Keiji-ChanBarbara

Zunächst öffnete Klaus die Haustür nur einen kleinen Spalt, gerade genug für die kleine Minka, um sich hindurchquetschen zu können. Warum musste auch gerade er die vermutlich einzige Katze besitzen, die das Prinzip einer Katzenklappe selbst nach unzähligen Versuchen nicht verstand? Er blickte der Katzendame in einer Mischung aus Belustigung und Resignation hinterher, bis sie aus seinem eingeschränkten Blickfeld verschwunden war. Schlussendlich schob Klaus die Tür nun also doch komplett auf, konnte mit seinem aufmerksamen Blick jedoch nur noch ein kleines Stück braunen Fells entdecken, ehe Minka vollständig hinter der Hecke im Nachbargarten in Richtung Waldstück verschwunden war.

Klaus’ Blick schweifte durch die übrigen Gärten dieser ruhigen Seitenstraße, bis sein Blick am strahlend blauen Himmel haften blieb. Die Sonne war gerade hinter einem der Nachbardächer verschwunden, doch den angenehmen Temperaturen tat dies keinen Abbruch. Unvermittelt entschied sich Klaus, das schöne Wetter noch ein wenig zu genießen und sich auf die Stufen vor sich zu setzen. Ohne ein Gefühl für Zeit blieb er dort sitzen und genoss die Ruhe. Seine Frau war arbeiten, die Tochter in der Schule. Plötzlich wurde das friedliche Zwitschern der Vögel jäh unterbrochen. In seinen Augenwinkeln vernahm Klaus ganz deutlich ein aufblitzendes Licht, ehe kurz darauf eine Katze laut und offenbar nicht gerade fröhlich aufschrie. Sofort sprang Klaus von den Stufen seines Hauses auf und eilte in Richtung der Schreie. Als er jedoch nach einer knappen Minute den Ort des Geschehen am Waldrand erreicht hatte, konnte er nichts Verdächtiges entdecken, bloß eine aufgeschreckte Minka, die mit aufgestelltem und buschigem Schwanz in den Wald hinein starrte. Obwohl Klaus einige Sekunden lang den Atem anhielt und stur in den Wald blickte, konnte er keinen Grund für Minkas Verhalten ausfindig machen. Vermutlich war es bloß ein frecher Vogel oder herumtollende Kinder. Langsam ging Klaus in die Hocke und streckte seine Hand nach dem aufgeschreckten Kätzchen aus. Ein paar Streicheleinheiten am Kopf und vor allem am Kinn, schon war alles vergessen und die neugierige Freigängerin schob sich wieder schnurrend an ihrem Herrchen vorbei in Richtung Wald. Da plötzlich sah Klaus etwas. Minka hatte einen kleinen Bogen geschlagen und war einem schwarzen Gegenstand ausgewichen, den er selbst im Gras gar nicht wahrgenommen hatte. Neugierig und verwundert hob Klaus das schwarze Rechteck auf und erkannte sofort, dass es sich hierbei um ein Handy handelte. Es war ein neueres Modell, mit einer dieser hochwertigen Kameras, die mittlerweile um einiges besser waren als die Profikameras, die er selbst noch aus seiner Jugendzeit kannte.

Von ein wenig Erde abgesehen war das Handy – wobei, mittlerweile sagte man ja „Smartphone“ – noch sehr sauber, es könnte also noch nicht lange dort gelegen haben. Vermutlich hatte es also erst vor Kurzem Jemand verloren. Und, so kam ihm gerade in den Sinn, vielleicht war es auch eben dieser Jemand, der den Blitz ausgelöst hatte, den Klaus vorhin gesehen hatte. Vermutlich war das dann auch der Grund für Minkas eigentümliches Verhalten gewesen, denn das Blitzlicht von Kameras war der merkwürdigen Katze beinah ebenso suspekt wie etwas so Simples wie Katzenklappen. Wer mag das Handy wohl hier verloren haben? Klaus tippte den Bildschirm des Telefons an, mit etwas Glück gab es keine Sperre und er konnte direkt nach Hinweisen auf den Eigentümer suchen. Doch. Natürlich gab es eine Sperre, ein Sperrmuster, um genau zu sein. Und obwohl es theoretisch mehrere hunderttausend verschiedene Möglichkeiten für ein solches Sperrmuster gab, hatte Klaus sofort einen Einfall, wie er das richtige Muster erraten könnte. Er ging mit dem Handy raus aus dem Wald, bis er wieder vor seinem Haus stand. Anschließend hielt er den Bildschirm des gefundenen Handys dicht vor sein Gesicht und drehte es vorsichtig hin und her, während er genau auf die Spiegelungen der Sonne achtete. Und siehe da, er hatte recht. Wie bei seinem eigenen Handy ebenfalls, sah er auch auf dem Bildschirm des Fundstücks Fingerabdrücke und Fettschlieren. Unter all dem stach jedoch ein Muster deutlich hervor: ein auffälliges Zickzack-Muster, das über das gesamte Display führte. Zuversichtlich, dass es sich hierbei tatsächlich um das gesuchte Entsperrmuster handelte, probierte er es sofort aus… und hatte Erfolg. Der dunkelrote Sperrbildschirm verschwand und wurde ersetzt durch die Fotografie eines tiefschwarzen Rabens, der majestätisch auf einem Ast thronte. Ein hübsches Foto, doch verriet es ihm leider nichts über die Identität des Besitzers dieses Telefons. So machte sich Klaus daran, in den Kontakten nach einem Namen zu suchen, doch ungewöhnlicherweise gab es zwischen all diesen Namen keinen jener Kontakte, die ihm in diesem Fall sofort hilfreich sein könnten. Unter all diesen eingespeicherten Nummern ließ sich keine „Mutter” finden, kein „Paps” und auch kein „Schatz”, „Hase” oder „Mausebär”. Selbst der mittlerweile fast obligatorische „eigene Nummer”-Kontakt war offenbar deaktiviert. Kurz blickte Klaus genervt vom Bildschirm auf, eher er sich nach drinnen zurückzog und es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem machte. Hier konnte er sich wieder in seine Suche vertiefen, ohne der prallen Sonne ausgesetzt sein zu müssen. Dann würde er wohl mehr in die Privatsphäre dieser unbekannten Person eindringen und sich in den sozialen Netzwerken umschauen müssen. Er gestand es sich nur ungern selbst ein, aber das würde sicher interessant werden. Steckte nicht in Jedem von uns ein kleiner Stalker oder Voyeur, der bloß von den gesellschaftlichen Zwängen zurückgedrängt wurde – und von den Gesetzen natürlich?!

Zunächst widmete sich Klaus Facebook. Natürlich prangte die App sofort auf der ersten Seite der Arbeitsfläche. Doch nach einem Tippen mit dem Finger auf das weltberühmte weiß-blaue Symbol trat schnell Ernüchterung ein. Sogar Facebook war mit einem Sperrmuster gesichert worden und es war nicht dasselbe Muster, das auch das Handy selbst freigegeben hatte, wie Klaus nach einer Sekunde feststellen musste. Er versuchte es noch mit den zwei beliebtesten Mustern, einem Z und einem L, doch keines davon war korrekt und nun war der Zugriff auf die App gesperrt. Der Versuch, stattdessen zumindest WhatsApp öffnen zu können, war ebenso wenig von Erfolg gekrönt und so kam Klaus nicht umhin, den Besitzer merkwürdig zu finden. Entweder er achtete penibel auf die Sicherheit seiner sensiblen Daten und verdiente Respekt… oder er war schlichtweg paranoid. Klaus gab auf. Wenn er nicht selbst herausfinden konnte, wer das Handy verloren hatte, dann sollte der Besitzer stattdessen doch einfach ihn finden. Er zückte sein eigenes Handy und machte von seinem Fundstück ein paar Fotos von allen Seiten, um diese selbst ins Internet stellen. Vielleicht hatte er ja zumindest noch so viel Glück, dass sich in der Galerie ein paar Fotos des Besitzers befanden – „Selfies”, wie man dazu mittlerweile sagte. Zu seinem Erstaunen war die Galerie des Handys sehr aufgeräumt, neben dem “Kamera”-Ordner gab es nur noch einen „Download”-Ordner, in dem allerdings bis auf weitere Bilder und Zeichnungen von Raben nichts weiter zu finden war. Also der Kamera-Ordner. Vielleicht könnte er hier ja seinen inneren Stalker ein wenig besänftigen. Er tippte das stilisierte Kamera-Symbol an, doch was er fand, verschlug Klaus augenblicklich den Atem. Was er fand, waren keine Bilder einer jungen Frau oder eines jungen Mannes, dem womöglich das Handy gehörte. Er fand auch keine kitschigen und peinlichen Pärchen-Fotos, ja noch nicht einmal Katzenbilder. Stattdessen sah er bloß immer wieder dasselbe Motiv: sich selbst. Diese Bilder waren alle an verschiedenen Tagen und Orten aufgenommen worden, doch sie zeigten alle bloß denselben Mann mittleren Alters mit demselben dunkelgrauen Haar, denselben weißen Schläfen und denselben tiefen Augenringen. Beinahe ungläubig und aufs Tiefste erschrocken hielt er das Handy näher an sein Gesicht und zog das Motiv noch größer. Nun wollte er es ganz besonders dringend wissen: Wem gehörte dieses verfluchte Handy? Und aus welchem Grund verfolgte dieser Jemand ihn? Wie in Trance wischte er immer wieder durch die Bilder, schaute sie sich immer und immer wieder an. Tief versunken in das Studium dieser Fotos bemerkte er nicht einmal, wie spät es bereits war. Das und die Tatsache, dass er offenbar immer wieder den Atem anhielt, merkte er erst, als die Haustür zugeschlagen wurde und seine Frau zwei Meter hinter ihm im Eingang zum Wohnzimmer stand. Schnell steckte er das fremde Handy in seine Hosentasche. Bevor er selbst herausgefunden hatte, was hier gespielt wurde, wollte er nicht auch noch seine Frau involvieren.

»Klaus, musst du deine Pornofilmchen wirklich hier im Wohnzimmer schauen? Was wenn unsere Tochter hinein geplatzt wäre?«
Zu gerne würde er ihr erklären, dass er keine Pornos geschaut hatte und dass sie gefälligst nicht so mit ihm zu reden habe. Doch in Anbetracht der Situation hielt er sich lieber zurück, murmelte ein paar unverständliche Wortfetzen und schaltete den Fernseher ein. Auch den Rest des Abends blieb Klaus eher wortkarg und verabschiedete sich früh ins Bett. Er konnte einfach nicht aufhören, diese Fotos von sich anzustarren. Erst als zwei Stunden später Petra zu ihm ins Bett stieg, legte er das Handy unter sein Kopfkissen und schlief unruhig ein.
Mitten im tiefsten Schlaf schreckte Klaus plötzlich hoch. Irgendwo hörte er das Lied „Sweet Dreams”, nur sehr leise, aber dennoch deutlich. Schlaftrunken brauchte er ein paar Sekunden, ehe er sich orientieren und die Quelle des Gesangs unter seinem Kopfkissen lokalisieren konnte. Während er hastig nach dem gefundenen Handy tastete, blickte er kurz hinüber zu Petra, die allerdings seelenruhig weiterschlief. Er hingegen würde dieses Lied nie überhören und einfach weiterschlafen können, nicht bei diesem speziellen Lied. Er wusste nicht wieso, doch die Interpretation dieses 80er-Jahre-Klassikers vom Schock-Rocker Marilyn Manson war in seinen Augen einfach gruselig und hinterließ bei ihm immer ein ungutes Gefühl. Mit diesem Gefühl im Magen und seines restlichen Schlafes beraubt, schleppte sich der übermüdete Bankmanager in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Ein großartiger Start in das Wochenende also, wie er zynisch zu sich selbst sagte. Als sich Stunden später Ehefrau und Tochter ebenfalls in die Küche gesellten, um zu frühstücken, hatte er bereits zwei Kannen Kaffee und eine halbe Schachtel Zigaretten verbraucht. Trotzdem zog Klaus das morgendliche Lesen der Tageszeitung dem Smalltalk mit seiner Familie am Frühstückstisch vor, das gehörte sich für ihn einfach so. Als es dann jedoch in seiner Hosentasche vibrierte, zog Klaus den brummenden kleinen Apparat unmittelbar aus der Hose hervor – eine reflexartige Handlung, über die er als dauerhaft erreichbare Führungspersönlichkeit gar nicht mehr nachdachte. Erst als Petra mit einem neugierigen »Oh, ein neues Handy? Davon hast du ja gar nichts erzählt…« die Hand nach dem, wie er jetzt erst realisierte, fremden Handy ausstreckte, bemerkte er seinen unbedachten Fauxpas. Bevor Petras rechte Hand das vermeintlich neue Mobiltelefon jedoch ergreifen konnte, schlug Klaus diese mit seiner eigenen rechten Faust derart heftig auf die massive hölzerne Tischplatte, dass Jeder der drei Anwesenden das darauffolgenden Knacken deutlich hören konnte.
»WAS HABE ICH DIR ÜBER DAS ANFASSEN MEINER SACHEN GESAGT?! NICHT! ANFASSEN! Und wage es ja nicht, jetzt wieder auf die Tränendrüse zu drücken!«
Als wäre das ihr Stichwort, erhob sich die ruhige Kate tonlos, räumte den Frühstückstisch ab und zog sich in ihr Zimmer zurück. Ihre Ruhe währte jedoch nicht allzu lange, da Klaus nur wenige Minuten später seine wimmernde Ehefrau in der Küche zurückließ und seiner Tochter in ihr Zimmer folgte. Die Tür war nicht verschlossen, denn Kate wusste nur allzu gut, wie sehr ihr Vater verschlossene Türen in seinem Haus hasste. Als ihr Vater den Raum betrat, blätterte sie gerade in einem Buch herum, legte dies aber sofort zur Seite und schenkte ihrem Vater die ganze Aufmerksamkeit. Er setzte sich zu ihr aufs Bett und legte einen Arm um ihre Schulter.
»Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe, Prinzessin«, begann er mit leiser, sanfter Stimme. »Du weißt, wie wichtig es für mich ist, dass es meinem kleinen Mädchen gut geht. Und: Dass ich mich immer auf dich verlassen kann«
Mit diesen Worten legte er seine Hand auf ihren linken Oberschenkel, wo ihre beiden Hände zitternd ruhten. Dann jedoch wurde Klaus von einem erneuten Vibrieren in seiner Hosentasche unterbrochen. Genervt von der Unterbrechung und dennoch neugierig, zog er seine rechte Hand von Kates Schulter zurück und tastete nach dem vibrierende Mobiltelefon. Ein Blick auf das Display zeigte zwei MMS-Nachrichten für seinen Stalker an. Die Nachrichten hatten jedoch keinen Text als Inhalt, bloß beide eine Bilddatei als Anhang. Er öffnete die Anhänge und erstarrte augenblicklich vor Schock. Das erste Bild war eine Nahaufnahme von Petra, die sich im Badezimmer-Spiegel betrachtete. Petras Gesicht und ihr nur mit einem BH bekleideter Oberkörper zeigten mehrere blaue Flecken, manche bereits verblasst, doch der Großteil offenbar recht frisch. Am unteren Bildrand prangten bedrohlich die Worte »Ich weiß, wer du bist…«. Aufgewühlt wischte er zur Seite, zum nächsten Anhang. Ein weiteres Foto, dieses Mal jedoch zeigte es ihn mit Kate in ihrem Zimmer, die Hand des Mädchens im Schritt ihres Vaters. Zwar war dieser Bereich verpixelt worden, man erkannte jedoch deutlich die Klaus’ Jeans, die heruntergelassen am Boden lag. Auch dieses Mal stand am unteren Bildrand etwas geschrieben und Klaus erschrak beim Lesen sogar noch mehr als beim bloßen Anblick der Bilder: »… Thomas!«

Nun war es ihm zu viel. Klaus schnappte sich seine Geldbörse und die Schlüssel und fuhr los. Ohne Ziel, ohne darauf zu achten, wo lang er fuhr, hauptsache weg. Nach 20 Minuten des Umherfahrens hielt er letztendlich am Straßenrand an und versuchte die Nummer zu erreichen, die ihm diese Nachrichten geschickt hatte. Doch es hatte keinen Zweck. Das Telefonat wurde ohne Klingeln sofort beendet, eine Mailbox gab es offenbar auch nicht. So tat er das Letzte, was noch übrig blieb und antwortete der unbekannten Nummer per SMS. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
Eigentlich hatte er erwartet, dass die Nachricht nicht versendet werden könne und dass er stattdessen eine Fehlermeldung erhalten würde. Doch zu seiner Überraschung erhielt er innerhalb weniger Sekunden den Zustellbericht und sogar wenig später eine Antwort. Unglücklicherweise enthielt sie keinerlei Erklärungen oder Hinweise, lediglich eine Adresse: »Bahnhofstraße 87c. Ich warte.«
Mit durchgedrücktem Gaspedal und ohne Rücksicht auf mögliche Blitzer raste Klaus zur angegebenen Adresse. Wer auch immer versuchte, ihn irgendwie unter Druck zu setzen, würde das noch bereuen. Nach wenigen Minuten erreichte Klaus die Bahnhofstraße 87c. Auf den ersten Blick war es ein sehr unscheinbares Wohngebäude mit verblasster blauer Fassade und heruntergelassenen Rollläden. Der Eingang, so ein kleines Hinweisschild für den Postboten, befand sich auf der Rückseite des Gebäudes. Die Haustür war nicht abgeschlossen, er wurde wohl tatsächlich bereits erwartet. Vorsichtig trat er durch die Tür, doch er konnte kaum die Hand vor den Augen sehen. Die heruntergelassenen Rollläden und die hohen Häuser in der Nachbarschaft taten alles, um es hier drin stockfinster zu gestalten. Glücklicherweise fand Klaus schnell den obligatorischen Lichtschalter rechts neben der Tür, er musste nicht einmal hinsehen, um ihn zu finden. Zu seiner Überraschung ertastete er jedoch keinen üblichen Kippschalter, sondern stattdessen einen dieser sehr altmodischen Drehschalter, wie man sie heutzutage eigentlich nur noch in sehr alten Häusern finden sollte. Nichtsdestotrotz erwachte durch das Betätigen des Schalters eine Deckenlampe zum Leben, wenn auch nur eine einzige Glühbirne am Ende des Raums. Offenbar handelte es sich hierbei jedoch um eine billige Energiesparlampe, denn das Licht der Glühbirne wurde nur sehr langsam heller. Mit langsamen Schritten ging er tiefer in den noch immer sehr dunklen Raum, konnte bisher aber keine andere Person ausmachen. Allerdings weigerte sich Klaus, laut los zu rufen und somit das oberste Klischee aller Hollywood-Filme Realität werden zu lassen. Aus dem Nichts jedoch spürte Klaus einen Schmerz, ein Stechen in seinem Hals. Als er sich ruckartig umdrehte, stand tatsächlich Jemand hinter ihm. Durch das die Eingangstür hereinfallende Licht von draußen konnte er nichts Genaues sehen, lediglich die Silhouette einer etwas kleineren Person konnte er deutlich erkennen. Doch noch bevor er etwas zu ihr sagen oder eine Hand zu seinem schmerzenden Hals hochreißen konnte, verlor er langsam die Kontrolle über seinen Körper. Es fühlte sich an, als verwandelten sich all seine Muskeln langsam in Pudding. Er versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Versuchte, die Gestalt vor sich zu fassen zu bekommen. Doch als habe er sämtliche Kraft verloren, zog sein Körper ihn langsam zu Boden. Er spürte noch einen Stoß gegen die Brust, dann wurde es schwarz um ihn. Alles war wieder stockfinster, doch er glaubte zu spüren, wie sich alles um ihn herum drehte. Als die Welt endlich wieder zum Stillstand gekommen war, lag Klaus auf einem harten, staubigen Boden, das konnte er sogar in dieser Dunkelheit fühlen. Doch dieser Eindruck war für ihn nur ganz weit entfernt, denn was er vor allen anderen Dingen spürte, war Schmerz. Noch immer außer Stande, seinem eigenen Körper wieder befehle zu erteilen, lag Klaus auf diesem harten Boden und hatte das Gefühl, sei Körper stehe in Flammen. Am Liebsten hätte er ob dieser wahnsinnigen Schmerzen losgeschrien, doch selbst das war ihm zur zeit nicht vergönnt. Dann hörte er Schritte. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber irgendetwas an diesen Schritten hörte sich merkwürdig an. Sein Verstand war vermutlich zu vernebelt von den Schmerzen, um diese sicherlich völlig einfache Schlussfolgerung ziehen zu können. Die Schritte kamen immer näher und nach einer kleinen, von einem Klacken begleiteten Pause, erhellte sich sogar der staubige Boden, auf dem er lag. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, wie eine in einen schwarzen Umhang gehüllte Person immer näher kam, während sie einige steile Stufen hinabstieg. Diese Treppe war er offenbar heruntergefallen. Klaus wollte genauer hinschauen, wollte sein Gesicht zu dieser Treppe und der Person drehen, doch sein schmerzender Körper gehorchte auch weiterhin nicht seinen Befehlen. Stattdessen packte ihn die verhüllte Person und schleifte ihn über diesen staubigen Boden nach hinten, weg von der Treppe. Offenbar was es keine allzu kräftige Person, es kostete sie offensichtlich einige Mühe, den bewegungsunfähigen Mann über den Boden zu ziehen. Nur ruckweise schaffte es der Unbekannte, Klaus zu einem Stuhl in der Mitte des Zimmers zu schleifen. Mit jedem Ruck durchzog Klaus eine noch größere Woge des Schmerzes, viel schlimmer als der ohnehin schon allgegenwärtige Schmerz. Er war sich nicht sicher, aber nach den Schmerzen nach zu Urteilen war mindestens eines seiner Beine gebrochen, auch sein rechter Arm wirkte, als stehe er in Flammen. Rücksichtslos und ohne ein Wort mit ihm zu wechseln, setzte dieser Fremde ihn auf und hob ihn, nach einer kleinen Verschnaufpause und unter großer Mühe, auf den bereit stehenden Stuhl hinauf.
Den Oberkörper band sie mit Kabelbinder am Stuhl fest und setzte sich im Anschluss ebenfalls auf einen augenscheinlich viel bequemeren Stuhl weiter hinten. Mit aller Willenskraft konzentrierte sich Klaus darauf, sein Gegenüber genauer in Augenschein zu nehmen. Doch neben der bereits festgestellten Körpergröße konnte er nicht viel erkennen, außer dass es eine eher schmächtigere Statur war, die der Angreifer hatte. Durch einen langen Mantel mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze war es ihm unmöglich, weitere Details ausfindig zu machen. Doch als vor ihm ein großer Fernsehbildschirm zum Leben erwachte, lenkte Klaus seine gesamte Aufmerksamkeit weg dorthin und versuchte, mehr schlecht als recht, die grauenhaften Schmerzen in seinem Bein auszublenden. Auf dem Fernsehbildschirm sah Klaus nun ein Foto von sich selbst, die Aufnahme dürfte nur wenige Tage alt sein. Er wollte fragen, was das alles hier sollte, doch noch immer war er nicht in der Lage, sich zu bewegen oder gar zu sprechen. Stattdessen ergriff die verhüllte Person nun das Wort.

»Schön, dass du es einrichten konntest… „Klaus”…«
Es war eindeutig die Stimme einer jungen Frau, vielleicht Anfang, Mitte 20. Aber so sehr er es auch versucht, er konnte die Stimme keiner ihm bekannten Person zuordnen. Da ihm nichts weiter übrig blieb, hörte er der Frau daher weiter zu.
»Du musst dir keine Sorgen machen. Schon bald wirst du dich wieder bewegen können. Deine Muskeln befinden sich zur Zeit bloß ein wenig im Tiefschlaf. Der Rest von dir bleibt natürlich unbeeinträchtigt – außer, dass du vielleicht ein wenig müde werden wirst. Aber ich versuche, mich zu beeilen. Lass mich dir eine Geschichte erzählen.«
Mit diesen Worten wechselte das Bild auf dem Fernseher und zu sehen war nun eine junge Familie, sehr ähnlich zu Klaus’ eigener. Er sah einen jungen Mann mit dichtem, schwarzem Haar, eine junge Frau mit hellbraunen Locken und ein Mädchen im frühen Teenageralter, mit dunkelrot gefärbtem Haar.
»In meiner Kindheit lebte ich mit meiner Mama und ihrem damaligen Freund in einem kleinen Mietshaus am anderen Ende des Landes. Wir hatten nicht viel Geld, aber zum Leben reichte es uns. Unglücklicherweise war der Freund meiner Mama ein cholerisches Arschloch, das meine Mutter regelmäßig grün und blau schlug. Dumm und verliebt, wie meine Mama war, ertrug sie diese Gewalt und blieb bei ihrem gewalttätigen Freund. Sie war stets der Meinung, sie habe es verdient, immerhin habe sie ihn gereizt und provoziert. Ich hatte Angst vor dem Mann und schloss mich regelmäßig in meinem Zimmer ein. Und anfangs ließ er mich dann auch in Ruhe. Als ich dann kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag das erste Mal meine Tag bekam, änderte sich alles. Wenn meine Mutter den Einkauf erledigte oder im Keller die schmutzige Wäsche machte, kam ihr Freund zu mir ins Zimmer. Ich sperrte nun jedes mal ab, doch nach einigen Wochen hatte er sich einen Ersatzschlüssel anfertigen lassen und ließ sich durch eine verriegelte Tür nicht mehr aufhalten. Gerade am Anfang sprach er immer sehr sanft mit mir, als wolle er mich trösten. Er drängte mich dazu, Dinge mit ihm zu tun. Und er drohte mir, mich ins Heim zu schicken, wenn ich ihm nicht gehorchen oder meiner Mama etwas erzählen sollte.«

Die junge Frau machte eine winzige Pause, sie räusperte sich kurz und fuhr unbeirrbar fort.
»Nach ein paar Monaten hatte er mit meiner Mama einen riesigen Streit. Sie hatte ihm zu wenig Zucker in den Kaffee getan. Wieder wurde ihr Freund handgreiflich, dieses Mal jedoch noch unbeherrschter als sonst. Ich stand auf, wollte ihn von meiner Mama wegzerren, doch er verpasste mit nur eine und schrie mich an, ich solle in mein Zimmer gehen. Nach fünf Minuten weiterer Schreierei kam er dann in mein Zimmer, während ich Mama noch immer in der Küche weinen hörte. Er sperrte die Tür ab und setzte sich zu mir. Er verlangte von mir wieder, dass ich ihm die Hose ausziehen und ihm „helfen” sollte. Dieses Mal blieb es aber nicht dabei. Das Schwein fing an, auch meine Hose auf zu machen und sagte, es sei nun an der Zeit für mich, eine erwachsene Frau zu werden. Ich zitterte am ganzen Körper, ich wollte das nicht. Ich hatte Angst vor ihm und vor dem, was er da von mir verlangte. Sofort schossen Tränen in meine Augen und ich flehte den Mann an, das nicht von mir zu verlangen. Er ignorierte mich und machte sich weiter an meiner Hose zu schaffen. Doch ich nahm allen Mut und alle Kraft zusammen, stieß ihn fest genug nach hinten, dass er vom Bett hinunter fiel und rannte los. Ich lief zur Zimmertür, sperrte sie auf und rannte den Flur entlang. Ich wollte die Treppen ins Erdgeschoss hinunter rennen, einfach nach draußen auf die Straße, weg von ihm. Doch noch vor der ersten Stufe hatte er mich bereits eingeholt und hielt mich fest. Ich wandt mich, wollte mich aus seinem festen Griff befreien, doch es half nichts. Als letzten Strohhalm versuchte ich, ihn zu treten und mich so von seinem Griff zu lösen, doch auch meinen heran schnellenden Fuß fing er mühelos in der Luft ab. In seinem Gesicht zeichnete sich sein grenzenloser Zorn ab. Er schrie mich an, was mir denn einfiele. Dann stieß er meinen Fuß ruckartig wieder zurück durch die Luft, so stark, dass ich das Gleichgewicht verlor und die Treppen hinunter fiel. Mit wutentbrannten Augen blickte er mich an, sah mir hinterher, während ich Stufe um Stufe erneut aufschlug. Die Schmerzen waren unerträglich, ich war wie gelähmt und konnte nicht aufstehen. So ähnlich wie du vorhin, „Klaus”. Mit unerträglichen Schmerzen und in meinem eigenen Blut lag ich am Fuß der Treppenstufen, doch Niemand kam, um mir zu helfen. Stattdessen hörte ich sein erneutes Geschrei von oben und meine Mama, die sich bei ihm für irgendetwas entschuldigte und ihn anbettelte, nicht zu gehen. Ihr Flehen war erfolglos, wenig später hörte ich, wie die Haustür von oben zugeschlagen wurde. Als er das Haus verlassen hatte, kam irgendwann meine Mama nach unten. Während sie die Stufen hinab stieg, schimpfte sie fürchterlich, was ich denn schon wieder angestellt hätte. Erst, als sie unten angelangt war und mich dort liegen sah, verschlug es ihr die Sprache.«
Die verhüllte junge Frau nahm sich eine kurze Atempause, während auf dem Fernseher ein neues Bild das alte ablöste. Klaus brauchte einen Moment, um das Gezeigte erkennen zu können, doch als sein Gehirn gerade eine Verknüpfung hergestellt und ihn erleuchtet hatte, erzählte die junge Frau weiter.
»Mama rief sofort den Notarzt. Es war sicher nicht einfach, sie zu verstehen, so stark schluchzte und weinte sie in den Telefonhörer. Nach wenigen Minuten waren die Ärzte angekommen, direkt durch den unteren Hintereingang, aus dem ich selbst zuvor so gern geflohen wäre. Der Arzt spritzte mir etwas und ein paar Sekunden später war ich ohne Bewusstsein. Als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Krankenhausbett. Alles an mir fühlte sich komisch an, ich war noch total benommen und konnte meinen linken Arm und die Beine nicht bewegen. Ich wollte mich umschauen, mich aufsetzen, doch eine Krankenpflegerin ermahnte mich freundlich, aber sehr energisch, mich nicht zu bewegen. Sie rief einen Arzt herbei, der auch innerhalb von Sekunden durch die Tür kam, gefolgt von meiner Mutter, die offenbar in ein ernstes Gespräch mit dem Arzt verwickelt war. Ein sehr netter, etwas älterer Arzt war es, der sich auf einen Stuhl zu mir setzte, während Mama mit ihrem Stuhl ganz nah an mein Kissen rückte und meine rechte, unverletzte Hand ergriff. Nur mit ganz leiser Stimme, kaum mehr als einem Flüstern, begann der Arzt mit mir zu sprechen und erklärte mir ganz genau und so kindgerecht wie möglich, was mit mir los war. Mein linker Arm war gebrochen und steckte in einem Gips, doch es war kein komplizierter Bruch. Nach ein paar Wochen sei der Arm wieder so gut wie neu. Zudem gäbe es einige Prellungen, doch auch die seien zwar ein wenig schmerzhaft, aber nichts Ernstes. Dann aber begann der Arzt zu Schlucken und Mama hielt meine Hand nun noch fester. Bei meinen rechten Bein war die Lage leider nicht so glimpflich gewesen wie bei meinem Arm. Ich hatte einen offenen, dreifachen Schien- und Wadenbeinbruch sowie einen ebenfalls offenen, sehr komplizierten Oberschenkelhalsbruch. In den Minuten, als ich hilflos unten an der Treppe lag, hatte ich eine Menge Blut verloren, während die gesplitterten Knochen Haut, Gewebe und Nerven zerstört hatten. So musste dieser unglaublich nette Arzt mir, einem dreizehnjährigen jungen Mädchen mitteilen…«

Die junge Frau stand von ihrem Stuhl auf und stützte sich dabei, wie Klaus erst jetzt bemerkte, auf einen hölzernen Gehstock. Sie machte mit dem rechten Bein einen Schritt nach vorne, während sie ihre Kapuze nach hinten schob und den langen Mantel von ihrem Bein weg zog. Klaus schaute sich die Frau nochmal genau an. Dieses Gesicht, diese Geschichte… langsam begriff er, was hier gespielt wurde. Sein Blick fiel auf das rechte Bein der jungen Frau und wieder auf das Bild, das im Fernseher angezeigt wurde. Offenbar war das ein Bild jenes mehrfach gebrochenen rechten Beins, von dem sie soeben erzählt hatte. Diese offenen Wunden, die Knochen, die dort herausragen, das viele Blut… Klaus musste den Blick schnell wieder abwenden und versuchte, seinen Blick auf das Gesicht der Frau zu fokussieren.
»… ›Frau Lindner… Barbara… es tut mir unendlich leid, aber… wir mussten dir dein rechtes Bein amputieren.‹
Ich war dreizehn! Dreizehn! Ich muss mein ganzes Leben mit diesem Ding hier leben, mit einer verdammten Prothese! Und dass nur, weil so ein triebgesteuertes, cholerisches Schwein seine Finger nicht von einem jungen Mädchen lassen konnte? Und weil dieses Schwein dann nicht einmal Manns genug war, mir zu helfen, nachdem es mich so schwer verletzt zurückgelassen hatte? Und was machte das Schwein dann? Er schickte meiner Mama ein bisschen Geld, damit sie auch ja bei ihrer Geschichte vom tollpatschigen, gestolperten Kind bleiben würde. Dann zog der Kerl ans andere Ende des Landes und heiratete eine andere Frau. Er nahm ihren Mädchennamen an und glaubt seitdem, er könne sich jeglicher Verantwortung entziehen! Sieh her, was du mir angetan hast, Thomas! Schau dir genau an, was ich dank dir jeden Tag meines restlichen Lebens ertragen muss!«
Barbaras Stimme versagte und so setzte sie sich wieder hin, um sich zu sammeln. Sie wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres Mantels aus dem Gesicht. Sie sah zu Thomas rüber, dem Mann, der sich heute Klaus nannte. Seine Lippen beganne zu zucken, er versuchte tatsächlich, etwas zu sagen. Barbara stand auf und kam näher, sie wollte hören, was er zu sagen hatte. Auf ihren Gehstock gestützt kam sie näher, nur um zu hören, wie der Mann, der ihr Leben zerstört hatte, zu einem billigen ›Es tut mir leid‹ ansetzte.
»Es tut dir leid? Du hast nicht nur mein Bein zerstört! Du hast mein ganzes Leben zerstört! Es hat ewig gedauert, bis ich wieder gelernt hatte, zu laufen. Ich habe die meisten schönen Erlebnisse einer Kindheit nur aus der Ferne beobachten können. Ich hatte keine Freunde, alle haben sich irgendwann von mir abgewandt! Immer war ich nur die einbeinige Außenseiterin, die Niemand dabei haben wollte! Sieben Jahre lang war ich in Therapie, um mich mit meinem neuen Leben arrangieren zu können und mich nicht vor einen Zug zu werfen! Du hast keine Ahnung, wie das ist!
Und dann finde ich dich hier, mit einer neuen Familie und einem neuen Namen und muss feststellen, dass du dich kein bisschen geändert hast. Du bist noch immer dasselbe cholerische, triebgesteuerte Schwein wie vor all den Jahren! Aber damit ist jetzt Schluss. Und dann wirst du auch wissen, wie es ist, wenn das Lebe zerstört wurde.«
Mit diesen Worten gab sie ihm eine weitere Spritze, dieses Mal direkt in sein noch immer schmerzendes Bein. Er hatte noch immer keine wirkliche Kontrolle über seinen Körper, der Versuch zu Sprechen vorhin hatte ihn alles an Körper- und Willenskraft gekostet, was er aufbringen konnte. Barbara zog seine beiden Beine auseinander und nun konnte Thomas auch erkennen, was genau an seinem Bein so höllisch weh getan hatte, bis er vorhin diese Spritze erhalten hatte. Auch er hatte sich bei seinem Sturz das Bein gebrochen und auch bei ihm war es ein offener Bruch. Doch im Vergleich zu dem Bild auf dem Fernseher vor ihm hatte er noch Glück gehabt. Es war ein einzelner Bruch am Schienbein, kein dreifacher und erst recht kein Bruch des Oberschenkelhalses. Doch auf die minimale Erleichterung folgte prompt schiere Panik, als Barbara sich eine OP-Maske und über ihrem Mantel sogar einen OP-Kittel anzog und sich ihm mit etwas näherte, das wie eine Handkreissäge aussah. Sie hatte doch nicht etwa vor, was er befürchtete? Seine Panik schien sich jedoch zu bestätigen, als die junge Frau seelenruhig und ohne ein weiteres Wort damit begann, Thomas’ Oberschenkel abzubinden. Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn, doch noch immer kraftlos und obendrein immer schläfriger, war Thomas außer Stande, sich zu wehren oder zumindest zu schreien. Hilflos musste er mit ansehen, wie diese junge Frau, die er als Teenie zuletzt gesehen hatte, die Säge ein schaltete. Das markerschütternde Geräusch der kreisenden Klinge drang in seine Ohren und er wünschte sich, er könne diese ebenso schließen wie seine Augen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mitanzuhören, wie das grelle Geräusch der Säge dumpfer wurde, während diese in das Fleisch seines Oberschenkels schnitt. Obwohl er seine Augen fest verschlossen hielt, sah er vor seinem inneren Auge unfassbare Szenen vor sich, immer weiter angeheizt durch die nicht ausblendbaren Geräusche der Säge. Zu Wissen, was sich an seinem Bein abspielte, obwohl er dort zur Zeit keine Schmerzen verspürte, war unheimlich surreal. Nur die Vibrationen der Säge, die sich auf seinen gesamten Körper übertrugen, zeugten neben den Geräuschen von dem Grauen, das er erdulden musste. Als das markerschütternde Geräusch der Säge erstarb, konnte Thomas vor Müdigkeit und Schock kaum noch seine Augen öffnen. Doch er musste sie öffnen. Er musste mit eigenen Augen stehen, was Barbara ihm angetan hatte. Es schien ihm so unwirklich, sein abgetrenntes Bein vor sich auf dem dreckigen Boden liegen zu sehen. Und doch war es die Realität, die vor ihm lag. Dann sah er im Augenwinkel, wie Barbara ihre Hand in seine Hose steckte, jedoch nicht auf die Art und Weise, die er selbst sich immer gewünscht hatte. Stattdessen griff sie in seine Hosentasche und holte dort die beiden Handys raus: ihr eigenes und das von Thomas. »Vielen Dank für’s Aufbewahren, Thomas«, sagte Barbara in einem unheimlich freundlichen Ton, der nicht erwarten ließe, dass sie ihm gerade ein Bein abgesägt hatte. Ihr eigenes Handy steckte sie ein, Thomas’ Handy behielt sie in der Hand. Den OP-Kittel und die OP-Maske steckte sie zusammen mit ihren benutzten Handschuhen und der Säge in eine Tasche, die unter ihrem Stuhl versteckt gestanden hatte und packte alles zusammen. Den 5-Euro teuren USB-Stick aus dem Supermarkt ließ Barbara weiter im Fernseher stecken. So konnte sich Thomas, wenn er denn wollte, noch ein wenig anschauen, was er ihr vor dreizehn Jahren angetan hatte. Mit einem Messer aus ihrer Manteltasche schnitt sie die Kabelbinder durch, die Thomas an dem Stuhl festgehalten hatten, so dass ihr noch immer bewegungsunfähiger Schänder vornüber kippte und auf dem blutverschmierten Boden liegen blieb. Barbara zog sich ihre Kapuze wieder tief ins Gesicht, schnappte sich ihre Tasche und ihren Gehstock und ging in Richtung der Treppen nach oben. Auf der obersten Stufe legte sie dann Thomas’ Handy ab.
»Hier… falls du den Notarzt rufen möchtest…«

Anschließend trat sie durch die Haustür nach draußen, schloss diese wieder ab – wie sie es seit knapp zwölf Jahren bei jeder Tür machte – und machte sich auf den Weg zum nahegelegenen Bahnhof. Sie hatte Glück: Wenn sie sich beeilte, erwischte sie noch den nächsten Expresszug und war noch vor Einbruch der Nacht wieder zu Hause.

9 thoughts on “Barbara

  1. Puuuuuh, da stockt einem der Atem und zwischen Ekel und Bewunderung ist alles dabei. Schockierend wie normal einem die Schilderung der Ereignisse am Ende rüberkommen. Echt gut geschrieben. Rache ist schon ne extreme Triebfeder und genau so beschreibst du das hier auch. Richtig, richtig gut. Stilistisch hätte ich mir den ein oder anderen Absatz gewünscht, aber schlussendlich trübte es das Leseerlebnis keineswegs!
    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting…

    LG Frank aka leonjoestick (Geschichte: Der Ponyjäger)

  2. Hallo, du Lieber

    Als Katzenbesitzer, Literaturfreund und Kollege sage ich einfach nur:

    Chapeau!!

    Was für eine großartige Geschichte.

    Du hast ein riesiges Potenzial.

    Und das fiel mir direkt nach wenigen Sätzen auf.
    Du schreibst souverän und voller Kraft.
    Voller Leidenschaft.

    Voller Inbrunst.
    Voller Kreativität.

    Du hast die Parameter gut umgesetzt.
    Deine Grundidee ist sau geil.

    Deine Geschichte hat mich gefesselt und berührt.
    Und direkt abgeholt.

    Ich würde gerne noch mehr von dir lesen.
    Dein Finale war außerordentlich genial und perfekt inszeniert.
    Und super gelungen und spannend.

    Respekt und Kompliment.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.
    Und noch viel mehr Likes.

    Natürlich lasse ich dir ein Like zurück.

    Bitte schreib weiter.
    Und du wirst noch viele bezaubernde Leser erreichen.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Ich würde mich sehr freuen.

    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Vielen Dank.
    Swen

  3. Huiii, hart, krass, blutig. Eigentlich nicht so meins, aber ich habe es trotzdem mit Spannung gelesen.

    Ich war auch tatsächlich irritiert, dass ich die Hauptfigur so gar nicht sympathisch fand. Ich glaube, das ist für mich auch der größte Kritikpunkt: die Hauptfigur hat für mich keine richtige Wandlung durchgemacht. Also von unsympathisch zu symphatisch oder andersrum.
    Versteh mich nicht falsch, der Anfang mit der Katze, dem Wald, dem Entsperrmuster hat mich total gefesselt und da war dein Protagonist noch neutral und dann war er mir aber zu plötzlich zu negativ. Ich konnte einfach in der kurzen Zeit nicht genug Beziehung mit ihm aufbauen, als dass ich noch was Gutes in ihm gesehen hab, verstehst du? Und ich tu mich schwer eine Geschichte zu lesen, in der die Hauptfigur so krass ist.
    Ich glaube, ich bin einfach gewohnt, dass der Protagonist jemand ist, in den ich mich gerne hineinversetze und das wollte ich hier nicht.

    Aber: Die Idee deiner Geschichte ist toll, vor allem die Paralellen, die du ziehst und auch dein Schreibstil gefällt mir, aber ich konnte mich nicht richtig fallen lassen.

    Der letzte Absatz ist übrigens sehr gelungen. Der rundet die Geschichte ab und zeigt, wie kaputt Barbara durch ihre Vergangenheit ist, dass sie an sowas Belangloses, wie den Zug denkt.

    Ich hoffe, meine Worte sind nicht zu hart und du kannst verstehen, was ich meine.

    Liebe Grüße,
    Jenny /madame_papilio

    (Nur ein kleiner Schlüssel)

  4. Hey Du, man gut, dass Du den Weg zu Instagram gefunden hast. Sonst wäre mir diese Geschichte vielleicht entgangen. Du kriegst ein Like von mir, blutig ist genau mein Genre. Ich als blutiger 😂 Anfänger maße mir grundsätzlich nicht an, über Schwächen anderer Schreiberlinge zu urteilen, das sollen die Profis machen. Ich frage mich nur ob dir am Ende die Zeit ausging, zum Ende fehlte mir die bildliche, ausführliche Sprache der ersten 2/3. Ist aber auch egal, deine Geschichte gefällt mir und ich hoffe noch viele werden sie lesen.
    LG Melanie (Blaues Mondlicht)

  5. Wow, was für eine gruslige Geschichte. Aber dennoch hatte er es verdient, das Mitleid will nicht so recht aufkommen beim mir
    Gefiel mir sehr gut, toll geschrieben, vielleicht könnte man an manchen Stellen ein wenig kürzen, aber im Großen und Ganzen ist es eine klasse Kurzgeschichte.
    Sie hätte definitiv mehr Likes verdient, von mir hast du auf jeden Fall eines bekommen.💖
    Vielleicht hast du auch Zeit und Lust meine Geschichte zu lesen und Feedback zu geben.
    Ich würde mich sehr freuen.
    Liebe Grüße Lotte
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/der-alte-mann-und-die-pflegerin

  6. Hallo,

    auch ich bin durch Instagram auf deine Geschichte aufmerksam geworden. Wow, gut so, denn deine Geschichte ist wirklich düster. Da ich hier zum ersten Mal geschrieben habe, aber eine begeisterte Leserin bin, kann ich zum Stil nicht viel sagen, aber auf jeden Fall liest es sich toll. Allerdings hätte ich hier und da auch gerne mal einen Absatz gesehen.

    Ansich würde ich hier nur wiederholen, was schon gesagt wurde, so bleibt mir nur dir weiter viel Erfolg beim Voting zu wünschen. Mein Like habe ich natürlich auch da gelassen.

    Wenn du magst, kannst du ja mal bei meiner Geschichte “Ende gut?” vorbeischauen, würde mich freuen.

    Bleib gesund und schreib weiter.
    Monika

Schreibe einen Kommentar