Nadine.SpiessDer Tod vergisst nicht

Tia

„Nun möchten wir Abschied nehmen von Rebecca Singer. Geliebte Tochter, Ehefrau, Mutter und Freundin. Ihr Tot ist tragisch und…“
Ich konnte meinen Blick nicht abwenden von der grauen Urne die in einem Meer aus rosa Blüten stand. In diesem kleinen Kästchen steckte also ein ganzes Leben. Das war übrig geblieben von einem Menschen mit Träumen, einer Vergangenheit und einer Zukunft. Ich schluckte. Versuchte das große Bild, dass daneben stand auf einer Halterung, zu ignorieren. Wollte nicht in Beccas Gesicht blicken, dass mich davon herab anlachte, während die Reste dieses Lachens nur wenige Meter entfernt zu Staub zerfallen waren. Bilder der Beerdigung meiner Schwester vor vielen Jahren kam mir in den Kopf, doch ich schüttelte diese ab. Hier ging es um Becca.
Es war surreal. Sie konnte nicht tot sein. Nicht so. Nicht auf diese Art und Weise. Ich versuchte die Details ihres Todes aus meinem Kopf zu scheuchen. Doch so recht wollte es mir nicht gelingen. Entführt. Gefoltert. Ermordet. Diese Worte hatten sich in mein Gehirn gebrannt wie Säure und verfolgten mich jeden Tag, seit ich den Anruf meiner Mutter bekommen hatte. „Rebecca. Becca. Sie ist tot. Es ist so grausam.“

Das zwischen mir und Becca war eine komplizierte Sache gewesen. Ich liebte sie, sowie ich sie gleichzeitig hasste. Und ihr, da war ich mir sicher, war es genauso gegangen. In unserer Kindheit und später auch zu unseren Teenagerzeiten waren wir unzertrennlich. Und ich wusste nicht, wann der Zeitpunkt gekommen war, an dem sich unsere Beziehung zueinander änderte. Wann wir von besten Freundinnen zu einer Zweckgemeinschaft wurden. Wir bezeichneten uns weiter als das, was uns alle anderen sahen: Freundinnen. Unzertrennlich. Und dennoch veränderten wir uns. Erst über zehn Jahr später hatte ich begriffen, dass wir gegen Ende nicht einmal mehr Freunde waren. Uns gegenseitig lediglich von Nutzen waren. Mehr nicht. Und deswegen auch unsere Bindung aufrechterhielten. Wir fühlten uns gemeinsam stark. Brachten uns gegenseitig dazu Dinge zu tun, die wir uns alleine nie getraut hätten. Die wir auch nie im Leben getan hätten. Wir waren eine Einheit und dennoch so unterschiedlich wie zwei Menschen nur sein konnten.
Becca war die Art Mädchen die das Sagen hatte. Sie bestimmte was man zu tun hatte und was nicht. Was man mochte, was man hasste. Welche Art von Musik angesagt, welche Filme sehenswert und welche Menschen gut genug waren um etwas von ihrer kostbaren Zeit abzubekommen.
Ich erinnerte mich noch genau daran wie wir damals in einem Einkaufszentrum waren. Ich brauchte ein neues Kleid für die Party am Wochenende bei irgendeiner Klassenkameradin die wir eigentlich sowieso nicht leiden konnten, was uns aber nicht davon abhielt hin zu gehen und die Party „aufzumischen“ wie Becca es nannte. Ich hatte mich sofort in dieses gelbe Kleid verliebt. Das mit den zarten weißen Blumen darauf und dem Rückenfreien Ausschnitt. Doch Becca hatte damals nur ihre perfekte, kleine Nase gerümpft und den Kopf geschüttelt. Sie schaffe es dabei so angewidert auszusehen, als hätte ich ihr eine stinkige Mülltüte vorgehalten. „Das ist doch nicht dein ernst.“ Sagte sie und klang dabei beinahe belustigt, als wäre ich ein dummes kleines Mädchen ohne jeglichen Sinn für Mode. Am Samstagabend trug ich also ein schwarzes, viel zu enges und zu kurzes Kleid an dem ich die ganze Zeit nur unbehaglich herum zupfte. In dem ich laut Becca jedoch „rattenscharf“ aussah.
Und da war ich. Jemand ohne eigene Meinung der nicht für sich einstand. Ich war unsicher und fühlte mich oft klein und unbedeutend. Wenn ich mit Becca zusammen war, war das anders. An ihrer Seite fühlte ich mich als etwas Besonderes.
Sie die unangefochtene Anführerin und ich die, die ihr das ermöglichte in dem ich zu allem Ja sagte und es genau so machte wie sie es erwartete und ihr auch nach außen hin den Schein gab alles im Griff zu haben. Seltsamerweise hatte es mich zum damaligen Zeitpunkt kaum gestört. Natürlich war es zum Beispiel nicht das Kleid, dass ich mir gewünscht hatte. Doch dieses ‚kleine Schwarze‘ hatte mir dank Becca eine wilde Knutscherei mit einem aus der Oberstufe eingebracht. Wir hatten also beide unseren Vorteil daraus gezogen. Nach unserem Abschluss kam es so wie in den meisten Fällen. Wir gingen getrennte Wege. Ich zog nach München. Ich wollte mich in das Getümmel und die Anonymität der Großstadt schmeißen. Wollte studieren und mein altes Leben hinter mir lassen. Fliehen vor der Vergangenheit und den Problemen zuhause.
Becca hingegen blieb in unserem kleinen Dorf, was mich nicht verwunderte denn sie schien hier rein zu gehören wie ein Möbelstück dass einfach nicht aus der Wohnung zu denken war. Wie der alte Lieblingssessel der eigentlich nicht zu Einrichtung passte, aber fehlte, wenn er verschwinden würde. Weswegen man ihn in der Ecke stehen ließ und ab und an ein Lächeln schenkte.
Anfangs telefonierten wir oft, schrieben uns Briefe und SMS. Doch mit den Monaten und Jahren wurde es schnell weniger. Und bald wurde daraus lediglich eine Karte, einmal im Jahr zum Geburtstag.
Ich erfuhr von meiner Mutter das Becca geheiratet hatte und zwei Jahre später einen Sohn bekommen hatte und zu einer der typischen Hausfrauen wurde, die wir früher mit sechzehn Jahre so verachtet hatten und zu denen wir nie werden wollten. Doch die Zeiten änderten sich und wir entwickelten uns weiter. Und auch wenn wir in den letzten Jahren kaum Kontakt hatten und unsere Freundschaft gegen Ende eher einer Bekanntschaft glich, traf mich ihr Tod umso stärker. Als der Anruf meiner Mutter kam hatte ich danach mindestens eine halbe Stunde auf meinem Küchenboden gesessen und geweint. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl mit Beccas Tod einen Teil meiner Vergangenheit verloren zu haben. Als wäre er mit ihr gestorben und nun zusammen in dieser Urne, die soeben in den Boden gelassen wurde.
Die Beerdigung war also zu Ende und somit Beccas Leben. Etwas das ich immer noch nicht begreifen konnte. Während die Trauernden Richtung Ausgang schoben ließ ich mich in der großen schwarzen Welle voller Traurig mitgleiten. Spürte kaum den ein oder anderen eingefangenen Rippenstoß, lediglich die Trauer die tief in meiner Brust saß.

„Mama?“ Ich klopfte sachte an der Schlafzimmertüre und streckte meinen Kopf hinein. Sie lag in ihrem Bett und wirkte zerbrechlich zwischen all den großen Kissen. Leise betrat ich den warmen Raum und trat an ihr Bett. Sie schien blass. Blasser als sonst und ich fragte mich ob sie heute schon ihre Medikamente genommen hatte. Sie schien zu schlafen und ich wollte sie nicht wecken. Sie brauchte ihren Schlaf. Schon als ich noch kleiner war, hörte ich sie nachts aufstehen und unruhig durch das Haus laufen wie ein Gespenst. Das hatte sich bis heute nicht geändert. Ich stellte das Tablett mit der Suppe und dem Tee auf ihren Nachttisch. Ein schlechtes Gewissen beschlich mich, als ich sie so daliegen sah. Seit ich in München lebte, sah ich sie viel zu selten. Auch wenn zwischen uns nur zwei Stunden Autofahrt lagen war ich viel zu wenig da. Doch seit ihrem Klinikaufenthalt hatten wir uns immer weniger zu sagen. Auch mein Vater kam nur selten zu Besuch. Doch ich konnte es ihm nicht verübeln. Es war zu viel passiert. Alles hatte sich geändert. Sie hatte sich zu stark geändert. Ich nahm mir vor sie wenigstens wieder öfters anzurufen. Auch wenn ich im Grunde wusste, dass es am Ende wieder nur leere Versprechungen an mich selbst waren, um mein Gewissen zu beruhigen. Ich strich über ihre Hand, die noch kühler waren als meine, obwohl ich es war die eigentlich eine Stunde lang in der Kälte des Regens auf einem Friedhof gestanden hatte. Vorsichtig nahm ich eine weitere Decke aus ihrem Schrank und breitete sie über ihr aus. Dann schlich ich wieder leise aus dem Zimmer um sie nicht zu wecken.

Im Badezimmer drehte ich den Wasserhahn auf und schlüpfte in Vorfreude auf die warme Dusche aus dem schwarzen Mantel. Als dieser jedoch auf den Boden glitt hielt ich kurz inne. Was war das? Ich hob den Mantel nochmals hoch und sah darunter etwas auf dem Boden liegen. Ein kleiner silberner Gegenstand, umwickelt mit einem schmalen weißen Papier. Es schien mir aus der Manteltasche gefallen zu sein. Ich konnte mich aber nicht daran erinnern es dort rein gesteckt zu haben. Ich nahm es hoch und wickelte das Papier davon ab. Der Gegenstand entpuppte sich als eines dieser aufklappbaren Handys. Was hatte das zu bedeuten? Was hatte ein fremdes Handy in meiner Tasche zu suchen? Hatte ich vielleicht den falschen Mantel an? Andererseits konnte ich mich nicht daran erinnern ihn auf der Beerdigung abgelegt zu haben. Ich nahm das Papier, in das das Handy gewickelt gewesen war, und drehte es um. Darauf stand nur ein Satz: Bist du bereit für das Ende der Geschichte?
Ich las diesen Satz nochmal. Und nochmal. Was für eine Geschichte? Was für ein Ende?
Ich nahm das Handy in die Hand und klappte es auf. Es war an und besaß keinen Code zum entsperren, so dass ich mich direkt im Start Menü befand. Was sollte das? Ich öffnete das Telefonbuch. Es waren keinerlei Nummern eingespeichert. Kein ‚Mama‘ oder ‚Schatzi‘ oder sonst einen Namen der Aufschluss gab, wer der Besitzer dieses Mobiltelefons war, oder wie ich ihn erreichen konnte. Ich schloss das Telefonbuch und ging in die Nachrichten. Auch hier war der Ordner leer. Keine eingegangenen Nachrichten. Im Anrufverzeichnis dasselbe. Das Handy schien leer. Aber in welchem Zusammenhang stand es mit der Nachricht auf dem Stück Papier? Und wer hatte es mir in den Mantel gesteckt? Und wann? Und wieso? Ich startete noch einen letzten Versuch und wurde tatsächlich in der Bildergalerie fündig. Das Handy zeigte fünf Dateien an. Vier Bilder, ein Video. Neugierig klickte ich auf das erste Bild und erstarrte. Sollte das ein schlechter Scherz sein? Wenn ja war er definitiv geschmacklos und nicht komisch. Es zeigte mich am Grab von Becca. Es musste also erst heute Mittag entstanden sein. Auf der Beerdigung. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Wem auch immer das Handy gehörte, er schien mich beobachtet zu haben. Und das war mehr als nur gruselig. Allerdings konnte dies auch bedeuten, dass der Besitzer des Handys es mir dort zugesteckt hatte. Ich dachte an die Welle an trauernden Menschen die sich durch den Ausgang gekämpft hatte. Es wäre dort ein leichtes gewesen mir das Handy in den Mantel gleiten zu lassen. Aber wieso? Was wollte die Person mir damit sagen? Ich wischte mit dem Daumen über das Display und das nächste Bild öffnete sich. Wieder stockte ich. Auf dem Display waren zwei junge Mädchen zu sehen. Eine der beiden hatte rotgefärbte Haare, Eisblaue Augen und eine perfekte kleine Nase. Becca! Sicherlich elf oder zwölf Jahre jünger als jetzt. Doch es war unverkennbar sie die mich von dem Bild her anstrahlte. Daneben, das junge Mädchen mit den dunklen langen Haaren und den gewöhnlichen braunen Augen die zu Becca aufsah, war ich. Deutlich jünger mit weniger Lachfalten um die Augen aber es war ganz eindeutig mein Gesicht. Was hatte das zu bedeuten? Was suchte dieses Bild auf einem fremden Handy? Mein Finger wischte abermals über das Display. Mit einem kleinen Aufschrei ließ ich dieses zu Boden fallen und hielt mir die Hand vor dem Mund. Nein. Das musste eine Fotomontage sein. Es konnte nicht echt sein! Denn wäre es das dann… Ich wollte den Gedanken nicht zu Ende bringen und starrte auf das silberne Gerät, dass zum Glück, mit dem Display auf den Boden zeigte. Nein. Nein. NEIN!
Mein Herz begann zu rasen. Ich versuchte durchzuatmen. Sicherlich war es ein dummer Scherz. Es konnte nicht echt sein! Mit zitternden Fingern hob ich das Handy wieder auf und drehte es mit dem Display nach oben. Die Frau die mich darauf mit Schmerzverzerrtem Gesicht ansah war grauenvoll zugerichtet worden. Die Lippe war aufgeplatzt. Dickes Blut quoll daraus hervor. Ein tiefer Schnitt zog sich über die Wange. Die Augen waren blutunterlaufen. Eines, das linke, war derart zugeschwollen, dass sie nicht mehr hindurchsah. Das andere starrte weitaufgerissen in die Kamera. Die perfekte, kleine Nase war deutlich gebrochen und Blutverschmiert. Es war Becca. Und wenn dieses Foto echt war, wenn es keine Täuschung war, dann bedeutete es dass ich das Beweisfoto von Beccas Folterung in den Händen hielt. Es bedeutete dieses Foto gehörte dem Mörder. Mir wurde speiübel. Und wenn ich auch nur einen Zweifel noch daran hatte, dass das Foto echt war und nicht nur äußerst gut bearbeitet, wurde er mit dem nächsten Fingerwisch zunichte gemacht. Das Video startete automatisch und zeigte Becca die wimmernd in die Kamera blickte. „Es tut mir leid. Bitte. Du musst mir glauben. Ich wollte das niemals.“ Rief sie und Blut quoll weiter aus ihrem Mund. Etwas, außerhalb meines Sichtbereiches hinter der Kamera, musste geschehen sein denn Beccas weniger geschwollene Auge weitete sich panisch und es sah aus als würde es jeden Moment aus ihrem Kopf springen ehe ein Markerschütternder Schrei aus ihrem weit aufgerissenem Mund drang und das Video abbrach.
Ich übergab mich. Fünf Minuten später lag ich auf dem kalten Badezimmerboden, die heißen Wangen auf die kühlen Fließen gepresst, die zitternden Finger um das silberne Handy geschlossen. Mein Herz pochte wie wild gegen meine Brust. Ich ignorierte den immer noch laufenden Duschkopf der das Zimmer bereits mit dichtem Wasserdampf gefüllt hatte und versuchte die Bilder aus meinem Kopf zu bekommen. Doch sie hatten sich hinein gebrannt. Wollten mich nicht mehr loslassen. Als ich die Augen wieder öffnete versuchte ich durch zu atmen doch ich konnte mich nur langsam beruhigen. In Ordnung. Ich besaß also ein Handy auf dem, Bilder von mir und Becca waren. Und ein Bild, sowie ein Video, dass unmittelbar vor Beccas Tod entstanden sein musste. Das Monster, wie ich diese Person fortan in meinem Kopf nannte, musste es mir also absichtlich zukommen lassen, weil es mir etwas damit sagen wollte. Doch was? Dass ich die nächste war? Oder wollte es nur, dass ich unter diesen Dateien litt? Und warum ich? Oder Becca? Ich versuchte nicht in meiner Angst zu versinken und klappte das Handy wieder auf. Eine Datei war noch nicht geöffnet. Und ich hatte Angst zu sehen was mich erwartete. Mit zittrigen Fingern tippte ich auf das letzte Bild. Dieses Mal war es mit einem Bildbearbeitungsprogramm bearbeitet. Doch das machte den Fund nicht weniger grausam. Wieder war es ein Bild von mir. Eines das ich als Profilbild bei irgendeiner Social Media Plattform verwendet hatte. Doch um meinem Hals befand sich der Strick eines Galgens und über meinem Gesicht eine Zielscheibe. Darunter standen die Worte Bereit für das Ende der Geschichte? Ich schluckte. War das der Grund für das Handy in meiner Tasche? Wollte das Monster mir damit sagen dass ich die nächste war? Tränen der Angst schossen mir in die Augen. Was ging hier nur vor sich? Warum hatte jemand Becca getötet und wollte nun auch mein Leben auslöschen? Was mussten wir schreckliches verbrochen haben? Ich starrte auf das Display mit meinem bearbeiteten Gesicht. Ich musste damit zur Polizei. Doch was sollte ich ihnen sagen? Auch wenn es Beweise waren, gaben sie keinerlei Aufschluss über das Monster. Sie würden sicherlich das Handy behalten und nichts dagegen unternehmen. Andererseits konnte ich doch auch nicht tatenlos rumsitzen und warten, dass das Monster zuschlug oder? Meine Gedanken überschlugen sich geradezu und es dauerte einen Moment bis ich das Ping Geräusch zuordnen konnte, das mich zurück in die Gegenwart gerissen hatte. Es stammte von dem Handy. ‚1 neue Nachricht‘ stand dort, quer über dem Display geschrieben. Und ich war mir in diesem Moment sicher, wenn ich sie öffnete würde ich es nicht mehr aufhalten können. Doch konnte ich das überhaupt noch? Ich holte tief Luft und öffnete die Nachricht.

Das Monster

Das Monster blickte amüsiert auf das Handydisplay und wünschte sich in diesem Moment Tias Reaktion sehen zu können. Ihren Gesichtsausdruck während ihre Augen jedes Bild einzeln aufnehmen und sich in ihren Kopf prägten, so wie sie es damals bei ihm getan hatten. Damals. Es kam ihm vor als wäre dies noch in einem anderen Leben gewesen. Dennoch konnte es diesen Anblick, diese Bilder, diese Gefühle niemals vergessen. Niemals überwinden. Den Schmerz dessen niemals vergessen. Und es würde dafür sorgen dass es Tia genauso ging.
Tu das nicht. Lass sie in Ruhe. Meldete sich die kleine nervige Stimme zu Wort die niemals gänzlich aus seinen Gedanken verschwand und seit damals täglich Diskussionen mit ihm führte.
„Ach sei still.“ Fauchte das Monster und sah weiterhin auf das Display. Gespannt darauf ob Tia den Mut fand zu Antworten. Wieso tust du gerade ihr das an? fragte die Stimme weiter in seinem Kopf. Doch das Monster ignorierte es.
Es war der Moment gekommen die Sache ins Rollen zu bringen. Es wollte nicht länger seine Zeit damit verschwenden zu warten. Es hatte zehn Jahre auf diesen Tag gewartet. Hatte ihn bestens durchdacht. Alles geplant. Wollte der traurigen Geschichte endlich ein Ende bereiten. Becca war eine harte Nuss gewesen. Das musste es zugeben. Bis zu ihrem Tod blieb sie das bockige, arrogante Biest, dass sie war. Ja, schlussendlich hatte auch sie um Vergebung gebeten und gewimmert wie leid es ihr tat, doch nicht ohne dem Monster dabei zu sagen, dass es in der Hölle schmoren sollte. Becca hatte es nie verstanden. Sie hatte nie begriffen was sie so vielen Menschen angetan hatte. Tia würde da anders sein. Das wusste es. Zu gut glaubte das Monster sie zu kennen. Und es tat ihm leid gerade dieser jungen Frau zeigen zu müssen, dass es hierfür keine Vergebung gab. War sie doch so wichtig für es. Dass sie ebenso für ihre Taten bezahlen musste wie zuvor Becca, und dieser Junge der noch immer auf dem Grund eines Sees trieb, tat ihm leid. Doch es musste sein. Da waren sich auch die Stimmen in seinem Kopf einig. Sie alle hatten zu verantworten was geschehen war und sie alle würden die Rechnung begleichen. Auch das Monster selbst.
Du bist wahnsinnig. meldete sich die Stimme in seinem Kopf zurück. Doch das Monster zuckte nur mit den Schultern. Und wenn schon. Es war keine neue Erkenntnis. Es wusste dass es durch all das Leid und die Qual all die Jahre hinweg die es zu erleiden musste den Verstand verloren hatte. Doch das scherte es nicht. Denn es mache die Dinge nicht besser. Änderte sie nicht. Gab ihnen keinen neuen Sinn.
Das Monster tippte die erste Nachricht in das Handy und lehnte sich zufrieden zurück als die automatische Meldung kam, dass Tia die Nachricht erhalten hatte. „Los Fischchen, spring in das Netz.“ Kicherte es und sah auf das Display. Tatsächlich brauchte Tia weitaus weniger Zeit zu antworten wie Becca damals. Diese hatte sich stur verweigert die Zeichen zu erkennen bis das Monster sie ihr so deutlich machte, dass sie sie nicht weiter ignorieren konnte. Tia war anders. Ganz anders. Das mochte es schon immer an ihr, doch das rettete sie auch nicht.
Natürlich drohte Tia in der Nachricht damit zur Polizei zu gehen und es hätte das Monster auch verwundert hätte sie das nicht getan. Doch eine schnelle Antwort von ihm, ob sie sich sicher sei, denn es könnte Tias Mutter schneller töten als ihr lieb war kehrte diese Drohung sofort vom Tisch. Das zog immer. Schon bei Becca als es damit drohte ihrem Sohn eines seiner kleinen Löckchen zu krümmen. Ebenso bei dem Jungen dessen Vater als Druckmittel diente. Und hier war es nicht anders. Die Familienkarte zog immer.
Was willst du? Die Nachricht von Tia kam schneller als erwartet und das Monster musste sich erst einmal nachdenklich am Kopf kratzen. Es wollte Rache. So viel stand fest. Es wollte, dass sie alle dieses Leid verspürten, dass es all die Jahre in sich trug. Natürlich würden sie nie das ganze Ausmaß erkennen. Aber sie sollten es versuchen. Doch was wollte es im Moment? Sie noch zappeln lassen? Oder doch den ersten Stein ins Rollen bringen?
Ich will dass du es siehst, das Ende der Geschichte.
Es hatte sich entschieden. Es war bereit dafür. Bald wurde dieses Kapitel und somit das ganze Buch geschlossen. Das Buch dieser Qualen, geschrieben aus dem Blut eines toten Mädchens. Eines Mädchens das so unschuldig war und nicht verdient hatte, was damals geschah.
Verärgert blickte das Monster auf das Mobiltelefon in seiner Hand. Weswegen brauchte sie so lange zum Antworten? War es etwa nicht deutlich genug gewesen?
Wie?
Ach, für diese drei Buchstaben und ein Satzzeichen hatte Tia so lange gebraucht? Was trieb sie eigentlich nebenbei? Das Monster kaute nachdenklich auf seiner dürren Lippe. Tia hatte Becca eines schon immer voraus gehabt. Sie war gerissener. Dachte mehr nach. Auch wenn sie es vor zehn Jahren wohl noch nicht so ausgiebig getan hatte wie sie hätte müssen. Aber dennoch war sie nie eines der Mädchen gewesen die blindlings in eine Situation stolperten. Auch wenn es auf den ersten Blick stets so wirkte als wäre die junge Frau Becca immer nur wie ein hirnloser Lemming hinterhergerannt, so wusste das Monster, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Vielleicht wusste es dies als einziges. Durch die seltenen Gespräche die sie gemeinsam geführt hatten.
Und aus diesem Grund musste das Monster sogleich handeln. Es hatte lange genug seine Krallen gewetzt und seine Zähne gespitzt. Jetzt war es an der Zeit zum Sprung anzusetzen. Also schickte es die letzte Nachricht hinaus, die Tia von ihm bekommen würde und stand auf um das zu Ende zu bringen was diese beiden Mädchen damals ins Rollen brachten. Es war bereit dafür.

Tia

Ich wusste, um in dieser Sache überhaupt eine Chance zu haben, musste ich mich verteidigen können. Musste bereit sein für den nächsten Schritt. Denn was ich Becca voraus hatte, war die Tatsache, dass ich wusste was mich erwartete. Keine Gnade. Egal welche Gründe das Monster hierfür hatte, es würde sicher keine Gnade zeigen. Also kramte ich zuerst in meinen ganzen Schränken und Kisten, bis ich das gefunden hatte wonach ich suchte. Es war keine Pistole und auch kein Klappmesser, wie sie in solchen Situationen in Filmen zum Einsatz kamen. Aber es war wenigstens eine kleine, handliche Chance mich wenigstens etwas zu verteidigen. Ein gewöhnliches Pfefferspray. Nachdem das Monster mir deutlich gemacht hatte, dass ich keine Wahl hatte als zu tun was es verlangte, wusste ich, dass ich nicht davor wegrennen konnte. Die Drohung gegenüber meiner Mutter war ausschlaggebend gewesen. Egal was zwischen uns vorgefallen war, ich wollte das Leben meiner Mutter auf keinen Fall riskieren. Wir standen uns nie sehr nahe. Nach einigen Dingen die in meiner Jugend schiefgelaufen waren, noch weniger als zuvor. Doch ich liebte sie und würde nicht zulassen, dass dieses Monster ihr etwas antat. Niemals. Also war ich auf mich alleine gestellt.
Ich war bereit dazu meine nächste Frage zu tippen.
Wie?
Ich saß auf meinem Bett und kaute nervös auf meiner Unterlippe. Es war seltsam. Ich hatte es tatsächlich geschafft meine Angst in den Hintergrund zu rücken und mich ganz und gar auf dieses Handy und die Person auf der anderen Seite der Leitung zu fokussieren. Ich brauchte einen klaren Kopf. Meine Gefühle hatten hier keinen Platz.
Komm zum Schrottplatz.
Was für eine banale Nachricht. Nach den nahezu poetisch klingenden Texten über ein Ende der Geschichte hatte ich mit weitaus mehr gerechnet. Ich dachte nach. Der Schrottplatz. Ein idealer Platz. Er lag etwas abgelegen. Und zu dieser Uhrzeit, und erst recht bei diesem Wetter, war er sicher verlassen und somit der ideale Treffpunkt. Wurde dort damals nicht Beccas Leiche gefunden? Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich versuchte die Bilder von Beccas entstelltes Gesicht aus meinen Gedanken zu verbannen. Ich brauchte jetzt einen klaren Kopf.
Ich schlüpfte schnell in Jeans und Pullover, Sneakers und meinen Mantel in dem ich dieses Todbringende Mobiltelefon gefunden hatte. Dann schlich ich auf leisen Sohlen am Schlafzimmer meiner Mutter vorbei. Vor der Türe blieb ich kurz stehen und lauschte. Es war kein Laut in dem Zimmer dahinter zu hören und ich beschloss den Brief, den ich in der Eile noch geschrieben hatte vor ihrer Türe abzulegen. Im Idealfall las sie ihn erst morgen früh und ich hoffte bis dahin war alles vorbei. Wenn ich nur geahnt hätte wie recht ich damit hatte, ich hätte sicherlich nicht den Mut gehabt zu gehen. Ich lehnte den kleinen Briefumschlag in dem ich all das reingeschrieben hatte, dass ich in all den Jahren mir nie getraut hatte zu sagen, vor ihrer Zimmertüre ab und schlich die Treppen hinunter in den Flur. Ich tastete mich im Dunkeln voran bis zur Türe. Die Hand an der Türklinke hielt ich inne. Moment. Hatte ich nicht einen Schatten im Augenwinkel gesehen? Hatte sich dort etwas bewegt? War das Monster vielleicht hier? Was wenn es seine Drohungen bezüglich meiner Mutter Wahr machte? Aber ich tat doch was es von mir verlangte. Ich hörte das pochen meines Herzschlags in meiner Brust und wollte sofort auf dem Absatz kehrtmachen und die Stufen wieder hoch rennen um nach ihr zu sehen, doch da traf mich der Schmerz an meinem Kopf mit einer derartigen Wucht, dass ich nach hinten überkippte und die Dunkelheit mich überrollte und unter sich begrub wie eine Lawine.

Die Dunkelheit war zäh und kalt und ich hatte das Gefühl immer weiter in ihr zu versinken. Erst allmählich spürte ich meinen Herzschlag der wie wild gegen meine Brust hämmerte als wolle er sich so einen Weg aus meinem Körper bahnen. Spürte die Kälte die über meine Haut strich und mich zittern ließ. Den Dumpfen Schmerz in meinem Kopf der wie ein Presslufthammer gegen meine Schädeldecke wummerte. Etwas sehr Warmes, das im starken Kontrast zu der Kälte um mich herum stand, schien sich einen Weg über mein Gesicht zu bahnen. Die Dunkelheit schien sich zu lockern. Verlor etwas von der Schwere. Ich glitt langsam an die zähe Oberfläche zurück. Ein plötzlich eintretender unsäglicher Schmerz riss mich endgültig daraus empor. Es dauerte einen kurzen Moment bis ich begriff, dass der schrille Schrei den ich hörte aus meiner eigenen Kehle drang. Als ich mir dessen Bewusst wurde, schloss ich den Mund wieder und unterdrückte jeglichen Laut auch wenn der Schmerz sich weiterhin durch mich hindurch bohrte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn das erste was ich sah als sich meine Augen an das grelle Licht der Neonleuchten über mir gewöhnt hatten, war das kleine Küchenmesser das in meinem Oberschenkel steckte. Instinktiv versuchte ich danach zu greifen um es heraus zu ziehen. Doch meine Hände bewegten sich kein Stück weit. Der Strick, der sie zusammen gebunden hinter meinem Rücken hielt, rieb sich nur fester in meine Haut. „Keine Angst. Ich habe nicht die Hauptschlagader getroffen die dich binnen weniger Minuten verbluten lassen hätte. Aber irgendwie musste ich dich ja wecken.“ Hörte ich eine Stimme aus einer der dunklen Ecken des Raumes. Ich versuchte etwas im Schatten zu erkennen, doch die Neonröhren blendeten meine immer noch Lichtempfindlichen Augen. Ich starrte also wieder auf das Messer in meinem Bein und dickes, rotes Blut durchdrängte meine Hose und tropfte auf den staubigen Steinboden. Endlich löste sich das Monster aus dem Schatten und trat in das grelle weiße Licht.
Was zur Hölle…? Nein! Wären meine Hände nicht gefesselt gewesen hätte ich mir erst einmal in den Augen reiben müssen. Das war nicht möglich!
Das Monster hatte nun endlich einen Namen. Und ein Gesicht. Das ich nur zu gut kannte. Doch das konnte nicht sein! Das war unmöglich.
„Ich sehe du bist überrascht.“ Lächelte die Frau und ging vor mir in die Hocke. „Ich… Aber… Wieso?“ stammelte ich und das Messer in meinem Bein schien nicht länger von Bedeutung.
Seltsamer weise war die einzige Frage in diesem Moment, die mich beschäftigte, wie sie es mit ihrer zierlichen und kleinen Gestalt geschafft hatte erst Becca und dann mich zu verschleppen, wo wir ihr körperlich doch weitaus überlegen waren. Andererseits was hatten wir schon bewusstlos und dann gefesselt für eine Gefahr dargestellt? In dem kalten weißen Licht hoben sich ihre Knochen noch deutlicher unter der dünnen, pergamentähnlich wirkenden Haut ab, die sich unteranderem über ihr Gesicht spannte. Sie erinnerte mich dadurch an einen Totenschädel aus einem Horrorfilm. Die weißen Haare waren so licht, dass man die Haut darunter nun deutlich sehen konnte. Die spitze Nase stach aus der Mitte ihres Gesichtes hervor. Ihre braunen Augen lagen tief in den Augenhöhlen, dunkle Schatten darunter. Ich hatte sie nie so deutlich gesehen wie jetzt in diesem Moment. Nie so deutlich gesehen wie das Leben seine Spuren hinterlassen hatte. Doch auch wenn sie recht grotesk wirkte, war dies nicht das was mir eigentlich Angst einjagte und mich instinktiv zurückweichen ließ. Es war der Blick mit dem sie mich ansah. Der Hass der sich in ihren stumpfen Augen wiederspiegelte. Die Abscheu mit der sich mich anblickte als wäre ich ein widerliches Insekt. Der pure Wahnsinn den sie nicht abzuschütteln vermochte. Aus der einst unscheinbaren netten Frau von nebenan, war ein verrücktes und abgekämpftes Bild ihrer selbst geworden. Seelisch sowie körperlich zerbrochen.
Mein Gehirn begann allmählich seine Arbeit wieder aufzunehmen auch wenn der Schmerz weiterhin versuchte den meisten Platz zu beanspruchen. Warum hatte ich nie richtig hingesehen? Erkannt welche Gefahr von ihr ausging?
„Wieso….?“ Versuchte ich einen der vielen Gedanken zum Ausdruck zu bringen, doch ich wurde sofort mit einem genervten Zungenschnalzen unterbrochen. „Wieso? Wieso? Wieso?“ äffte sie mich nach und Wut verzerrte ihr Gesicht. „Das ist das schlimmste daran Tia. Dass du und Becca und alle anderen nicht einmal wissen wieso. Insbesondere Du!“ Brüllte sie und ihre Hand packte mich an meinem Kinn mit einer überraschenden Kraft und zwang mich dazu ihr direkt ins Gesicht zu sehen. „Wieso willst du wissen?“ zischte sie. „Weil du meine Tochter auf dem Gewissen hast. Du bist schuld daran, dass Melory tot ist. Du und Becca und Till. Und eigentlich noch so viele mehr.“ Spuckte sie die Worte aus als wären sie Säure. Sie ließ mein Kinn los, umfasste den Griff des Messers und drückte es noch weiter nach unten. Ich schrie auf und der Schmerz in meinem Bein schoss in sämtliche Regionen meines Körpers. Einen kurzen Moment lang hatte ich das Gefühl der Dunkelheit wieder ein Stückweit näher zu sein. Doch dieses Mal schien sie mir wie einer Art Erlösung gleich zu kommen. Doch das wollte Ruth offenbar nicht zu lassen und sie gab mir eine kräftige Ohrfeige die meinen Kopf abermals zum Dröhnen brachte und die Dunkelheit verschwinden ließ.
„Aber… Melory hatte sich umgebracht. Sie hat sich das Leben genommen. Sie…“ brachte ich ihr kraftlos entgegen und dachte an das unscheinbare Mädchen. Ich erinnerte mich daran wie sie immer wieder um mich und Becca herumgeschlichen war. Versuchte Zeit mit uns zu verbringen. Doch Becca sah in ihre nur einen dummen Streber die nicht in unser Leben passte. Der unseren Ruf der beliebten Mädchen ruinieren würde. Besser gesagt ihren Ruf in den ich auch nur passte solange ich tat was sie verlangte. Doch damals scherte es mich nicht. Mir war nur wichtig dazuzugehören. Offenbar genauso wie Melory. Doch zu welchem Preis? „Was würden die anderen denn denken, wenn wir irgendwelche dummen Streuner aufnehmen würden? Das kommt überhaupt nicht in Frage.“ Ich konnte Becca jetzt noch vor mir sehen, wie sie auf der Mauer gesessen hatte. Ihre langen Beine elegant übereinandergeschlagen, an einer Zuckerfreien Dose Cola nippend und zu Melory rüber sehend, die etwas abseits unter einem Baum saß und immer wieder sehnsüchtig zu uns blickte. Ich hatte damals Mitleid mit ihr. Ich verstand nicht weshalb sie so dringend zu uns gehören wollte. Beccas Freundin sein wollte. Doch es war ihr scheinbar so wichtig, dass sie vor nichts zurückschreckte. Etwas das Becca ausnutzte und anfing sich einen Spaß daraus zu machen ihr dämliche Aufgaben zu geben und damit ihre Hoffnung zu schüren, wenn sie diese erfolgreich erledigte, würde sie irgendwann in unseren Kreis aufgenommen werden. So ließ sich Melory dazu verleiten dumme Dinge zu tun. Anfangs versuchte ich es ihr noch auszureden. Doch nach dem sie mir mehrfach sagte ich hätte doch nur Angst sie könne mir den Platz an Beccas Seite streitig machen, lies ich sie machen. Sollte sie es selbst auf die harte Tour lernen. Ich machte mir irgendwann nicht weiter Gedanken darum. Schließlich handelte es sich um kleine Gefallen die nicht weiter schlimm waren und Melory konnte jederzeit damit aufhören diese zu tun, wenn sie wollte. Und es begann auch mir Spaß zu machen meine Macht gegenüber ihr auszunutzen. Es war amüsant.
Und dann kam diese Party. Und Becca ging zu weit. Danach war alles anders. Melory hielt sich von uns fern. Versuchte uns aus dem Weg zu gehen. Sprach kaum noch ein Wort. Ein halbes Jahr später war sie Tod. Hatte sich das Leben genommen.
„Melory vergötterte euch. Zugegeben Becca mehr wie dich, das ließ ihr bei dem ganzen auch den Vortritt.“ Wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und starrte auf das Lächeln. Wann hatte sie zuletzt so richtig gelächelt vor Glück? Ich wusste es nicht mehr. „Weißt du wie es ist sein Kind so zu sehen? Ich hatte ihr ständig gesagt sie solle euch aus dem Weg gehen. Dass ihr Gift für sie seid. Denkst du ich habe nicht mitbekommen weswegen sie plötzlich schlechte Noten bekam? Oder warum sie ein Piercing hatte, obwohl sie immer ein Gegner davon war?“ Ich hatte zunächst nicht bemerkt wie diese Tasche herangezogen wurde, in der sie herumwühlte. Zu sehr war mein Gehirn damit beschäftigt zu verarbeiten, was sich vor meinen Augen abspielte. Warum sie? Tränen traten mir in die Augen. „Glaubst du ich wusste nicht wer sie auf solche Schrecklichen Ideen brachte? Doch ich war machtlos. Melory war besessen davon euch zu beeindrucken und ich konnte nichts dagegen tun.“ Etwas Langes kam aus der Tasche zum Vorschein und erst als sie sich hinstellte erkannte ich, dass es ein massiver Baseballschläger war. „Sie war mein Baby und ihr habt sie zerstört. Ihr habt aus einem lieben, netten und unschuldigen Mädchen eine leere Hülle gemacht. Eine leere Hülle ihrer selbst. Und dann war da diese Party.“ Sie hielt inne und es wirkte als würde sie durch mich hindurchsehen, während sie in einer Erinnerung schwelgte an der sie mich nicht sofort teilhaben lassen wollte. „Diese Party an der ihr mein Mädchen endgültig zerstört habt und ihren Tod besiegelt.“ Diese unbändige Wut trat zurück in ihre dunklen Augen. Dann schlug sie zu.

Angsterfüllte, weitaufgerissene braune Augen die mich flehend anstarrten. Zitternde Lippen die leise um Hilfe baten ehe sie in einen Stummen Schrei übergingen nach dem sich ein massiver Körper über sie schob und in sie Eindrang. Die Leere, die ihren Blick danach erfüllte.
Als ich mit flatternden Liedern die Augen wieder öffnete wusste ich nicht was schlimmer war. Die beinahe unerträglichen Schmerzen die meinen gesamten Körper ausfüllten oder die Erinnerung die sich soeben einen Weg zurück in mein Bewusstsein gebahnt hatten, nachdem ich solange gebraucht hatte sie zu verdrängen. Ich versuchte erst gar nicht mich aufzurichten. Ich spürte, dass mein Arm mehrfach gebrochen war. Ebenso einzelne Rippen. Mehrere Finger. Das Messer steckte immer noch in meinem Bein. Ich konnte kaum die Augen öffnen, so geschwollen waren sie. Ich schmeckte das Blut auf meinen Lippen und wusste nicht ob es aus meinem Mund quoll oder von der Wunde an meiner Schläfe stammte. Und es war mir eigentlich auch egal. Denn was ich zu hören bekommen hatte, war wahr. Wir, Becca, ich und auch Till, waren schlussendlich schuld an Melorys Tod. Die Erinnerungsfetzen wirbelten durch meinen Kopf. Sie waren mit jedem Schlag der auf mir niedergeprasselt war zurückgekommen. Die Party auf der ich dieses dumme schwarze Kleid angehabt hatte das Becca ausgesucht hatte. Melory die so verloren gewirkt hatte, alleine unter all den Leuten die nur Verachtung oder Gleichgültigkeit für sie übrig hatten. Ich erinnerte mich daran wie ich Becca sagte, dass es eine dumme Idee sei, Melory weiter in der Hoffnung zu lassen sie könne so etwas wie eine Freundin für sie werden. Becca hatte mir nur ins Gesicht gelacht und gesagt sie könne ja gerne darüber nachdenken ihr meinen Platz an ihrer Seite zu geben. Ich war danach still gewesen. Hatte dabei zugesehen wie sie Melory mit zu viel Alkohol abfüllte. Reichte ihr auch den ein oder anderen Becher. Hatte dabei zugesehen wie sie bei Wahrheit oder Pflicht darüber gelacht hatte das Melory noch Jungfräulich gewesen war. Hatte nichts gesagt als Becca Vorschlug doch ein bisschen Erfahrungen mit Till zu sammeln denn sie konnte niemand an ihrer Seite gebrauchen der noch so grün hinter den Ohren war. Hatte sie nicht aufgehalten als Till Melory an der Hand nahm und wegführte, während ihre Augen sich mit Angst füllten und die anderen Party Gäste grölend Applaudierte. Hatte selbst geklatscht und gelacht. Und als ich Till erwischte wie er sich ihr Aufzwang, auf der Wiese im Garten hinter irgendeinem Gebüsch zu dem ich nur gegangen war um mich zu übergeben, hatte ich nichts getan um zu verhindern, dass Melory diese Grausamkeit erleben musste und danach wie ein Stück Müll liegen gelassen wurde. Ich hatte all die Wochen zuvor zugesehen wie Becca sie Stück für Stück auseinandernahm und ihr auch noch dabei geholfen. Und war nicht für Melory da, die spätestens nach der Party, die Scherben ihres Selbst zusammenkehren musste. Ich wusste sie war danach nicht mehr Dieselbe. Ich sah es in ihrem leeren Blick. Daran wie sie sich von diesem Moment an noch mehr zurückzog. Wie sie immer dürrer und kränker wurde und sich niemand darum zu scheren schien. Ich nahm mir einmal vor mit ihr zu reden. Ihr zu sagen, dass es besser werden würde mit der Zeit und ich für sie da wäre. Doch etwas hinderte mich daran auch wenn ich bis heute nicht wusste was es war. Eines Morgens fand man Melory mit aufgeschnittenen Pulsadern im Badezimmer in einer riesigen Lache aus Blut. Sie, die diese Erinnerungen in mich zurück geprügelt hatte, musste genauso wie ich zusehen wie dieses Mädchen zugrunde ging. Nur weil sie wo dazu gehören wollte. Wir beide. Weil man sonst ein Niemand war. Eine Mutter, die danach ebenso nicht mehr dieselbe war und mit ihrer Tochter auch ihren Lebenswillen und den Rest ihrer Familie verlor. Und als ich hier auf diesem staubigen Kellerboden lag, in meinem eigenen Blut und Urin, zum Sterben verdammt, wurde mir klar, dass ich Mitschuld daran trug. Ich hatte weggesehen. Ich hatte ihr nicht geholfen und akzeptiert was so offensichtlich war. Hatte nachgetreten und meinen Teil dazu beigetragen, dass es so weit gekommen war. Danach habe ich den Gedanken daran verdrängt, dass Melory deswegen starb. Weil ich sie nicht beschützt hatte, obwohl es meine Aufgabe gewesen wäre. Und weil Becca zu viel verlangte. Und Till sich etwas genommen hatte das ihm nie zustand. Ja wir waren Mitschuld daran, dass dieses Mädchen zerbrach und wir verdienten eine Bestrafung. Ich hatte diese Tatsachen schon immer gewusst. Doch ich hatte sie in eine Kiste gepackt und weit hinten in meinem Kopf vergraben. Hatte es beiseitegeschoben und mir eingeredet, dass es andere Gründe gab für ihren Tod. Irgendwann hatte ich mir selbst geglaubt. War in eine andere Stadt gezogen um den Erinnerungen zu entkommen. Dem Leid dass ich hinterlassen hatte. Doch hier gab es jemand der nicht vergessen konnte. Nie abgeschlossen hatte.
„Es tut mir Leid.“ Meine Stimme war lediglich ein heißeres flüstern und ich wusste nicht ob es überhaupt zu hören war. Ich wusste nicht einmal ob es zu jemandem durchdrang oder sich in diesem Kellerloch verlor. „Eine Tatsache die viel zu spät kommt und mir mein Kind nicht wieder zurückbringt.“ Ihr Schatten löste sich aus der Ecke, aus der heraus sie mich offenbar beobachtet hatte und ging neben mir abermals in die Hocke. Ich sah auf ihre staubigen Schuhe, die ein paar Blutspritzer abbekommen hatten. „Ich weiß.“ Ich schloss einen Moment die Augen und eine Träne löste sich und tropfte auf den kalten Boden. „Nichts kann das ungeschehen machen. Auch nicht mein Tod. Oder der von Becca. Oder von Till.“ Ich öffnete wieder die Augen und versuchte mich so zu drehen dass ich zu ihr hinauf sehen konnte. Ihr in ihr Gesicht blicken. In dieselben leeren und verzweifelten Augen wie die ihrer Tochter. Diese Augen die ich so gut kannte. Die den Wahnsinn darin wiederspiegelten. Das hier war eine Fremde und nicht der Mensch den ich liebte. Ihr Geist war vergiftet, ihr Verstand mit ihrer Seele in Tausend Teile gesprungen. „Du glaubst vielleicht du fühlst dich danach besser. Doch das wirst du nicht. Denn das hier wird weder Melory zurück holen noch alles ungeschehen machen. Glaub mir. Ich wünschte ich könnte die Zeit zurückdrehen. Könnte mich dieses Mal dazu überwinden nicht weg zu sehen. Etwas dagegen tun. Doch das kann ich nicht. Das kann niemand.“ Ich schniefte und sie blickte weiterhin stumm auf mich hinab. Ich schloss wieder einen Moment die Augen bis die Welle an Übelkeit und Schmerz abflachte. „Aber ich weiß auch. Egal was ich sage, es wird nichts daran ändern was du gleich tun wirst. Es hätte nie etwas geändert. Von dem Tag an, an dem sie sich umbrachte.“ Und ich sah wieder direkt in ihr Gesicht. „Da hast du wohl recht.“ Murmelte sie und eine Pistole schob sich in mein Sichtfeld. Doch ich war zu erschöpft um noch irgendeine körperliche Reaktion darauf zu zeigen. „Ich kann dir nicht verzeihen was du Melory angetan hast. Und auch mir. Den Verrat den du an uns ausgeübt hast. Ich kann niemandem verzeihen. Und ich kann auch nicht weiter damit Leben. Weder damit, dass du sie auf dem Gewissen hast. Noch dass ich all das tun musste. Und deswegen werden wir beide es nicht lebend aus diesem Raum schaffen. Sowenig wie Becca es tat. Oder auch Till.“ Ein trauriges Lächeln huschte über das ausgemergelte Gesicht. Sie strich mir vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Du weißt doch ich liebe dich oder? Nach allem habe ich dennoch nie aufgehört dich zu lieben. Du bist mein Baby. Mein ein und alles. Und aus diesem Grund muss ich das hier tun. Ich möchte mit euch beiden gemeinsam Ruhe finden.“
Ich nickte. Das wusste ich schon immer. Alles was ich getan und vor allem nicht getan hatte, brachen dieser Frau beinahe genauso das Herz wie Melorys Tot selbst. Und ich verzieh ihr, zu was das geführt hatte. Ich liebte sie und deswegen verzieh ich ihr. Ich war bereit.
„Es tut mir Leid, Schätzchen. Ich konnte dich und deine Schwester hiervor nie bewahren und es wäre meine Aufgabe gewesen.“ Sie strich mir nochmals zärtlich über die Wange und der Hass in ihren Augen wich das erste Mal seit einer sehr langen Zeit und machte Platz für Vergebung.
„Mir auch Mama.“ Murmelte ich während sie den Lauf der Pistole an meine Schläfe hielt.
Dann drückte sie ab.

11 thoughts on “Der Tod vergisst nicht

  1. Hallo Nadine!

    Mir hat deine Geschicht sehr, sehr gut gefallen – spannend und fesseln bis zum Schluss. Eine wirklich tolle Kurzgeschichte – so wie man sich eine Kurzgeschichte vorstellt.

    LG, Florian

    PS. Ich würde mich auch sehr freuen, wenn du die Zeit findest meine Geschichte zu lesen und evtl einen Kommentar/ein Feedback und – wenn sie dir gefallen hat – ein Like hinterlassen würdest. Mein Like hast du!

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/schach-matt

  2. Liebe Nadine,

    eine wirklich sehr gelungene Geschichte.

    Achtung Spoiler!

    In der Mitte der Story hatte ich tatsächlich die M. in Verdacht. Du hast sehr geschickt davon abgelenkt 😉
    Somit war das Ende umso überraschender für mich.

    Wirklich klasse! Von mir ein rotes Herz ❤️! LIKE!

  3. Sehr spannend und mit einem überraschenden Ende. Mir gefällt daran vor allem, dass ich beim Lesen immer weiter hinein gesogen wurde. Es gab nur wenige Dinge, die mir irritiert haben und du führst den Leser gekonnt durch die Ahnungslosigkeit, bis zum Knall am Schluss durch den sich alles auflöst. Das Ende gefällt mir besonders, weil es unausweichlich bitter ist und irgendwo darin dennoch ein Trost für die Heldin und das “Monster” liegt.

    Interessant fand ich die Parallele zu meiner Gesichten “Das Selbstbild”, die das Thema Schuld und Verdrängung ebenso aufwirft. Und interessant wiederum, wie jeder daraus eine andere Geschichte macht.

    Viele Grüße
    Jela

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