Sarah T.Der Tausch

Ein Foto. Mehr braucht es nicht, um ein Leben zu zerstören, und manchmal sogar mehrere. Ein Foto, auf dem der Partner eine Andere küsst, jemand eine Bank ausraubt oder ein Nacktbild. Niemals aber hätte er gedacht, dass ein 17-jahre altes Bild, ein unscharfes zudem, seines zerstören würde.

Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Er fühlte, wie sich seine Haare überall am Körper aufstellten. Panisch nahm er den Umschlag unter seinen Bademantel und schaute sich um. Es war soweit ruhig, nur ein Volvo parkte die Straße weiter runter, eine rote Katze, erstaunt von seiner heftigen Reaktion, huschte ins Gebüsch. “Alles normal, es ist alles gut.”, redete er sich ein. Er versuchte seine Atmung zu kontrollieren und schloss kurz die Augen, nur um sie im nächsten Moment schnell wieder aufzureißen, vor lauter Angst, es würde ihm etwas entgehen. Ein Auto, eine Bewegung in einem Haus oder auch nur die Katze, die ihn komisch aus dem Gebüsch anstarrte. Immer noch mit einem Herzrasen wandte er seinen Blick ab und fokussierte den grauen Volvo. Stuttgarter Kennzeichen, kaum verwunderlich, auch wenn hier üblicherweise Waiblinger Kennzeichnen standen. Die Stille wurde jäh von ihr unterbrochen. 

“Schatz? Sind das meine Schuhe?”, kam es aus dem Haus. So ruhig wie es eben nur ging, rief er “Äh nein, nur die Post.” zurück. Er fragte sich, ob es ihm nur so vorkam, oder ob seine Stimme wirklich 3 Oktaven höher war als sonst. Er riskierte noch einen letzten Blick in Richtung Katze und Volvo, bevor er die Tür schloss. Sicherheitshalber schaute er nochmal durch den Türspion, aber wie zu erwarten war alles wie vor 3 Sekunden als er die Tür schloss. Er atmete tief ein und stellte sicher, dass der Brief gut zwischen seinem Bademantel und seiner Brust klemmte. Sie kam gerade aus der Küche, wie ein ertapptes Kind beim Süßigkeiten naschen schnellte er um.  “Schatz? Alles gut? Du siehst etwas blass aus…”, fragte sie und musste dabei ein Lächeln unterdrücken. “Nur eine Katze die komisch aussah, alles paletti”, log er. Paletti? Wer sagt denn bitte “alles paletti”, kritisierte er sich. Aber sie war ausreichend überzeugt, denn sie drehte sich um und ging achselzuckend wieder in die Küche. “Ich hau’ mich kurz aufs Ohr, bin etwas platt.” rief er von der Treppe und rannte fast ins Schlafzimmer. An der Wortwahl seiner Lügen musste er echt noch arbeiten, denn er befürchtete, lügen müsse er in Zukunft öfter. Er wartete ihre Antwort nicht ab und schloss schnell die Tür ab. Seit sie ihr zweites Kind hatten, besaß ihre Schlafzimmertüre ein Schloss, und er war darüber noch nie so froh wie jetzt. Langsam schlich er zum Fenster und schaute hinab auf die Straße. Der Volvo war weg und auch die Katze konnte er von hier nicht mehr sehen. “Hatte der Volvo Fahrer mich ins Haus gehen sehen und war deshalb weggefahren?”, überlegte er angespannt. Seine Frau rief von unten irgendetwas, aber er hörte nicht hin. Gegenüber fuhr ein weißer Van vor, und er fühlte sich wie in einem schlechten, vorhersehbaren Film mit einem weißen Mann in seinen 20ern, der die Welt mit seiner heißen Partnerin retten musste, wobei er schwer verletzt wird aber wie durch magische Weise überlebt. Aber das hier war kein Film. Er war nicht mehr in seinen 20ern, ihr wäre das alles zu gefährlich und der weiße Van bringt auch nur Pakete. “Oder doch Paketbomben?”, schoss es ihm durch den Kopf. Er zwang sich selbst den Blick abzuwenden und die Vorhänge zuzuziehen. Erschöpft von so viel Adrenalin in so kurzer Zeit ließ er sich aufs Bett fallen. Der Brief bohrte sich in seine Brust, und holte ihn aus all seinen Hirnspinnereien ins jetzt zurück. Er setzte sich auf die Bettkante und nahm den zerknitterten Brief aus seiner provisorischen Bademantel/Brusttasche. Mit einem kurzen Blick versicherte er sich, dass die Tür abgeschlossen war, bevor er sich wieder dem Brief zuwandte. “Vielleicht hatte ich ja auch falsch geschaut? Vielleicht war es ja gar nicht das Bild. Natürlich war es das.”, stritt er mit sich selbst. “Oder möglicherweise…?” Noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, öffnete er den Umschlag erneut. Seine Finger zitterten, als er das kleine Foto aus dem Umschlag holte. Es war nur ca. neun mal elf cm groß und hatte einen grauen Rahmen, der wohl ursprünglich einmal weiß war. Die rechte untere Ecke war bis zur Mitte des Fotos abgebrannt und roch immer noch merkwürdig, nach Dreck und Traurigkeit. Das Foto war ziemlich alt und verschwommen, aber man konnte noch erkennen, was abgelichtet war. Vor einer Betonwand stand ein 14, vielleicht 15-jähriger Junge, in einer knittrigen Leinenhose mit viel zu langen Trägern und ein Hemd, das hier einen Fleck, dort ein paar Löcher hatte. Seine aschblonden Haare fielen ungleichmäßig auf seine Schultern. Seine Nase wirkte etwas zu groß für sein schmales, kantiges Gesicht. Er wirkte erschöpft, und sein Lächeln war kaum zu erkennen. Auf den ersten Blick machte das Bild für eine unbeteiligte Person vielleicht keinen Sinn, denn zwar hing sein rechter Arm schlaff an seinem schmächtigen Körper herab, aber sein linker war in den verbrannten Bereich ausgestreckt, und trotzdem hatte er eine Hand auf seiner rechten Schulter. 

Auf den ersten Blick machte das Bild für eine unbeteiligte Person vielleicht keinen Sinn, für ihn aber, glich es einem Schlag in die Magengrube. Er kannte diesen Jungen. Er war dieser Junge. Bir, heißt er. Hieß er, Aserbaidschanisch für eins. Aber Bir gab es nicht mehr. Als das Foto damals aufgenommen wurde, sprach er kein Deutsch, nicht einmal Englisch. Also benannte man ihn und die anderen Kinder in ihrer Muttersprache, um die Handhabung zu vereinfachen. Die Mütter konnte man nicht fragen, es sei denn man plante dem Reich der Toten einen Besuch abzustatten. Seine Mutter hatte den weiten Weg nach Deutschland geschafft, nur um dann, nach wenigen Tagen, in einem Flüchtlingslager an Herzversagen zu sterben. Die Reise hatte ihr alles abverlangt. Man hätte natürlich auch einen Dolmetscher um Hilfe bitten können, aber dort scherte man sich einen feuchten Dreck um ihn, und alle anderen. Er hatte es in mühseliger Kleinstarbeit geschafft, seinen Akzent loszuwerden, aber manchmal, wenn er zu schnell oder zu wütend sprach, rollte er aus Versehen das R, oder betonte ein Wort etwas anders. Die Menschen um ihn herum störte das nicht, aber er selbst fühlte sich dann wieder wie der kleine Junge, der kein Deutsch konnte. Inzwischen färbte er sich die Haare kastanienbraun. Auf keinen Fall wollte er irgendetwas mit diesem Jungen gemein haben. Denn das würde bedeuten, dass er etwas mit…

Ein Schlag holte ihn wieder zurück, gefolgt von einem Heulkrampf, der nur zu seinem acht Monate alten Sohns gehören konnte. “Nicht jetzt!”, schrie er in seinem Kopf. Während sie die Treppe hoch sprintete, um sich um den Kleinen zu kümmern, überlegte er fieberhaft, wo er das Foto verstecken sollte. “Nachttisch? Viel zu einfach…. Mein Gott, denk nach, denk nach!”, befahl er sich. Als er im Kreis lief, um dem restlichen Adrenalin einen Ausweg zu geben, fiel sein Blick auf das gerahmte “Kunst”- Gemälde über ihrem Bett. Es war das erste Gemälde seiner Tochter, sie wusste damals wahrscheinlich nicht einmal was sie tat, als sie ihre Hände in die rosa Farbe tauchte und sich bei dem Versuch zu stehen an der Tapete abstütze. Als sie dann endlich aus dem 2-Zimmer-Apartment weg zogen, konnten sie es nicht einfach da lassen. Also rissen sie die Tapete eben einfach ab. Sie hatte noch die restliche Woche immer kichern müssen, wenn sich die Blicke von ihnen streiften. Inzwischen passte rosa zwar nicht mehr in ihr Schlafzimmer, aber darum ging es ja auch nicht.

Mit einem Satz war er auf dem Bett und löste vorsichtig das Bild von dem Nagel, und klappte den Rahmen auf. Vorsichtig schob er das Foto hinter die Tapete, bis nur noch eine kleine Ecke heraus schaute. Das Heulen von draußen war verstummt und durch ein Klopfen an der Tür ersetzt worden. “Schatz, ich geh’ mit den Kindern kurz eine Runde auf den Spieli, wir sind in einer Stunde wieder da. Räumst du bitte die Spülmaschine aus? Danke!”. Wie er es hasste, wenn sie die Sprache der Kinder übernahm, aber ein Besuch beim Spieli kam ihm jetzt gerade recht. Er musste nachdenken, ohne von auch nur einem der Drei spontan überfallen zu werden. Er hastete zur Tür und wollte sie schwungvoll öffnen, aber er hatte vergessen, dass er sie abgeschlossen hatte. Nachdem er ungeschickt das Schloss geöffnet hatte, sah er gerade noch wie sie mit ihm auf dem Arm und ihr an der Hand die Treppe hinunter verschwand. Er ging betont, etwas zu betont, entspannt die Treppe runter und half ihr beim Anziehen der Kinder. Er wartete am Fenster bis sie außer Sicht waren, bevor er kontrollierte, ob alle Fenster geschlossen waren. Schlussendlich schloss er die Haustür bis zum Anschlag ab und riskierte noch einen Blick durch den Türspion. Nichts. Der Van war weg. Und auch sonst war die Straße wie leergefegt. Etwas zu leer für einen Samstagvormittag. “Reiß dich zusammen!”, ermahnte er sich. Wenn er jetzt noch anfinge zu fantasieren, überlegte er, bringe ihn das auch nicht weiter. 

Erschöpft lehnte er sich an die Tür. Was jetzt? Sollte er wegrennen? Lohnte sich das überhaupt? Und vor wem eigentlich? Ihm schwirrten tausend Fragen durch den Kopf. Der andere Junge auf dem Bild ist auch tot. Wirklich tot. 1000° Grad heißes Feuer tot. Oder…? Nein. Nein. Er kann es nicht sein. Aber wer würde sonst…? Nein! Er ist es nicht. Er kann es nicht sein. Iki ist tot. Er muss tot sein, versuchte er sein Gewissen zu beruhigen.

Bir ist tot. Iki auch. Ende der Geschichte. Aber das erklärt nicht, woher das Foto kommt. Und warum ausgerechnet jetzt? Nach 17 Jahren? Er war ein ganz neuer Mensch geworden. Es war unmöglich, dass ihn irgendjemand hätte finden können. Wo…

Sein Gedankengang wurde von der Klingel unterbrochen und er sprang von der Tür weg, als hätte er sich verbrannt. Langsam ging er auf die Tür zu und spähte schon zum dritten Mal an diesem Tag durch den Türspion. Ein Mann, sein Alter war schwer einzuschätzen, da er eine gelbe Kappe trug, stand vor der Tür. Komplett in Gelb gekleidet, mit einem Paket in der Hand. Ah, die Schuhe. Oder doch eine Paketbombe? Nein, wer wäre denn so blöd und klingelt mit einer Paketbombe unter dem Arm dachte er. Er klingelte erneut und er öffnete die Tür nur einen Spalt. “Ja?” fragte er und fesselte jede Bewegung, nur jedes Blinzeln seines Gegenübers mit seinem Blick. “Ich hab hier ein Paket für Sie.”, nuschelte er in einem tiefen Bass. Er kam ihm entfernt bekannt vor, aber das war wahrscheinlich wieder nur ein Hirngespinst, überzeugte er sich selbst. “Okay”, antwortete er so nüchtern wie möglich. “Okay subber, dann brauch ich hier einmal `ne Unterschrift.”. Er war Ausländer, definitiv. Er hielt ihm einen angekauten Stift und dieses komische, klobige Handy entgegen. Er öffnete die Tür weiter um seinen Arm auszustrecken, doch noch bevor er den Stift zu fassen bekam, wurde es schwarz.

Als er wieder zu sich kam war es finster. Er war schweißgebadet, obwohl es in dem Zimmer angenehm kühl war. Die Luft roch nach Ruß und altem Holz. Wie lang war er weg gewesen? Eine Stunde? Drei? War es schon Nacht? Er saß auf einem Stuhl, sein Kopf brummte wie verrückt. Er wollte sich an den Kopf fassen, an welchem er Blut erwartete, aber seine Hände waren hinter der Lehne zusammengebunden, mit Etwas, das sich anfühlte wie ein Schal oder ein Tuch. Auch der Versuch seine Beine zu bewegen blieb erfolglos. Von irgendwo schien ein schwaches Licht zu kommen, denn seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und er begann sich in seiner neuen Umgebung umzusehen. Außer dem Stuhl stand etwa zwei Meter vor ihm ein Tisch. Sonst konnte er nichts erkennen. Die Wände  schienen uneben und rau, Tapete war nur noch an wenigen Stellen auszumachen. Der Raum hatte eine seltsame Form, irgendwie unsymmetrisch. Eine Tür war nicht in Sicht. Gespannt lauschte er in die Stille. Kein Auto, kein Zug, kein gar nichts. Irgendwo brummte etwas. Kaum merklich. Die Decke schien sehr hoch, denn er konnte seinen eigenen Atem unnatürlich laut hören. Zu seiner Rechten erkannte er ein hohes, oben abgerundetes Fenster, jedoch ohne Glas. Durch das Fenster schien das blaue Mondlicht herein, was den ganzen Ort nur noch trauriger machte. Es hätte genauso gut ein Türbogen sein können, wenn er diesen Raum nicht kennen würde. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er hier so schnell wie nur irgendwie möglich weg musste. Wer auch immer das hier, was auch immer das war, veranstaltete, wusste zu viel. Dieser Raum, das Bild, langsam fügte es sich zusammen. Er rüttle verzweifelt an den an den Fesseln, bis er das Gleichgewicht verlor und auf die rechte Seite fiel. Der Schmerz in seinem Kopf breitete sich aus bis er seinen ganzen Körper erfüllte, er wollte gerade zu einem Schrei ansetzten als es wieder schwarz wurde.

Als er das nächste Mal zu sich kam, hatte sich der Raum verändert. Sein Stuhl stand wieder aufrecht und sein Kopf dankte ihm mit zusätzlichen Schmerzwellen, die bis tief in seine Brust vordrangen. Der Tisch stand jetzt unmittelbar vor ihm und er konnte dort drei Teelichter brennen sehen. Er nutzte dieses neue Licht, um sich den Raum nochmal genauer anzuschauen. Der Raum hatte keine asymmetrische Form, die Wand, die ihn von einem anderen Raum trennte war nur halb abgebrannt und so wirkte es, als hätte der Raum eine Verengung hinter dem Tisch. Er musste den Kopf nicht umdrehen, um zu wissen, dass sich eine große, hölzerne Flügeltür hinter ihm befand, oder das, was die Flammen davon übrig gelassen hatten. Er zog nochmal erneut an den Fesseln, bevor ein zaghaftes “Hallo” in die Stille stieß. Sein Hals fühlte sich trocken an, wie am Morgen nach einer schlaflosen Nacht. Er war erleichtert keine Antwort zu bekommen, und gleichzeitig wurde ihm noch unwohler. “Würde er hier verdursten? Verhungern? Jetzt beruhige dich erst mal!”, versuchte er sich zu beschwichtigen, das kann ja wohl kaum das Ende sein. “Er… wer ist er eigentlich?”, fragte er sich. Der Postbote? Das war war das Letzte, an das er sich erinnerte. Er war gerade dabei erneut einzuschlafen, oder ohnmächtig zu werden, als er hörte wie sich die Tür hinter ihm öffnete. Er zuckte zusammen und war sofort wieder hellwach. Die schweren Schritte näherten sich langsam und seine Nackenhaare stellten sich auf. Er spürte den kühlen Luftzug als jemand an ihm vorbei ging und sich hinter dem Tisch an die Wand lehnte. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte, trotz der Teelichter, kein Gesicht erkennen. “Wer bist du?”, fragte er mit zittriger Stimme. Die Person regte sich nicht. “Wer bist du?” fragte er erneut, mit festerer Stimme. Immer noch keine Regung. “Wie hast du mich gefunden?”, versuchte er es erneut. “Du fängst an die richtigen Fragen zu stellen, Bir.” antwortete die Person. Ein Mann, ohne Zweifel. Inzwischen war er sich sicher, dass es der Postbote war. Aber was könnte denn der Mann von ihm wollen? Geld? Aber dafür war das hier viel zu viel Aufwand, und der Ort hier machte keinen Sinn. Es sei denn….wenn man das Bild und den Raum in Verbindung brachte…er unterbrach seinen Gedankengang, denn der Mann trat aus dem Schatten hervor und legte einen Zeitungsausschnitt auf den Tisch. Er trug eine dunkle Sturmhaube und Handschuhe, aber immer noch die gelbe Postboten Ausrüstung, nur dass sie inzwischen zum größten Teil schwarz beschmutzt war. Er wartete seine Reaktion ab, bevor er wieder zurück in den Schatten trat. Er fokussierte den Mann noch eine Weile, bevor er seinen Blick auf den Zeitungsartikel lenkte. Er musste ihn gar nicht lesen, um zu verstehen, wie er ihn gefunden hatte. Der Zeitungsausschnitt hing gerahmt über seinem Sofa, sie wollte das Haus etwas heimeliger machen. Er kannte den zwei Spalten langen Artikel inzwischen schon fast auswendig, und das Foto sprach für sich selbst. Er selbst war dort zu sehen, mit einer riesigen Schere in der Hand, hinter einer roten Schleife. Sein Lächeln wirkte immer noch etwas gequält. Er war damals eingeladen worden um ein Waisenhaus zu eröffnen, das von der Stiftung seiner Eltern finanziert worden war. Wenn er so darüber nachdachte war es schon ziemlich ironisch, dass sein Leben von einem Waisenhaus zerstört wurde. Erneut.  “Du solltest vorsichtiger mit deinem Gesicht sein”,  mahnte ihn der Mann. “Was. Willst. Du? Geld?”, versuchte er es zum schon dritten Mal, er wurde langsam nervös… ” Ach, stell dich doch nicht dümmer an als du bist, Bir.”, schnaubte er verächtlich. Bei der Nennung dieses Namens musste er unweigerlich zucken. ” Was hast du, was ich immer wollte? Was mir zustand?” ” Ich weiß nicht, was du meinst “, erwiderte er, etwas patzig, auch wenn er genau wusste, dass er hier lieber nichts riskieren sollte. “Komm schon, Bir, du warst doch immer der Clevere von uns beiden”. “Nein. Nein. Nein, nein, nein! Das kann nicht sein!”, er war sich bewusst, dass seine stimme Hysterie ausstrahlte, aber er hatte lange genug versucht, sich zu beherrschen. 

 

Er trat aus dem Schatten hervor, und nahm langsam seine Maske ab. Er erkannte ihn sofort. Wie hätte er ihn jemals vergessen können? Iki. Seinen Zwillingsbruder. Er ging langsam um ihn herum, wie ein Beutetier, das sein Opfer umkreiste, und flüsterte ihm ins Ohr: “Du hast mir einfach alles geraubt.” Bir konnte seinen Atem an seinem Ohr spüren. “Mein Leben. Meine Chance. Einfach alles!” Iki musste seine Stimme nicht erheben, um ihm Angst einzuflößen, das musste er noch nie. “Du hast dir dein Leben nicht verdient, du hast es gestohlen!” Man merkte, wie er es nun war, der versuchte sich zu beherrschen. “Du weißt doch noch was passiert ist, damals.” Iki zog einen Stuhl heran, und setzte sich gegenüber von ihm an den Tisch. Er überschlug lässig seine Beine, aber wenn man ganz genau hinsah, konnte man sehen, dass sie zitterten. “Sie hatten mich ausgewählt!”, fuhr er fort ohne seine Antwort abzuwarten. “Sie wollten mich! Und dein kleines Ego konnte es einfach nicht verkraften, dass ich mal in etwas besser bin als du!”, sprudelte es aus ihm heraus. Man konnte das Blitzen in seinen Augen sehen. “Hättest du dich nicht für mich freuen können? Dein Bruder wird das beste Leben haben, er würde von nun an mit einem goldenen Löffel im Mund aufwachsen. Er würde adoptiert werden! Wer weiß, wahrscheinlich hätte ich dir sogar geholfen, dich unterstützt. Was Brüder ebenso tun. Aber du?” Seine Stimme war lauter geworden und seine Finger verkrampften. “Du konntest es einfach nicht fassen, dass die Nummer Zwei jetzt an der Spitze war. Ich wusste schon immer, dass etwas Böses in dir schlummert. Ja, aber dass du deinen eigenen Bruder verrätst?” “Es war ein Unfall!,” unterbrach Bir ihn. “Netter Versuch, aber das glaubst du doch wohl selbst nicht. Wir wissen beide, dass du mich mit voller Absicht und aus purem Hass eingeschlossen hast.” Iki spuckte diese Worte förmlich aus. Er klatschte abfällig. “Der Brand im Waisenhaus kam dir wahrscheinlich gerade recht? Eine effektive Art, jemand unerwünschtes loszuwerden. Zu blöd, dass ich weggerannt bin, um dich zu suchen. Und hier sitzen wir nun. Hier wo alles begann.” Er schaute sich um. “Du erinnerst dich doch noch an dieses Zimmer, oder? Wie oft saßen wir zwei schon auf diesem Stuhl auf dem du da gerade sitzt, weil wir etwas ausgefressen hatten.”, Iki zeigte mit dem Finger hinter sich. “Da hinten wurde das Bild aufgenommen, du hast es doch erhalten, oder?” Bir ging auf die rhetorische Frage nicht ein. “Aber warum jetzt? Können wir darüber nicht reden?” versuchte er Zeit zu schinden, auch wenn er nicht wusste, für was eigentlich. Seine Frau würde ihn wahrscheinlich schon suchen, und auch die Polizei wäre inzwischen informiert, aber es gab keine Aufzeichnungen über seinen Aufenthalt in diesem Waisenhaus, noch hatte er ihr jemals davon erzählt. Die Einzigen, die noch etwas davon wussten, waren seine Eltern, aber die waren in einem Altenheim, und würden bestimmt nicht auf die Idee kommen, die Polizei hierher zu schicken.  “Darüber reden?” fragte er ungläubig. “Du hast mir mein miserables Leben weggenommen und es durch ein noch beschisseneres ersetzt. Du hast mir meine Chance genommen, die ich mir selbst verdient hatte, also verzeih mir, Bruder, wenn ich da jetzt nicht drüber reden möchte.” “Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?”, versuchte er Iki erneut zum Reden zu bringen. “Lustig, dass du fragst.”, antwortete er und lächelte tatsächlich. Obwohl Lächeln hier das falsche Wort war. Eine Fratze ziehen hätte es wohl eher getroffen. “Nachdem du mein Leben auf so clevere Weise gestohlen hast, hatte ich nichts, weniger als ich zum Leben brauchte. Also musste ich mir auf andere Weise mein tägliches Brot beschaffen. Ich fing an zu klauen, Idiot. Dann habe ich den Falschen beklaut, und wurde erpresst für eine Gang zu arbeiten, was aber auch Vorteile für mich hatte. Sie haben mir eine Identität gegeben, unter der habe ich dann Autos geklaut, Leute erpresst und Drogen verkauft. Unter der bin ich dann auch in den Knast gegangen, ich wurde wieder verraten. Schon irgendwie ironisch, nicht?”, auch hier wartete Iki keine Antwort ab. “Nachdem ich mich um die Bande gekümmert hatte,” fuhr er fort,” blieb nur noch eine Person auf der Liste übrig, die ich zur Verantwortung ziehen musste.” “Du bist krank! Du kannst doch nicht einfach andere Leute für dein Versagen verantwortlich machen!” entfuhr es Bir, und er bereute ist sofort. Als er den Schmerz spürte, war das Messer schon wieder in Ikis Tasche. “Was willst du?”, presste er zum letzten Mal hervor. “Ganz einfach,” antwortete er, “ich will das, was mir zusteht. Und als Bonus, für die Jahre, die du mir schon geraubt hast: Rache.” Er lächelte. “Und das bedeutet…?” fragte er vorsichtig. “Ich werde jetzt nach Hause gehen.” sagte Iki. “Okay…?” antwortete Bir fragend. “Oh, sollte ich vielleicht dazu sagen, dass ich jetzt in dein zu Hause gehe? Sie wundern sich bestimmt schon wo du, ich meine, wo ich bleibe. Ich kann es kaum erwarten sie in meine Arme zu schließen, deine Kinder sehen wirklich zuckersüß aus!” “Du bist doch verrückt!” schrie er ihn an, “Sie werden es merken! Sie kennt mich! Sie liebt mich!” “Tut sie das?”, fragte er verächtlich. “Dann freue ich mich schon auf heute Nacht. Ich gehe mir jetzt die Haare färben, dunkelbraun steht uns wirklich ausgezeichnet!” Iki zwinkerte ihm zu, bevor er hinter ihn trat, und alles wieder schwarz wurde…

Danke fürs Lesen und weiterhin viel Spaß!

4 thoughts on “Der Tausch

  1. Hi, tolle Geschichte.
    Mir gefällt auch sehr das offene Ende. Man kann fast nichts dagegen tun, sich weiter vorzustellen, wie es weitergeht – ob der Tausch aufgeht. Die Geschichte hätte meiner Meinung nach sogar Potential, zu einer großen Geschichte zu werden, die da weiter macht, wo die Kurzgeschichte endet.
    Mein Like hast Du!

    P.S. vielleicht hast Du ja Lust, auch meine Geschichte zu lesen : Glasauge

  2. Moin Moin,

    coole Storie…sehr bildhaft geschrieben, tolle Wortwahl und ein Mega Plot! Gefällt mir gut…vor allem der Twist zum schluß ist richtig gut ausgearbeitet. Das offene Ende sorgt dann für den Rest. Vor allem dieser Zwiespalt zwischen den Brüder und die Frage, wer ist denn eigentlich wirklich der Böse? Echt gut…aber am besten finde ich diese umgesetzte Idee. Lass mich raten, genau so etwas hängt in deinem Schlafzimmer..☺️☺️

    „Es war das erste Gemälde seiner Tochter, sie wusste damals wahrscheinlich nicht einmal was sie tat, als sie ihre Hände in die rosa Farbe tauchte und sich bei dem Versuch zu stehen an der Tapete abstütze. Als sie dann endlich aus dem 2-Zimmer-Apartment weg zogen, konnten sie es nicht einfach da lassen. Also rissen sie die Tapete eben einfach ab. Sie hatte noch die restliche Woche immer kichern müssen, wenn sich die Blicke von ihnen streiften. Inzwischen passte rosa zwar nicht mehr in ihr Schlafzimmer, aber darum ging es ja auch nicht.“ 🤗🤗

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  3. Liebe Sarah, sehr originelle Geschichte. Interessant und spannend. Dein Schreibstil ist super. Schön bildhaft. Und ein großartiges Ende! 👏
    Dafür hast Du Dir auf jeden Fall mein ♥️ verdient!

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

  4. Ich fand die Story mega! Dein Schreibstil sagt mir total zu und das offene Ende hat mich noch eine Zeit lang beschäftigt. Da könnte man auf jeden Fall noch mehr rausholen, unbedingt dranbleiben.
    vielleicht hast du ja auch noch Lust bei mir vorbeizuschauen: Gedächtnisschwund

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