MaryBEin kleines bisschen Glück

Ein kleines bisschen Glück

Die kleine Lampe auf dem Nachttisch flackerte. Er hielt das Smartphone in der Hand und starrte es an. Starrte sich selbst an. Sich selbst, wie er am Fluss entlang läuft. Sich selbst, wie er am Kiosk eine Schachtel Zigaretten kauft, obwohl er eigentlich gar nicht raucht. Sich selbst, wie er mit einer Flasche Wodka Gorbatschow in der Hand auf der Parkbank sitzt.

Wann wurden diese Fotos gemacht? Und wer war dieser Mann auf den Fotos, der ihm zum verwechseln ähnlich sah? Er konnte sich nicht erinnern, an diesen Orten gewesen zu sein.

Und ich bin doch gar kein Raucher.

Doch das Smartphone war offensichtlich für ihn bestimmt gewesen. Heute hatte er es gefunden. Er war gerade von einer Besprechung zurückgekommen, als er einen Briefumschlag auf seinem Schreibtisch gefunden hatte. Adressiert mit seinem Namen. Darin fand er es.

Auf dem Smartphone befand sich auch ein Foto mit einer Notiz. „Ich kann es nicht vergessen. Ich kann dir nicht vergeben. Du musst dafür bezahlen.“

Wer bist du?

Er schaltete das Display des Smartphones aus. Er legte es auf den Tisch und stand auf. Ein paar Minuten stand er einfach nur da. Er schaute auf die alte Uhr an der Wand. Starrte das große Pendel an, wie es langsam von rechts nach links schwang und sich dann schwerfällig – bewegte es sich etwa in Zeitlupe? – wieder auf den Rückweg machte.

Tick – Du weißt, – Tock – dass es wahr ist. 

Tick – Du weißt, – Tock – dass du nicht weglaufen kannst.

Er schloss die Augen, nur ganz kurz. Dann ging er in die Küche und warf die Kaffeemaschine an. Kaffee. Erstmal einen Kaffee. Er drückte auf den Knopf und die Maschine begann zu rauschen. Kaffeeduft breitete sich aus. Kaffee. Dachte er. Kaffee bedeutet Pause. Kaffee bedeutet Kopf abschalten. Kaffee bedeutet runterfahren.

Einen Atemzug lang dachte er, dass alles nur ein Traum sein musste. Er nahm den Kaffee und ging zurück ins Wohnzimmer, wo das Smartphone immer noch auf dem Tisch lag. Das Display war schwarz.

Tick – Du weißt, – Tock – dass es wahr ist. 

Tick – Du weißt, – Tock – du hättest es verhindern können.

Vor seinen Augen begann das Wohnzimmer sich leicht zu bewegen. Er kniff die Augen ein Stück zusammen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Seine Hände begannen zu zittern, das Bild vor seinen Augen verschwamm. Er ließ die Kaffeetasse fallen, sah ihr benommen zu, wie sie langsam zu Boden fiel – Wieso zum Teufel bewegt sich alles in Zeitlupe? – und mit einem dumpfen Klirren in mehrere Einzelteile zersprang. Der Kaffee verteilte sich in alle Richtungen, unter anderem auch auf seinem Schuh. Jedoch war er nicht in der Lage, das zu bemerken. Er lehnte sich gegen die Wand und rutschte langsam an ihr herunter. Sein Kopf hämmerte.

Das Smartphone schien vom Tisch herüber zu schreien. 

Du weißt, was er will. Du weißt, dass er Recht hat. LOS, GIB IHM, WAS ER WILL!

Das kann ich nicht!

Du musst! Und du weißt es!

Langsam richtete er sich wieder auf. Er hielt sich am Türrahmen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Es geht schon wieder. Langsam ging er zum Tisch und ließ sich auf den Sessel daneben fallen. Geschafft. Er griff das Smartphone und schaltete das Display ein. Kein Entsperrcode. Damit er auf jeden Fall an die Bilder gelangen konnte. Er kniff die Augen ein Stück zusammen, da ihn das Licht des Displays blendete. 

„Ich kann es nicht vergessen. Ich kann dir nicht vergeben. Du musst dafür bezahlen.“ 

Er wischte mit dem Daumen über das Display und das nächste Bild erschien. Es war ein Bild von ihr. Sie war wunderschön. Schnell wischte er weiter. Dieses Bild zeigte einen Grabstein.

SARAH HIGGINS

* 24.11.1978

+ 5.11.2007

LIEBENDE EHEFRAU UND TOCHTER

MÖGE DEINE SEELE FRIEDEN FINDEN

Die Blumen auf dem Grab waren frisch. Es war ein kleines Meer aus Rosen, Tulpen, Lilien, Gestecken, Schriftbändern. Das Foto ist vom Tag der Beerdigung.

An dem Tag, an dem Sarah starb, hatten sie gerade ihren neuen Job gefeiert. Ihr Traumjob. Jahrelang hatte sie darauf hingearbeitet und endlich hatte sie es geschafft. Er war unheimlich stolz auf sie gewesen.

Tick – stolz?

Tock.

Seine Mundwinkel begannen zu zittern. 

Plötzlich klopfte es laut und heftig an der Tür. 

POK POK

Er zuckte erschrocken zusammen. Dann saß er einen Augenblick wie versteinert da, hielt den Atem an. Er versuchte etwas zu hören, aber alles war still.

Hat es wirklich geklopft? Oder bin ich gerade dabei, verrückt zu werden?

Er stand auf, ging langsam zur Tür und öffnete sie.

Da stand niemand. Verwundert sah er sich im Flur um, aber niemand war zu sehen. Auch auf der Fußmatte war nichts zu finden. Nur das dicke rosa Schwein mit seiner Sonnenbrille grinste ihn breit an. “Komm rein, hab’ Schwein!” 

Sarah hatte das witzig gefunden. Das war eine ihrer Bedingungen für die neue Wohnung. Sie wollte die Fußmatte vor der Tür auswählen. Er empfand das damals als ein kleines Eingeständnis. Wie oft sah man schon die Fußmatte vor der Tür? Die Antwort darauf klang ebenso logisch, wie sie ihn mitnahm. Jeden Tag.

Er schloss die Tür wieder. Einen Augenblick lang blieb er noch stehen, die rechte Hand ruhte noch immer auf der Türklinke.

Komm rein, hab’ Schwein, dachte er. Er musste diese Matte entsorgen. Doch leider ging das nicht mit allen Dingen. Die Wohnung war voll von Sarahs Sachen. Bücher, Bilder, Basteleien. “Sie soll so sein, wie ich sie mir immer gewünscht habe”. Und genau das war sie. Mit ihrem neuen Job und dem neuen Gehalt konnten sie sich das auch ohne Probleme leisten. Die Wohnung lag im 23. Stock, sodass man einen fantastischen Blick auf die Stadt und die Berge im Hintergrund hatte. Sarah hatte nichts ausgelassen. Edles, dunkles Parkett, eine kleine Bar, sogar über eine kleine eigene Sauna und einen Whirlpool verfügte die Wohnung.

Eine Sauna dachte er. Wer braucht schon eine Sauna in der Wohnung. Doch es war ihr Wunsch gewesen und wer war er, ihr zu verbieten, sich diesen Wunsch zu erfüllen? Immerhin hatte sie hart dafür gearbeitet.

Und dann kam der 5. November 2007. Der Tag, an dem sie gemeinsam den neuen Job und die neue Wohnung, das neue gemeinsame Leben gefeiert hatten. Ihre Eltern waren da, ein paar Freunde. Natürlich wurde angestoßen. 1 mal, 2 mal, 5 mal. Vielleicht auch 10 mal. Er wusste es nicht mehr so genau. Leider.

Plötzlich hörte er wieder ein Klopfen an der Tür.

POK POK.

Seine Hand lag noch immer auf der Türklinke. Er runzelte die Stirn. Hat es dieses Mal wirklich geklopft? 

POK POK.

Offensichtlich.

Er drückte die Türklinke erneut nach unten und öffnete die Tür.

Da stand er. Er sah nicht gut aus. Abgemagert. Sein Gesicht eingefallen. Seine Augen verzweifelt, leer.

“Was machst du hier?”

“Willst du mich nicht herein bitten?” fragte der Besucher und deutete auf die Fußmatte.

Komm rein, hab’ Schwein

Er schloss die Tür hinter sich und sie gingen langsam ins Wohnzimmer.

„Wieso bist du.. „

„Tu nicht so. Ich weiß, dass du das Smartphone hast.“ unterbrach ihn der Besucher. 

„Also warst das du?“

„Natürlich.” Einige Sekunden starrten sie sich gegenseitig in die Augen.

“Wer ist auf den Fotos?”

“Du erkennst ihn nicht?”

“Ich erkenne, dass er aussieht wie ich. Aber wir wissen beide, dass ich das nicht bin.”

“Bist du nicht?” 

“Nein. Erstmal bin ich überhaupt kein Raucher.. “

“Und was ist dann das hier?” der Besucher ging zum Schreibtisch und zog eine Schublade heraus. Eine halb zerknüllte Schachtel Lucky Strike kam zum Vorschein. 4 Zigaretten befanden sich noch darin.

Es verschlug ihm die Sprache. Sind die von Sarah? Hat sie etwa heimlich geraucht? Was ist hier los?!

“Ich habe keine Ahnung, wo die herkommen!”

Plötzlich zuckte eine Erinnerung durch seinen Kopf. Es war nur ein Bruchteil einer Sekunde. Er erinnerte sich, wie er einem alten Mann ein paar Geldstücke in die Hand legte. Sein Blick fiel auf die Zeitungen, die neben ihm auf einem Ständer standen. 5.November 2007.

Was zum.. 

„Hör auf zu lügen! Erinnere dich, was an diesem Abend wirklich passiert ist!”

Der Besucher kam ein paar Schritte auf ihn zu. 

„Du warst wütend. Du warst eifersüchtig auf ihren Erfolg.“

Noch ein Schritt. 

“Nein! Sie war meine Frau! Ich habe mich für sie gefreut!”

Er wich zurück. 

“Lügner! An diesem Abend hat sich alles um sie gedreht! Ihr neuer Job, die schöne neue Wohnung.”

“Aber es war doch UNSERE neue Wohnung!”

“War es das? Welche Entscheidungen hat sie denn dir Überlassen? Das Parkett? Nein. Die Lampen? Nein! Nicht einmal die Fußmatte durftest du auswählen!”

Die Augen des Angreifers begannen zu funkeln. 

“Na und? Es ist doch schön! Das ist mir doch egal! Alles was ich wollte war doch, mit ihr zusammen zu leben!”

„Du wolltest nicht, dass sie stirbt, hab ich Recht? Du wolltest nur ein kleines bisschen von ihrem Glück eindämmen!“

“Was? Was redest du denn da?”

“Weißt du nicht mehr, was passiert ist? Erinnere dich!”

Wieder zuckte eine Erinnerung durch seinen Kopf. Nur kurz und verschwommen, aber da war sie.

Eine Erinnerung, wie er auf dem Sessel sitzt. Ihm ist ein bisschen schlecht, vor seinen Augen dreht sich alles.

Der Alkohol

In seiner Erinnerung hört er ein entferntes dooooooooooong. Doch er schaute nicht zu der Wanduhr auf, denn der Anblick ihres Pendel würde die Übelkeit nur noch verstärken. dooooooooong.

“Alle Gäste waren schon weg.”

Nein.

“Und du hast dich gefragt, warum zum Teufel sie den Gong aufgezogen hat.”

dooooooong.

Er erinnerte sich an noch etwas. Ein Geräusch. Ein Piepen? 

“Du wusstest genau.. “ 

Die Türklingel? Sein Kopf rauschte.

“.. dass sie eingeschlossen war!” 

Ein schriller Ton, fast schon ein Kreischen, zischte plötzlich durch seinen Kopf, gefolgt von einem stechenden Schmerz.

Ein Schrei! Es war ein Schrei! Sie hat geschrien!

„Genau auf diesem Sessel da hast du gesessen! Sie hat nach dir gerufen. Sieben mal! Ich weiß genau, dass du mitgezählt hast. Jeden einzelnen Hilferuf hast du gezählt und gehofft, dass es der letzte war. Ich weiß genau, dass du diesen Klang noch heute in deinen Ohren hören kannst.“

Plötzlich zog der Besucher ein Messer aus seiner Tasche und warf sich mit einem Satz auf ihn. Er war nicht in der Lage, auszuweichen. Sie fielen hinter dem Sessel auf den Boden.

„Dann bist du nach draußen gegangen. Hast dir Zigaretten und Alkohol gekauft und dich auf die Parkbank gesetzt. Und dann hast du gewartet. Du hast einfach ein paar Stunden gewartet, bis es vorbei ist. Du warst betrunken und wusstest, dass der Wodka sein übriges tun würde. Doch du kannst dich nicht vor deiner Verantwortung verstecken!“

„Nein! Ich konnte ihr nicht mehr helfen! Es war zu spät, ich konnte nichts mehr tun! Ich hatte so viel getrunken! Ich wollte nur an die Luft! Als ich zurückkam, war sie tot!”

„Ja, das erzählst du der ganzen Welt. Aber nicht mir. Mich kannst du nicht täuschen.“

Der Angreifer stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn. Er brach zu Boden. Er kam mit seinem Gesicht langsam ganz nah an seines heran. Er konnte sich selbst in seinen Augen erkennen.

„Du musst endlich bezahlen.“

Er fühlte einen stechenden Schmerz in seinem Bauch. Er schrie auf. Noch ein Stich. Plötzlich ließ der Angreifer von ihm ab. Er hielt den Griff des Messers umklammert, das in seinem Rumpf steckte. Er schrie erneut. Er schaute sich um. Wo ist er hin? Er versuchte sich aufzurichten, brach jedoch unter den Schmerzen der Stichverletzungen zusammen. Ein zweiter Versuch. Komm schon! Er schaffte es, sich aufzusetzen und sich an die Wand zu lehnen. Er spürte sein Herz schlagen. Das Smartphone! Ich kann Hilfe rufen! Der Tisch stand in Reichweite. Er streckte seinen Arm aus und tastete auf der Tischplatte entlang. Kein Smartphone. Kein Smartphone?! Er stockte. 

Er stützte sich mit den Armen nach oben, gerade hoch genug um flach auf die Tischplatte schauen zu können. Kein Smartphone! Wo war das Smartphone? Hatte der Angreifer es genommen?

„Niemand hat irgendetwas weggenommen.“ sein Kopf fuhr erschrocken herum. Da war er wieder. „Das muss endlich ein Ende haben. Du weißt, dass ich es tun musste.“

„Nein, ich will noch nicht sterben!“ Blut lief aus seinem Mund.

“Bist du sicher?” 

“Ja, ich bin sicher, bitte.. ” 

Sein Gegenüber lächelte und plötzlich war er verschwunden. Plötzlich schaute er nicht mehr dem Angreifer ins Gesicht, sondern dem abgemagerten Mann mit den leeren Augen in Sarahs altem Spiegel. Der alte Spiegel mit den goldenen Verzierungen am Rand. Und das letzte was er hörte, war das träge Ticken der alten Wanduhr. 

Tick – Wer zum Teufel – Tock – braucht schon eine Sauna in der Wohnung.

 

Tick.

One thought on “Ein kleines bisschen Glück

  1. Wow! Wirklich tolle Geschichte! Es hat Spaß gemacht zu lesen und die Spannung bestand konstant von Anfang bis Ende. Das Ende kam mir allerdings etwas plötzlich. Du hättest die Geschichte in meinen Augen ruhig noch etwas ausschmücken können. Dran bleiben!:)

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