besitzer des Handys zu finden. „Ich glaube ich kann die beiden in Frankfurt finden. Dafür brauche ich aber mehr Information zu dem Fall von damals“, riss Bernd mich aus meinen Gedanken heraus. Ich habe nicht mal die Kraft ihm zu antworten, geschweige denn jetzt noch weiter über das Handy nachzudenken. Eigentlich will ich auch gar nicht mehr weiter danach suchen. Die Reise in meine Vergangenheit heute war mehr als genug für mich. In Frankfurt angekommen, lässt Bernd aber nicht locker. Viel zu müde, um zu diskutieren, krame ich den alten Schuhkarton mit allen gesammelte Informationen über den Fall von damals aus meinem Schrank. Ich packe ihm das Handy oben drauf und bevor ich mich für den heutigen Tag bedanken kann, ist Bernd schon eifrig verschwunden. Ich kann nicht sagen, was mich heute härter getroffen hat? Meine Karriere die nun vorbei ist oder die kleine Reise in die Vergangenheit. Ich habe das Bedürfnis, meine Mutter anzurufen. Sie freut sich riesig über meinen Anruf, und hofft ich komme bald wieder zu besuch. Ich kann ihr nicht sagen, dass ich heute ganz in ihrer Nähe war, denn das nimmt sie mir bestimmt übel. Erschöpft von dem Tag lege ich mich ins Bett und werfe noch einen letzten Blick auf mein Handy. Nichts! Keine Nachricht von Patric oder dem Team wie der Termin heute gelaufen ist. Ich habe erwartet, dass sie mich wenigstens informieren oder ein paar Bilder von der Feier schicken. Aber in dieser Welt gilt, wer nicht 100-prozentige Performance zeigt, ist raus. So einfach war ich also austauschbar! Meine Mutter konnte ich nach Wochen anrufen und wurde herzlich begrüßt. Meine Kollegen, für die ich meine gesamte Freizeit in den letzten Jahren geopfert hatte, habe mich nach 8 Stunden vergessen. Ich denke an den Garten meiner Eltern auf dem Land und schlafe dabei friedlich ein.

In den nächsten Tagen verändert sich mein äußeres wie auch inneres Leben. Aufgrund der Ereignisse mit der Corona-App musste ich mich testen lassen und durfte so lange nicht aus dem Haus. Selbst meine morgendlichen Spaziergänge waren untersagt. Nach 2 Wochen Warterei und einem bestätigten, negativen Testergebnis kann ich zum ersten Mal wieder ins Büro fahren. Mittlerweile hatte der Staat auch die Beschränkungen gelockert und es kehrt nun der Alltag so langsam wieder in die Stadt zurück. Mittlerweile ist Viktoria der neue Star der Firma und ich wurde aufs Abstellgleis befördert. Ich schreibe an kleinen Artikeln, Blogeinträge und weiteren unwichtigen Dingen. Es ärgert mich, wenn ich Viktoria zusammen mit Patric sehe. Wie sie zusammen lachen, über neue Strategien diskutieren und Pläne für die Firma schmieden. Ich bin eifersüchtig auf sie. Sie sieht nicht nur besser aus als ich, sondern ist jetzt auch noch offiziell klüger als ich und meine Chefin. Ich konnte Viktoria von Anfang an nicht leiden und die Situation, dass sie jetzt sogar meine Chefin war, machte es nicht besser. An einem verregneten Montagmorgen rufen mich Patric und Viktoria zusammen in Ihr Büro. Der starke Regen läuft in kleinen Bächen an den Fensterscheiben des modernen Gebäudes herunter. Ich versuche zu erraten wie die Wassermengen sich ihren Weg an der Fensterscheibe entlang nach unten suchen. Warum gehen manche rechts, warum manche links herum? Ich liege jedes Mal falsch mit meiner Prognose. Wie gut, dass ich nicht Physik studiert habe, denke ich mir. Da vernehme ich plötzlich das Wort „Stellenabbau“ in dem Monolog, den die beiden mit mir führen. Ich dreh mich hektisch zu Patric und Viktoria um, „ Ihr feuert mich ?“.Patric versucht ruhig und gefasst bei seiner Antwort zu wirken. Seine sich ineinander reibenden Hände und der wippende rechte Fuß verraten mir allerdings etwas anderes. „Mareike, wir müssen auf die krasse wirtschaftliche Lage einige Anpassungen bei Finanzio vornehmen. Da Viktoria jetzt unseren PR Bereich leitet, haben wir quasi zwei Personen für die gleiche Stelle. Du Mareike bist am besten ausgebildet und findest bestimmt schnell wieder was Neues. Es tut uns wirklich leid.“ Mir ist bewusst, dass ich deutlich mehr verdiene wie die anderen Studenten und Halbtagskräfte bei Finanzio. Ich hatte ja in der Tat ein abgeschlossenes Studium. Somit war ich natürlich eine finanzielle Belastung. Das Problem in so einem Start-up sind immer die administrativen Tätigkeiten. Diese fallen einer Krise als Erstes zum Opfer. Marketing und PR sind Bereiche, welche die jungen Halbgötter, also die Entrepreneure, auch zusätzlich am Wochenende übernehmen können. Zumindest denken sie das, auch wenn hinterher nur Kauderwelsch und kaum ein grammatikalischer, richtiger Satz zustande kommt. Die einzigen auf die keiner verzichten kann, sind die Programmierer. Natürlich war ich eifersüchtig auf sie, auch wenn sie nichts zu meiner Situation dafürkonnten. Ich hasse seit dem Tag, als ich wegen der Corona-App das Gebäude verlassen musste, einfach alles und jeden in diesem Gebäude. Ich habe seit dem Vorfall mit der Corona-App sowieso schon daran gedacht zu kündigen. Das abrupte Ende damals hatte mich zum Nachdenken bewogen. Eigentlich war ich sogar froh, dass sie mich feuern. Somit gab es zumindest noch ne kleine Abfindung. „Ich pack meine Sachen“, antworte ich kühl und verlasse den Raum. Ich bemerke wie meine, zumindest gezeigte Gleichgültigkeit, Viktoria überrascht und ihr auch die Freude an meiner Entlassung nimmt. Als ich in mein Büro trete, herrscht ein unangenehmes Schweigen meiner Kollegen, oder besser gesagt Ex-Kollegen. Sie alle haben wahrscheinlich schon länger davon gewusst und niemand hatte mich gewarnt. Das machte mir meinen Abschied noch leichter. Ohne auch nur einem der Kollegen einen Blick zu würdigen, laufe ich zu meinem Arbeitsplatz und packe meine persönlichen Dinge ein. Als der kleine Karton fast gefüllt ist, vibriert mein Handy in meiner Tasche. Etwas überrascht sehe ich, dass es Bernd ist. Er hatte sich die ganzen letzten Tage nicht gemeldet. „Hi Bernd, gerade ist es etwas schlecht. Geht es schnell ?“. „Die Tochter und Mutter leben beide in Frankfurt-Höchst. Die Mutter heißt Stephanie Reichert und die Tochter Viktoria Reichert. Ich habe Dir die Adresse per eMail geschickt. Hoffe damit konnte ich Dir weiterhelfen Mareike. Tschüss“. Ich bekomme noch ein halbfreundliches „Dankeschön“ in das Handy, während mein Arm mit dem Handy langsam nach unten sackt. Mein Blick ist wie versteinert und mein Puls erhöht sich dramatisch. Viktoria, die neue PR-Chefin, die mich gerade gefeuert hat, ist die Tochter des Mannes, dessen Leben ich damals zerstört habe. Wusste sie, wer ich war? Natürlich wusste sie es. Von Anfang an. Sie wollte meine Leben nun genauso zerstören, wie ich ihres zerstört habe. Sie wusste genau, wie wichtig mir meine Karriere war und dass ich alles dafür tun würde. Chapeau, ein gut geplanter und erfolgreicher Racheakt von Viktoria. Ich muss sie zur Rede stellen, aber nicht hier. Ich packe schnell noch die restlichen Dinge in meine Box und verschwinde aus dem Gebäude. Ich setze mich in den kleinen Park vor dem Gebäude, den ich über die letzten Jahre sehr liebgewonnen habe. Wann immer ich ein Platz zum Nachdenken brauchte, der Park hat mich immer aufgenommen. So auch dieses Mal. Spät am Abend kam Viktoria mit Patric aus dem Gebäude, fröhlich und lachend. Ich folge den beiden auf die Freßgass, wo sie bei einem Edel-Italiener einen romantischen Abend verbringen. Als ich den beiden so zusehe, wird mir bewusst, wie glücklich Viktoria ist. Vielleicht genauso glücklich wie sie damals war. Damals auf dem Foto, welches ich in dem alten Haus gesehen habe. Damals, bevor ich das Leben ihrer Familie zerstört habe. Ich beschließe nach Hause zu gehen und doch erstmal darüber zu schlafen, bevor ich mit ihre rede. Ich will nicht schon wieder etwas kaputt machen. Ihr Racheakt stand schließlich auch in keinem Verhältnis, zu dem, was ich damals ihr und ihrer Familie angetan habe. Ich liege im Bett und wälze mich hin und her, kann nicht einschlafen. Ich schnappe mir mein Handy und versuche etwas über Viktoria zu erfahren. Ich schaue auf Instagram und Facebook nach ihr. Auf den ersten Blick scheint sie eine ganz nette Person zu sein. Warum war ich nur immer so eifersüchtig auf sie? Weil sie hübscher ist? War es etwa der pure Neid auf ihr Aussehen? Ich dachte immer, ich definiere mich über meinen Charakter und Intellekt, aber niemals über mein Aussehen. Ich fühle mich ertappt von mir selbst. Irgendwie bin ich immer weiter von der damaligen journalistischen Weltverbesserin zu einer egoistischen Karrierefrau geworden. Ich wechsle zu WhatsApp und schreibe meinen Eltern eine Nachricht. Ich will sie nach der langen Zeit mal wieder besuchen kommen. Obwohl es schon fast halb eins ist und meine Eltern früh schlafen gehen, hat meine Mutter innerhalb einer Minute eine freudige Antwort geschrieben. Als hätte Sie wochenlang darauf gewartet. Ich schlafe ein und freue mich auf das Wochenende.

Als ich Freitag Nachmittag das Auto vollgepackt habe, entscheide ich mich noch kurz, zu meinem Lieblingsbäcker zu fahren und meinen Eltern einen leckeren Kuchen mit zu bringen. Als ich bereits den Bäcker wieder mit dem Kuchen verlassen will, läuft mir Viktoria in die Arme. Wir schauen uns gefühlt minutenlang an. Sie schaut mich mit ihrem triumphierenden Blick an, ihr Racheplan hatte funktioniert. Aber anstelle eifersüchtig und sauer auf sie zu sein, war ich ruhig. Ich sagte mit leiser und reuevoller Stimme: „Es tut mir Leid, was ich Dir und Deiner Familie angetan habe !“ Viktorias lächeln verschwand. Sie hatte mit allen möglichen Reaktionen von mir gerechnet, aber niemals mit einer Entschuldigung. Sie holte tief Luft und eine Träne rollt Ihr über ihre Wange. Ich weiß nicht warum, aber ich frage sie plötzlich, ob sie mit mir einen Kaffee trinken mag. Gänzlich irritiert, weiß sie nicht was sie antworten soll. Kurzerhand bestelle ich zwei Cappuccino und setze mich an den nächstgelegenen Tisch. Zögerlich setzt sie sich zu mir. Ich erzähle Ihr, dass ich weiß, dass das Handy, welches ich gefunden habe, von ihr kommt. Ich erzähle auch von dem Besuch in ihrem Heimatort und dem Bild in dem verlassenen Haus. Ohne richtig zu weinen, läuft Viktoria eine Träne nach der anderen über die Backen. Ohne Erwartungen auf Ihr Verständnis versuche ich ihr die Situation von damals zu erklären. Als ich mit meinem minutenlangen Dialog fertig bin, blicke ich tief in Ihre roten, verheulten Augen. Genauso überrascht wie Viktoria von meiner Entschuldigung war, bin ich nun von Ihrem „Danke“, welches sie ganz leise und zurückhaltend ausspricht. Ich bin ehrlich zu ihr und hatte nicht versucht nach Ausreden zu suchen. Ich habe meine Fehler als Mensch zugegeben, was sie mir wohl positiv anrechnet. Auch dass ich mich nicht über Ihren Racheakt ärgere, sondern Sie in ihrer Situation verstehe, war ausschlaggebend für Ihr „Danke“. Wir holen beide tief Luft. Eine jahrelange Last, die wir mit uns herumtragen, war im Begriff sich aufzulösen. Das Gespräch zwischen uns beiden, hauptsächlich von mir geführt, erwirkt eine Art Begnadigung für uns. Viktoria begreift meine Situation von damals und ich bekomme von Ihr eine unausgesprochene Begnadigung durch ihr kurzes „Danke“. Es gibt keine Umarmung und es ist auch nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, aber es ist der Start für uns beide das Thema nun endlich hinter uns zu lassen. Viktoria hat bereist Ihren Neubeginn mit Patric und der neuen Position bei Finanzion. Für mich ist es nun Zeit, meinen Neuanfang zu machen.

 

Als ich Frankfurt hinter mir lasse und Richtung Taunus fahre, spüre ich ein neues glückliches Gefühl. Ich bin seit langem Mal wieder frei und ohne jeglichen Druck. Ich freue mich auf den schön gepflegten Garten meiner Eltern und auf den leckeren Kuchen. Meine Mutter wartet schon freudig im Vorgarten. Sie winkt mir von weitem und hat wahrscheinlich schon den ganzen Tag gewartet. Bisher hat es mich immer genervt, aber heute ist es einfach so schön. Ohne richtig zu parken, stelle ich das Auto ab und renne ihr in die Arme. Es war wahrscheinlich die ehrlichste Umarmung, die ich seit langem mit meiner Mama hatte. Mama zog mich in den Garten und präsentiert mich meinem Vater wie eine Fremde. Kein Wunder so lange wie ich nicht mehr da war. Mama spürte natürlich sofort, dass mit mir was nicht stimmt. Aber sie fragt mich nicht aus, sondern lässt mich einfach in Ruhe. Wir essen Kuchen und trinken Kaffee. Wie früher fragt sie mich, was ich zu Abend essen will. Ich wünsche mir wie eine 16-Jährige, mit einem breiten Grinsen, einen Kaiserschmarrn. Ich erzähle meinen Eltern von der Geschichte mit Viktoria und auch darüber, wie ich durch die Geschichte auch wieder zu mir selbst gefunden habe. Das ich arbeitslos bin und erstmal eine Weile brauche, um zu wissen, was ich will. Mein Vater lächelt mir zu und sagt, „Du kannst so lange bei uns bleiben wie Du willst.“, dabei klopft er mir auf die Schulter und läuft Richtung Haus. „Ach übrigens wir haben letzte Woche das Klavier neu stimmen lassen. Musik hilft bei allen Problemen“, ruft er mir grinsend nach. Ich schaue zu meiner Mama, die ebenfalls nur leicht grinst. „Gute Idee“, rufe ich laut und setze mich an das alte Schimmel-Klavier. Als Kind war ich begeistert von dem Instrument, habe jeden Tag geübt. Die Fingerübungen von Czerny, Tschaikowskys und Schumanns Jugendalben bis ich mich sogar an Chopin und an Bach gewagt habe. Bachs Wohltemperiertes Klavier war als Notenheft auf dem Klavier aufgeschlagen. Nach einigen holprigen Anläufen klappt es ganz gut und umso mehr ich in den Rhythmus komme, umso mehr habe ich das Gefühl Zuhause zu sein. Als ich das Stück mit dem letzten Takt schließe, habe ich das Gefühl, vollkommen angekommen zu sein. Nicht weil ich in meinem Elternhaus sitze, sondern weil mir bewusst wird, dass das Schreiben, welches mich damals zum Journalismus gebracht hat, aber auch die Musik die mich meine komplette Jugend begleitet hat, in einer Welt voller Start-ups, Karriere, Digitalisierung, sozialen Netzwerken und künstlicher Intelligenz das größte Potential haben, mich zurück zu meiner wahren Identität bringen. Ich lächle zufrieden über diese Erkenntnis, schließe das Klavier, schnappe mir einen leeren Block Papier und setze mich in den Garten. Ich habe meine Freude am Schreiben wiedergefunden. Der Grund weshalb ich damals Journalistin werden wollte und wahrscheinlich auch er Grund, warum ich all die Jahre unglücklich war. Viktoria hat mich zurück zu meinem Ursprung gebracht und mir gleichzeitig die größte Last meines Lebens genommen und mich somit wieder zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht.

7 thoughts on “Das verlorene Glück

    1. Hallo Liebe Patricia,
      vielen Dank für Deine tolles Feedback ! Ich werde mir Deine Geschichte auf jeden Fall durchlesen.

      Sorry das ich fragen muss, was meinst Du mit “More Show, don’t tell”. Entschuldige ich bin neu als Schriftsteller :-)))

      Grüße Michael

  1. Hi, eine nette Geschichte hast Du da geschrieben.
    Ein paar kleine Anmerkungen habe ich aber :
    – Du verspringst sehr oft in den Zeitformen, hier ein kleines Beispiel : “…Es ist ein verlorenes Handy, das im Gras liegt und klingelte. …”. Das solltest Du vielleicht nochmal überarbeiten. Ggf. kann Dir hier ein Fremdleser helfen, wenn man selbst schreibt und davor sitzt, wird man irgendwann “betriebsblind”.
    – Ich würde mir hier und da Absätze wünschen, das macht das Lesen etwas einfacher und angenehmer
    – Mir persönlich ist der Spannungsbogen zu flach, die Geschichte plätschert gefühlt ein wenig vor sich hin. Du hast sehr ausführlich beschrieben, was die Hauptperson so macht und denkt, die eigentliche Handlung und das Motiv gehen da ein wenig unter, finde ich. Ich hätte mir mehr Hintergründe zum Täter und Tatmotiv gewünscht, vielleicht auch die emotionale Seite von Viktoria ein wenig weiter ausgearbeitet.
    Ich denke, Dein Stil ist noch nicht ganz “fertig”, aber mit Übung wird das sicher.
    Trotz aller Kritik, ein großes Kompliment zu der Geschichte.

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen :
    Glasauge

    1. Hi Schneenie,

      vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Es war meine allererste Geschichte und bin somit natürlich für jeden Tip dankbar. Die Tips helfen mir auf jeden Fall.

      Gerne lese ich mir Deine Geschichte ebenfalls durch.

      Grüße
      Michael

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