UnityIsIntrinsicDie blaue Hütte

Der Aufprall des Smartphones auf der Fußmatte meines Taxis erzeugt ein dumpfes Geräusch.

Das kann nicht…das bin nicht…

Meine Gedanken stottern, überschlagen sich, zucken in meinem Kopf umher. Das muss ein Irrtum sein.

Ich beuge mich vor, um das Smartphone vom Boden aufzuklauben. Nur ein eingehenderer Blick ist nötig, damit ich weiß, dass ich mich getäuscht habe. Ganz sicher. Zumindest rede ich mir das ein. Zur Beruhigung.

Wie ein Granitblock liegt das Gerät in meiner schweißnassen Hand. Nach einem Druck auf die An/Aus-Taste erwacht es zum Leben. Noch immer füllt das Foto den Bildschirm aus, das ich bereits vor wenigen Sekunden ungläubig betrachtet habe. Und jetzt, nach einem zweiten, blinzel, dritten Blick, besteht kein Zweifel mehr: Das bin ich. In meinem Taxi sitzend, mit geschlossenen Augen, wahrscheinlich während einer Pause. Ich wische nach rechts und hinterlasse einen Schweißfilm auf dem Display. Ein sehr ähnliches Bild öffnet sich. Und noch eines. Und noch eines.

Mein Atem wird schwer. Was hat das zu bedeuten?

Je öfter ich mit meinem Finger nach rechts wische, desto mehr breitet sich mein unspektakuläres Leben vor mir aus, eingesperrt in das Rechteck des Smartphonedisplays. Ich sehe mich selbst, mit Kollegen redend. Wie ich aus dem Supermarkt in der Nähe des Bahnhofs komme, zwei Stoffbeuteln tragend. Wie ich die Haustür der gesichtslosen Mietskaserne, in der ich wohne, aufschließe.

Ich sehe mich – wieder im Taxi – in der Nacht, die Lichter der Frankfurter Bankentürme im Hintergrund, als mir ein Fahrgast das Geld in die Hand drückt. Frischgeduscht und mit der Sporttasche über der Schulter, als ich nach meinem wöchentlichen Badmintontraining die Sporthalle verlasse. Sogar ein Foto, das mich in einem Pub sitzend zeigt, ist in dieser  Bildergalerie dabei.

Während ich die Fotos anschaue, läuft mein Hirn auf Hochtouren. Fragen ploppen wie Pop-Ups vor meinem inneren Auge auf und verschwinden sofort wieder. Wer hat diese Fotos gemacht? Wem gehört das Telefon? Warum sind da Fotos von mir?

Behutsam, so als könne es jeden Moment explodieren, lege ich das Telefon auf den Beifahrersitz. Dann setze ich mich gerade hin und schließe die Augen, sammle mich. Tief durchatmen. Nachdenken.

Auf meiner letzten Fahrt hatte ich drei Fahrgäste. Zwei Männer und eine Frau. Alle drei elegant gekleidet, wohl geschäftlich unterwegs. Ich hatte sie vom Hauptbahnhof zum Opernplatz gefahren, mein Geld erhalten, mich verabschiedet. Einer der Männer hatte mir einen schönen Tag gewünscht. Alles wie immer. Danach bin ich zum Hauptbahnhof gefahren, wo ich nun seit zehn Minuten stehe. Unter normalen Umständen hätte ich die drei letzten Fahrgäste schnell wieder vergessen. So ist das, wenn man Taxi fährt: man trifft Menschen, verabschiedet sie.

Die drei hatten sich völlig unauffällig verhalten. Sie hatten nicht miteinander gesprochen, nur in den ersten Augenblicken, als sie mir mitteilten, wo die Fahrt hingehen sollte.

Einem von ihnen muss beim Aussteigen das Telefon aus der Tasche gefallen sein, oder etwa nicht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einem Fahrgast einer früheren Tour gehören könnte. Nein. Zu präsent hatte es auf der Rückbank gelegen, als dass mich niemand darauf angesprochen hätte. Nein, es gehört einem dieser drei Fahrgäste. Ist es Zufall, dass es dort liegt oder – und dieser Gedanke ist unangenehmer – wurde es bewusst dort platziert?

Bevor ich mir weiter den Kopf zerbrechen kann, meldet sich mein eigenes Smartphone, das mit einem Clip am Armaturenbrett befestigt ist. Die Zentrale.

„Ja?“

„Jens, bist du frei?“ Birgit, die gute Seele der Firma. Bonbons für alle, die Kummer haben. Oder eine anstrengende Schicht gefahren sind. Oder einfach so. Sie hat immer Bonbons dabei.

„Ja.“

„Wir brauchen dich um 12 Uhr 30 am Palmengarten für eine Fahrt nach Heddernheim.“

„Okay. Ich werde das übernehmen. Bis später.“

Ein Blick auf die Uhr. Mir bleiben 30 Minuten, bevor ich mich auf den Weg machen muss. Zeit genug, um darauf zu warten, dass jemand das Smartphone, das auf dem Sitz neben mir liegt, anruft. Denn das macht man doch, wenn man bemerkt, dass das Telefon verschwunden ist, oder etwa nicht? Ich versuche mir selbst einzureden, dass das Smartphone in meinem Taxi reiner Zufall ist.

Ich meine, warum auch nicht? Schaut mich doch an: Ich bin der Taxifahrer, der nach seinem Studium keinen Job gefunden hat. Aufgewachsen bei Frankfurt, Realschulabschluss, Ausbildung,  Abitur an der Abendschule, Studium der Architektur in Köln. Abbruch nach vier Semestern, Umzug nach Frankfurt, Soziologiestudium, Bachelor. Karrieretechnisch kein gelungener Schachzug, wie ich erfahren musste, als ich meinen Abschluss in der Tasche hatte. Bis heute fahre ich Taxi. Ich bin ein wandelndes Klischee.

Ganz sicher nicht das, was meine Eltern im Sinn hatten, als ich damals mein Abiturzeugnis in der Hand hielt. Wie stolz sie, Handwerker und gelernte Verkäuferin, gewesen waren!

Plötzlich vibriert das Telefon. Schnell ergreife ich es, darauf hoffend, dass sich der Besitzer meldet. Aber es vibriert nicht mehr. Kein Anruf. Eine SMS.

Drei Worte. Jedes davon ein Schlag in die Magengrube.

Wir Wissen Bescheid.

Mit dem Lesen der SMS strömen Gedanken und Bilder auf mich ein, hilflos lasse ich es über mich ergehen. Ist das der Grund für das Smartphone auf der Rückbank, die Bilder von mir und diese SMS? Natürlich hatte ich gewusst, dass das irgendwann passieren würde. Dass mich meine Vergangenheit einholen und die Fassade des unsichtbaren Taxifahrers Risse bekommen würde.

Augenblicke später, vielleicht auch Minuten: Eine weitere SMS geht ein, das Vibrieren dröhnt mir in den Ohren.

Parkplatz Kleingärtnerverein Niederrad. In 15 Minuten. Komm Allein. Wenn nicht, wird dir das leidtun.

Wenn ich sofort losfahre, schaffe ich das. Aber – soll ich das tun? Ich lese doch gerne Krimis, verdammt! Nie ist es zu empfehlen, auf mysteriöse SMS einzugehen. Das führt in Romanen fast automatisch zu Leid und Schmerz. Aber habe ich tatsächlich eine Alternative?

Während mein Blick auf die Menschen fällt, die aus dem Hauptbahnhof strömen und keine Ahnung haben, welche Kämpfe ich mit mir selbst ausfechte, lasse ich den Motor an.

***

Ich schaffe es auf die Sekunde genau, trotz der verstopften Straßen rund um den Baseler Platz. Auf dem Parkplatz stehen nur wenige Autos. Der Kies knirscht unter den Reifen, als ich das Taxi abstelle.

Das Abstellen des Motors klingt endgültig. Unschlüssig, was ich tun soll, trommele ich auf dem Lenkrad herum. Ich kann niemanden sehen. Also steige ich aus dem Auto aus.

Nur das Rauschen der nahegelegenen Autobahn ist zu hören, aber kein Vogel. Nach viel Blau am Morgen hat sich der Himmel nun zugezogen, der Wind zerrt an der abgewetzten Jacke, die ich trage. Ich drehe mich um die eigene Achse, aber immer noch ist niemand zu sehen.

Da meldet sich das Smartphone wieder.

Gehe den Hauptweg hinunter. Am Restaurant rechts, dann das fünfte Haus auf der linken Seite. In drei Minuten. Leg dieses Handy und dein eigenes auf den Fahrersitz.

Ich soll also ohne Telefon und ohne die Möglichkeit, Hilfe zu holen, zu der Person, die mir per SMS Befehle gibt?

Erneut läuten alle Alarmglocken. Ich bin kein Held. Ich bin 29, habe einen Bauchansatz und Geheimratsecken. Durch und durch durchschnittlich.

Natürlich könnte ich die Polizei rufen, aber was soll ich denen sagen? „Hallo, ich erhalte mysteriöse SMS über ein gefundenes Smartphone.“ Wahrscheinlich lachen die Beamten darüber. Und wenn sie dann herausfinden, warum ich hierher zitiert wurde, wird es ungemütlich für mich.

Also tue ich das, was man von mir erwartet. Ich lege die Telefone auf den Fahrersitz und folge den Anweisungen. Zu beiden Seiten des Weges liegen die Kleingärten, begrenzte kleine Welten. In vielen flattert die Flagge von Eintracht Frankfurt. Aber es ist so menschenleer, dass ich auch auf dem Mond sein könnte. Schließlich erreiche ich das portugiesische Restaurant und wende mich nach rechts.

Der Kleingarten, zu dem ich bestellt wurde, sieht unscheinbar aus. In der Mitte steht eine blau angestrichene Hütte, von der an vielen Stellen die Farbe abblättert. Sie ist so windschief, dass eine kräftige Brise sie zum Einsturz bringen könnte.  Kleine Gemüsebeete, ein Klettergerüst für Kinder, das so aussieht, als sei es lange nicht mehr benutzt worden.

Das Tor quietscht, als ich es öffne. Mit jedem Schritt, den ich auf das Häuschen zugehe, sacke ich mehr zusammen. Als ich an der Tür angelangt bin, fühlt es sich an, als würden tonnenschwere Gewichte auf meinen Schultern lasten. Es kostet mich enorme Kraft, an das Holz zu klopfen.

Statt einer Antwort schwingt die Tür nach innen auf. Jetzt ist der letzte Moment, von hier zu verschwinden, schießt es mir durch den Kopf.

Doch ich trete in das Halbdunkel der Hütte. Es dauert einige Augenblicke, bis sich meine Augen daran gewöhnt haben. Die Luft ist staubig, mein Hals wird enger.

„Jens Peters! Endlich sehen wir uns wieder“, sagt eine Frauenstimme und die dazugehörige Person löst sich von der der Tür gegenüberliegenden Wand und geht einen Schritt nach vorne. Jetzt kann ich sie sehen. Es ist tatsächlich die Frau, die ich vor nicht einmal einer Stunde am Opernplatz abgesetzt habe. Ein Lächeln umspielt ihren Mund, doch es liegt keine Freundlichkeit darin. In ihrer Hand hält sie eine Waffe. Ich bin kein Experte, was Handfeuerwaffen angeht, aber das Ding sieht riesig aus. Und sehr gefährlich.

Die Frau macht einen weiteren Schritt auf mich zu. „Freust du dich nicht, mich zu sehen?“, fragt sie mit einer Stimme, in der alles andere liegt als Wiedersehensfreude.

„Ich…“, beginne ich, doch mein Hals fühlt sich an, als sei er mit Schmirgelpapier gefüllt.

„….habe keine Ahnung, wer du bist“, beendet sie den Satz für mich. Ein kurzes Nicken ihrerseits und plötzlich werden meine beiden Arme grob gepackt. Die zwei männlichen Fahrgäste.

„Das habe ich mir gedacht, du Schwein. Aber du wirst mich kennenlernen.“ Der Hass, der bei diesen Worten mitschwingt, raubt mir den Atem. Sie richtet sich an die beiden Kerle, die mich weiterhin festhalten. „Setzt ihn auf den Stuhl.“

Und schon schleifen mich die beiden Männer zu einem heruntergekommenen Lehnstuhl, der auf der linken Seite der Hütte vor einer Wand steht. Es dauert nur einige Wimpernschläge, bis ich dort sitze. Als sie beginnen, meine Arme und Beine an den Stuhl fesseln zu wollen, erweckt mein Überlebenstrieb und ich schlage mit den Armen um mich.

Klick. Ich spüre den kalten Stahl der Waffe an meiner Stirn. „Keine Bewegung“, sagt sie mit einer furchterregenden Seelenruhe. „Sonst jage ich dir sofort eine Kugel in den Kopf und beende damit dein jämmerliches Leben.“

Mein Widerstand erlischt sofort. Schicksalsergeben lasse ich mich an den Stuhl fesseln.

Grunzend erheben sich die beiden Kerle und stellen sich neben der Frau auf. Sie scheinen zufrieden mit ihrem Werk zu sein.

„Das sind übrigens mein Bruder Mario und mein Cousin Jan“, stellt mir die Frau ihre Gehilfen vor. „Nicht, dass das für dich von echtem Interesse wäre. Aber ich glaube, es ist wichtig zu wissen, wer die letzten Personen sind, die man sieht, bevor man stirbt.“

Sie lässt ihre Worte wirken und dreht sich um. Aus der hinteren Ecke der Hütte holt sie einen weiteren Lehnstuhl. Ein hässliches Geräusch entsteht, als sie ihn auf dem Dielenboden zu sich heranzieht. Sie setzt sich so, dass sie mir direkt in die Augen blicken kann.

„Weißt du Drecksschwein jetzt, wer ich bin?“, fragt sie. Ihre Augen sprühen Funken.

„Du…du bist“, setze ich an, kann den Satz aber nicht beenden, weil das Schmirgelpapier in meinem Rachen nicht weniger geworden ist.

„Ich bin Jessica Wagner“, stellt sie sich vor. „Meinen Namen kanntest du nicht. War ja auch nicht wichtig. Also damals, als du und deine Freunde mein Leben zerstört haben.“

Sie scheint ein Faible für Kunstpausen zu haben, denn schon wieder unterbricht sie ihren gerade begonnen Monolog, um mich mit ihren Blicken umzubringen.

„Vor fünf Jahren war das. Mit Freundinnen bin ich nach Mallorca geflogen. Strandurlaub. Mein Freund hatte mich verlassen, ich fühlte mich scheiße und wollte einfach mal eine Woche so richtig die Sau rauslassen. So wie du und deine“ – wieder eine Pause – „Freunde.

„Ich habe…“

„Halt deine Fresse“, unterbricht sie mich barsch. „Zufällig wart ihr im gleichen Club wie meine Freundinnen und ich unterwegs. Meine Güte, habe ich viel getrunken. Und dann tauchte einer von euch Wichsern bei mir auf. Hat mir Honig ums Maul geschmiert. Ich war besoffen, also hab ich mitgemacht und mit ihm geflirtet. Meine Freundinnen sind alle ins Hotel zurück und ich war allein. Allein mit diesem Typ und seinen verdammten Freunden.“

Ich weiß natürlich, wie die Geschichte weitergeht. Gleichzeitig wird mit bewusst, dass diese Frau es ernst meint. Entschuldigungen und nette Worte werden sie nicht besänftigen können. Sie ist auf einer Mission.

„Irgendwann meinte das Schwein, dass es jetzt Zeit sei, zu gehen. Ob ich denn mitkommen wolle. Was ich gerne wissen möchte, ist Folgendes: Habt ihr euch vorher abgesprochen? War das so ein Männerding, um sich selbst zu beweisen, wie geil man ist?“

Offenbar ist das eine rhetorische Frage, denn anstatt meine Antwort abzuwarten, redet sie weiter.

„Ich bin mit ihm gegangen. Raus aus dem Club. Draußen hätte ich am liebsten gekotzt, so betrunken war ich. Aber er hat mich einfach an die Hand genommen. Er kenne da so einen speziellen Ort, hat er gesagt.“

Ich erinnere mich wieder, als sei es erst gestern passiert. Wir anderen sind auch raus aus dem Club. Allein. Ohne Begleitung. Was waren wir neidisch auf Martin, der als einziger ein Mädchen klargemacht hatte. Und dann noch so eines. Superlange, braungebrannte Beine. Ein knackiger Arsch in knappen Jeansshorts. Und dazu ein enges T-Shirt, das ihre ansehnlichen Brüste perfekt in Szene setzte.

Irgendwer sagte dann den folgenschweren Satz: „Los, hinterher, vielleicht können wir etwas sehen, wenn wir schon selbst nicht zum Zuge kommen.“

Wir waren Studenten in den Semesterferien, ich hatte hart schuften müssen, um mir die Reise leisten zu können. Bis zum Rand waren wir gefüllt mit Alkohol und unseren Hormonen. Also folgten wir unserem Freund, der seine Clubbekanntschaft an der Hand hinter sich herzog. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

„Anfangs war er ja noch nett, ist wohl die Masche von diesen Wichsern“, nimmt Jessica ihren Faden wieder auf, die Waffe weiterhin auf mich gerichtet. „Wie hübsch ich doch sei. Wie glücklich er sei, dass er mich kennengelernt habe. Bla bla bla. Und dann zeigte er mir diesen speziellen Ort, eine kleine Parkanlage. Es war dunkel, kein anderer Mensch war unterwegs. Er zog mich hinter ein Gebüsch. Und kaum als er glaubte, ungestört zu sein, begann er, mich zu begrapschen.“

„Stop“, keuche ich. Ich will das nicht hören, will nicht an mein Versagen erinnert werden. Doch sie ist erkennbar nicht bereit, jetzt aufzuhören.

„Oh, so empfindlich?“, fragt sie mit gespieltem Mitleid und fährt fort. Erbarmungslos. „Er begrapschte mich. Fasste mir an die Brüste, zwischen die Beine. Ich wollte das nicht, ich versuchte, ihn zum Aufhören zu bewegen. Erst mit Worten, doch er hat nicht aufgehört. Dann habe ich versucht, ihn zu kratzen. Er war viel stärker und ich zu betrunken. Plötzlich lag ich auf dem Boden, er über mir. Das Shirt hat er mir zerrissen und meine Brust gequetscht. Ich wollte um Hilfe schreien, doch er hat mir den Mund zugehalten, mir Shorts und Höschen heruntergerissen. Und dann hat er mich vergewaltigt. Es tat so weh, er war so brutal. Plötzlich tauchtet ihr auf. Meine Rettung, dachte ich. Ich konnte ja nicht schreien, aber ich habe gehofft, ihr seht, was los ist und helft mir.“

Das Bild erscheint klar und deutlich vor meinem inneren Auge. Martin lag da auf dem Boden, nur erleuchtet vom schwachen Licht einer Straßenlaterne, die in einigen Metern Entfernung stand.

Und er hatte Sex mit diesem Mädchen. Anfangs konnte ich nicht erkennen, was da los war. Betrunken, wie ich selbst war, glaubte ich noch, dass das Mädel das so wollte. Also beim Ficken ein bisschen härter angefasst werden. Doch ihre weit aufgerissenen Augen zeigten mir schnell etwas Anderes. Aber ich … konnte mich nicht dazu durchringen, ihr zu helfen. Irgendwie erregte mich der Anblick, der sich uns bot.

Und schließlich ließ Martin von ihr ab. Er stand auf, sein noch glänzender Schwanz war im Laternenlicht gut zu erkennen. „Heiße Schnalle“, meinte er nur lapidar und zeigte auf die junge Frau, die er gerade vergewaltigt hatte. Sie hatte sich in Fötushaltung zusammengerollt und weinte hemmungslos.

„Hast du sie etwa…“, setzte einer der Jungs an, doch Martin unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung.

„Natürlich nicht. Die Schlampe wollte das so. Und sie sagte mir sogar, dass sie Bock hat auf einen weiteren Ritt. Also – wer möchte?“

Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Sicher, Martin war schon immer ein arroganter Fatzke gewesen. Ausgestattet mit dem Geld seines Vaters, der ein erfolgreiches Architekturbüro leitete, war er der Fixplanet meines Semesters gewesen. Er bekam, was er wollte. Alle wollten mit ihm befreundet sein. Ganz besonders bemühte sich Chris darum, Martin zu gefallen.

Mein Blut schien zu gefrieren, als sich eben dieser Chris als erster von uns regte.

„Meinst du wirklich?“, lallte er.

„Na klar, die steht darauf. Mach sie glücklich.“

Und schon nestelte Chris an seiner Hose und bewegte sich auf die bemitleidenswerte Frau zu, die da auf dem Boden lag.

Das war zu viel. Ich drehte um und lief weg, so schnell es mein betrunkener Körper zuließ.

„Dreimal wurde ich in dieser Nacht vergewaltigt“, schließt Jessica ihren Bericht.

„Ich habe dich nicht…“, versuche ich mich an einer Erklärung, doch ein lauter Knall unterbricht jäh meinen kümmerlichen Verteidigungsversuch. Jessica hat blitzschnell die Waffe nach oben gerichtet und abgedrückt. Staub rieselt von der Decke nach unten.

„Halt deine verdammte Fresse“, speit sie aus. „Du hast es zugelassen, dass es passiert ist. Du hast mir nicht geholfen, sondern bist wie ein Feigling abgehauen. Als deine charmanten Freunde mit mir fertig waren, lag ich noch stundenlang im Gras. Ich fühlte mich so erniedrigt, so leer. Ich habe mich so geschämt. Aber ich habe mir schon damals, in diesen Momenten geschworen, dass ich es euch heimzahlen werde. Jedem einzelnen von euch.“

Wieder richtet die die Waffe auf mich. „Es hat gedauert, bis ich wieder einigermaßen klar denken konnte. Wochenlang habe ich mich nach der Heimreise nicht aus meiner Wohnung getraut, habe in den Nächten wieder und wieder von der Vergewaltigung geträumt, bin schreiend aufgewacht. Bis heute habe ich keinen Mann mehr an mich rangelassen. Ich kriege Panikattacken, wenn ein Mann mit mir flirten möchte. Zum Glück habe ich mich irgendwann Mario und Jan anvertraut. Die beiden haben sofort angeboten, mich bei der Suche nach meinen Peinigern zu unterstützen. Damit ich mich an euch rächen kann, so dass ich mein Leben zurückbekomme, das ihr mir genommen habt. Es hat lange gedauert, aber irgendwann haben wir euch alle gefunden.“

Wahrscheinlich waren die beiden diejenigen, die die Fotos von mir geschossen und mich verfolgt haben.

„Doch jetzt ist es genug mit unserer Plauderstunde“, sagt sie und erhebt sich. „Ich wette, dass dir beim Anblick von meiner Vergewaltigung so richtig einer abgegangen ist, oder? Wahrscheinlich ist dein kümmerlicher Schwanz ganz hart geworden, als du das gesehen hast, nicht wahr?“

Langsam bewegt sie sich auf mich zu. Ich spüre, wie mich einer der Jungs festhält, während mich der andere brutal knebelt. Ich schmecke alten, staubigen Stoff. Schweiß tritt mir aus allen Poren.

„Doch keine Sorge“, flüstert Jessica und beugt sich ganz zu mir herunter, so dass ich ihren herben Geruch wahrnehmen kann. „Dein Schwanz wird von nun an nie wieder hart sein.“

Mit diesen Worten richtet sie sich wieder auf, zielt mit der Waffe auf meine Körpermitte. Ich sehe, wie sich ihr Finger am Abzug langsam krümmt und…

 

Ich schrecke auf, als das Klopfen an der Scheibe meiner Fahrertür lauter wird. Schnell lasse ich die Scheibe herunter.

„Sind Sie frei?“, fragt mich der Mann, der neben meinem Taxi steht. Seine Ungeduld ist deutlich zu vernehmen.

„Äh…ja, steigen Sie ein.“ Er öffnet die Tür im Fond, legt eine Aktentasche auf die Rückbank und setzt sich.

„Bitte zum Architekturbüro Maier & Söhne in der Hanauer Landstraße 26“, weist er mich an. Dann öffnet er die Tasche und holt ein Tablet heraus, in das er sich sofort vertieft. Gespräch beendet, signalisiert er mir damit.

Ist mir recht. Denn so kann ich meinen eigenen Gedanken nachhängen. Der Traum hat mich in der letzten Zeit immer häufiger heimgesucht. Er variiert – mal werde ich gefoltert, mal aufgeschlitzt, mal von den beiden Typen zu Tode geprügelt. Aber immer regelmäßiger erinnert mich mein Unterbewusstsein an diese Episode in meinem Leben, die ich durch den Abbruch meines Studiums und den Umzug in meine Heimatstadt zu vergessen versuchte.

Die Vergewaltigung … die mir bis heute namentlich nicht bekannte Frau (in meinen Träumen hat stellt sie sich immer mit einem anderen Namen vor) … meine Flucht. Danach habe ich das Studium abgebrochen, bin wieder geflohen. Vor der Verantwortung, die ich trug. Und ich trage sie auch heute noch. Sie ist schwer, aber ich funktioniere trotzdem. Erstaunlich, zu was der Mensch fähig ist, wenn er die Kunst der Verdrängung beherrscht.

Seitdem habe ich keine feste Freundin gehabt. Sex ist unmöglich, wenn man dabei immer wieder das Bild einer weinenden jungen Frau vor sich hat, die nach einer Vergewaltigung im Urlaub zusammengekrümmt auf dem Gras liegt.

Das Alleinsein als Preis für ein Erlebnis, das mich bis heute immer wieder im Traum heimsucht. Damit kann, damit muss ich leben.

Schließlich erreiche ich das Ziel der Fahrt und habe somit die Möglichkeit, meinen Gedankenfluss zu unterbrechen.

„Elf Euro“, sage ich und werfe einen Blick in den Rückspiegel – und stutze. Ich glaube nicht an Vorhersehung oder Schicksal, aber das kann kein Zufall sein. Er sieht immer noch gut aus; so, als könne er immer noch jedes junge Ding um seinen Finger wickeln.

Martin drückt mir zwölf Euro in die Hand. „Stimmt so“, sagt er. Und damit steigt er aus dem Taxi aus, ohne eine Sekunde den Eindruck zu hinterlassen, er wisse, wer ihn da gerade zu diesem edlen Architekturbüro gefahren hat. Sein mutmaßlich teurer Anzug und seine Aktentasche – sicherlich echtes Leder – lassen darauf schließen, dass er es geschafft hat. Warum sollte er sich also für einen Taxifahrer interessieren, der für ihn sicherlich zum Bodensatz der Gesellschaft gehört. Ich schaue ihm nach, bis er durch eine Drehtür im Innern eines Gebäudes verschwunden ist.

Ich fühle mich wie betäubt. Meine Umwelt nehme ich kaum mehr wahr, als ich in meinem Taxi sitze und meine Gedanken in meinem Kopf Purzelbäume schlagen. Schließlich starte ich den Motor, wende bei der nächsten Möglichkeit und fahre in die Stadt zurück. In der Adickesallee halte ich an, auf dem Parkplatz vor dem Polizeipräsidium. Kurz schließe ich die Augen, um mich zu sammeln. Dann öffne ich die Tür. Es beginnt zu regnen.

 

 

 

9 thoughts on “Die blaue Hütte

  1. Hi,
    eine klasse Geschichte, die Du da geschrieben hast!
    Dein Erzählstil ist sehr angenehm zu lesen, der Spannungsbogen hervorragend aufgebaut und der Twist zum Ende ist großartig gelungen!
    Mein Like hast Du!

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte (“Glasauge”) zu lesen und ein Feedback da zu lassen.

  2. Moin Moin,

    WOW! Eine richtig gute Kurzgeschichte die du dir hier ausgedacht hast.

    Sie lies mich schaudern, schlucken und schmunzeln. Deine Art in der ICH-Perspektive zu schreiben hat mich sehr angesprochen. Und wie du die Vergewaltigung beschreibst, lies mich beim lesen, in Gedanken, vor Scham zur Seite blicken. Das war schon krass. Ich habe mit ihr gelitten.

    Du hast einen wunderbaren Erzählstil, dir ist hier etwas grandioses gelungen, sei stolz darauf.

    Mein Lieblingssatz:

    Sie scheint ein Faible für Kunstpausen zu haben, denn schon wieder unterbricht sie ihren gerade begonnen Monolog, um mich mit ihren Blicken umzubringen.

    Ich kann spüren was dein Protagonist in diesem Moment damit meint.

    Aber eine Frage habe ich noch. Was hat es mit dem Titel auf sich? Da blick ich nicht ganz durch.

    Dein Ende ist gekonnt inszeniert. Erst ist man mittendrin und von einem auf den anderen Augenblick, ganz wo anders! TOP!

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

Schreibe einen Kommentar