Marcel84Eins. Zwei.

Vor zwei Wochen 

Da steht er in seiner neuen Wohnung.

Berlin, Zwingli Straße 1. Alexander gefiel die Anschrift gleich. Er hatte noch nie in einer Hausnummer eins gewohnt. Irgendwie elitär.

Auf jeden Fall machte die Adresse mehr her als der Karpfenbachweg 17 in Fockendorf. Altenburger Land. Thüringen. Mitten im Nirgendwo. 801 Einwohner.

 

Alexander ist nicht 802. Nicht mehr. Und 803 liegt auf dem Friedhof.

Fockendorf hatte er hinter sich gelassen. Er wäre sonst dort erstickt. Das wurde ihm heute erneut bewusst, als die Vergangenheit neben ihm saß.

 

Montag, 17.02 Uhr 

1212. Mehr steht da nicht drauf. Kein Name. Keine Erklärung.

Soll das der PIN sein? 

 

Da liegt ein Handy in meinem Briefkasten. In einer Folie, mit Ladekabel und einem Zettel. 

Was soll denn das? 

 

Sicher ein bescheuerter Scherz. Vielleicht von den Idioten da draußen? Hängen in ihren Ferien den ganzen Tag vor dem Hauseingang rum. Schieben Langeweile und glotzen jeden blöd an, der reingeht oder rauskommt.

 

Nee, dafür ist das Gerät doch viel zu teuer. Ein Samsung-Smartphone, neues Modell. Kein einziger Kratzer. So viel Kohle haben die doch gar nicht.

Oder haben sie es geklaut? Aber woher kennen die dann den PIN? 

 

1 – 2 – 1 – 2. Funktioniert tatsächlich. 

Es geht an!  

 

Aber es ist nichts drauf. Keine Apps. Total leer.

 

Muss ich das jetzt der Polizei melden? So in der Art: “Ich habe vielleicht ein gestohlenes Handy gefunden?”

 

Ah, sieh an! In der Galerie sind zwei Fotos.

Das ist das Café um die Ecke. Ja, das muss es sein. Ich erkenne diese blonde Verkäuferin.

Krass! Der Kunde auf dem Foto sieht aus wie ich.

Hat mich jemand heimlich fotografiert?

 

Nee, das bin ich nicht auf dem Foto. So eine Jacke habe ich doch gar nicht. 

Auf dem zweiten Bild sieht man ihn besser. 

Das Gesicht, der sieht echt total aus wie ich. 

Das muss ICH sein!

 

Aber diese abgeranzte Jeansjacke habe ich definitiv nie getragen.

Ist das Photoshop? Hat da jemand mein Gesicht auf einen anderen Mann montiert? 

Wer macht sich so eine Mühe?! 

So ein Unsinn!

 

Montag 17.43 Uhr

Okay, nochmal ganz langsam: Irgendjemand wirft ein Handy in meinen Briefkasten. Der muss mich kennen. Der weiß, wie ich aussehe. Das ist kein Zufall. 

Er will, dass ich in das Handy schaue und hinterlässt merkwürdige Fotos in der Galerie.

 

Soll mich das einschüchtern? Oder ist das ein Witz?

 

Ich könnte das Handy einfach wegwerfen. Oder vor die Tür legen, wenn es doch von diesen Trotteln kommt. Dann wüssten die auch, dass ich sie entlarvt hab.

 

Oder die Polizei anrufen. Aber was soll ich denen sagen? Dass jemand mir einen Streich spielt? Die haben wichtigere Dinge zu erledigen.

Irgendein Spinner macht sich die Mühe, fotografiert mich und fügt meinen Kopf dann in andere Bilder ein. 

Lustig ist das nicht wirklich. Vor allem, weil ich niemanden hier kenne. Wieso sollte mir jemand so einen Streich spielen wollen? 

Das müsste dann irgendein irrer Nachbar aus dem Haus sein. War ich dem zu laut beim Einzug? Macht halt nun mal Lärm, wenn man die Möbel aufbaut, herrje! 

Ganz sicher wird keiner meiner Freunde extra aus Leipzig hierher gefahren sein, um ein Handy bei mir einzuwerfen. Das sind mindestens zwei Stunden Fahrzeit!  

 

Und mit der Post wurde es nicht verschickt. Das muss schon jemand selbst eingeworfen haben. 

 

 

Montag, 21.21 Uhr

Hat dieses Handy eben gepiepst? 

Eine SMS. Die gibt es noch?

“Hallo! Ich bin dein Doppelgänger. Morgen melde ich mich wieder. Schlaf gut in deiner neuen Wohnung.” 

 

Bin ich hier bei der versteckten Kamera oder was? 

Mein “Doppelgänger”?

Was ist das für ein Verrückter? 

 

Ich ruf den jetzt an. Die Nummer von der SMS. 

Mal schauen, ob der die Eier hast, ranzugehen. 

 

Natürlich nicht. War ja klar.

Teilnehmer derzeit nicht erreichbar.

 

 

Dienstag, 17.11 Uhr:

Heute lag nichts im Briefkasten. 

Er wollte sich doch wieder melden, mein neuer Photoshop-Fan.

 

Wenn das jemand wäre, den ich kenne, hätte er sich sogar eine neue Nummer zugelegt. Und das teure Smartphone. Was für ein Aufwand ist das alles!

Da meint es jemand wirklich ernst.

 

Ich ruf den jetzt nochmal an.

Soll der ruhig wissen, dass ich mir nicht alles bieten lasse.

Selbst wenn er sein Handy wieder ausgeschaltet hat – den Anruf wird er ja dann sehen. 

 

Oh! Heute klingelt es ja sogar…. 

 

Dann geh halt nicht dran, du Schlappschwanz! 

Wie armselig…

 

Dienstag, 17.13 Uhr: 

Jetzt also doch! 

Wieder eine SMS. 

Dann halt so.

 

“Heute bin ich dir zum Büro nach Charlottenburg gefolgt. Hast mich im Bus gar nicht bemerkt, weil du immer auf dein neues Handy geschaut hast. Konntest die neue Nachricht von mir wohl gar nicht erwarten?” 

 

Gefolgt?

 

Na warte! 

Jetzt mach ich dich zur Sau! 

Wehe, du gehst wieder nicht ran!

 

Verdammt! 

Schnell ausgeschaltet! Dieser Feigling!

 

Vielleicht sollte ich jetzt doch die Polizei einschalten. Die könnten vielleicht ermitteln, wem die Nummer gehört.

 

Aber wenn es doch nur ein Scherz ist? Von Tim. Oder Emma. Oder Frank. Vielleicht allen zusammen? Weil ich weggezogen bin. So als fieses Abschiedsgeschenk?

Und ich komme dann mit der Polizei und Anzeige und dem ganzen Theater. 

Hinterher muss ich die Ermittlungen noch zahlen, weil ich sofort eskaliere und gleich 110 wähle. 

 

“Bin dir gefolgt” – soll das heißen, dieser Typ saß irgendwo im Bus? Hinter mir? Oder sogar neben mir?

Wie in so einem Agentenfilm. Mit einer Zeitung vor dem Gesicht?

Gruselige Vorstellung.

Was stimmt denn nicht mit dem? Hat der nichts zu tun? Ist dem langweilig, oder was? 

 

Oder es ist einer aus dem Büro. 

Hab ich jemanden die Stelle weggeschnappt? Will der mich jetzt deswegen fertig machen? 

 

Das alles ergibt einfach keinen Sinn. 

 

 

Mittwoch, 10:02 Uhr

Die schauen mich alle komisch an. Erst im Bus. Und eben in der Kaffeeküche. 

Ehrlich gesagt, kann ich sie verstehen. Ich muss wirken, als hätte ich Verfolgungswahn. 

Hab mich immer wieder im Bus umgedreht, aber da saß nur eine alte Frau hinter mir. Die hat immer sofort weggeschaut. Vermutlich dachte die, ich sei irre.

Hier im Büro haben sie mich alle normal gegrüßt. Aber was heißt das schon?

 

Der Rothaarige, wie heißt der noch? Der hat so seltsam misstrauisch gekuckt. Als wüsste er was. Aber dem traue ich sowas eigentlich nicht zu. Der hat doch einen Stock im Arsch. 

 

Ich werde das alles weiter beobachten. Die sollen ruhig merken, dass ich auf der Hut bin!

Und wenn ich einen konkreten Verdacht habe, dann komme ich aus der Deckung! 

Ich war am Anfang viel zu vertrauensselig.

Jetzt habe ich sie auf dem Radar. 

Alle. 

Was sie tun, wie sie sich verhalten – und wenn sie miteinander tuscheln…

 

 

Mittwoch, 20.22 Uhr: 

Wieder eine SMS!

“Ich bin jetzt an deinem Briefkasten.”

 

Schlafzimmer!

Ich muss zum Fenster im Schlafzimmer, dann kann ich runterschauen!

 

Da geht jemand vom Haus weg. 

Das könnte der Mann vom Foto sein!

Ja, das ist diese hässliche Jacke.

Das muss er sein! 

 

Dreh dich um! Komm schon! 

Nein, tut er nicht, Mist! 

 

Ich muss rufen! Fenster auf! 

“Hey! Haaallooo! Hey du! Warst du eben an meinem Briefkasten?! ICH MEINE DICH, DU PISSER!!”

 

Der reagiert nicht! 

 

Die dummen Jugendlichen von unten haben es natürlich mitbekommen. Schauen hoch und grinsen mich an.

 

Runter, ich muss runter! 

 

Verdammter dritter Stock, das kostet so viel Zeit. 

Schneller, los! 

 

Weg! 

Er ist verschwunden! 

 

Und diese behämmerten Jugendlichen grinsen mich an, als wäre ich ein Psycho. 

Zugegeben, der Auftritt war auch peinlich. Bin wie ein Irrer aus dem Haus gestürmt. 

Jetzt stehe ich hier mit knallrotem Gesicht.

“Da war eben ein Mann. Mit einer Jeansjacke. Habt ihr den gesehen?”

Keine Reaktion. Glotzen wie immer nur blöd zurück.

Klar doch, ich wette ihr habt den ganz genau gesehen! 

So eine Scheiße!

 

Halt! Der Briefkasten.

Da ist was drin. 

Wieder ein Zettel, mit Filzstift beschriftet. 

 

“Du wirst mich nicht mehr los.” 

 

Das ist gar kein Zettel. Das ist ein Foto.

 

Auf der Rückseite diese Drohung. 

Auf der Vorderseite – ich. 

Ein neues Bild.  

Mein Gesicht in Nahaufnahme. 

 

Zorniger Blick in die Kamera.

Die Augenbrauen sind länger als meine.

Die Haare wuscheliger.

Aber die Augen, der Mund, die Nase, die Wangen – alles meine.

 

Wieso tun das jemand? Wieso will der mir Angst machen?

Ich kapiere es nicht!

 

 

Donnerstag, 19.02 Uhr

Den ganzen Tag ist keine neue Nachricht bekommen. Trotzdem bin ich total angespannt und kann nur daran denken. 

 

Das Foto habe ich vor Wut zerrissen – jetzt liegt es in zwei Teilen auf meinem Küchentisch. Ich kann nicht wegschauen.

Dieser kalte Blick. Hass in den Augen. Wieso hasst mich jemand da draußen?

Was ist, wenn der Typ beim nächsten Mal direkt vor meiner Tür steht?

Hinterher ist der auch noch bewaffnet oder so. Kommt mit einem Messer und sticht mich ab! 

Wenn heute wieder was passiert, dann rufe ich die Polizei.

Das muss enden. 

 

Donnerstag, 20.33 Uhr

Es klingelt. Dieses Handy klingelt!

Er ruft an! 

 

“Willst du mir mal zuwinken?” 

Das ist seine Stimme. 

Ganz nah.

 

“Komm noch mal zum Fenster, wie gestern.”

 

Aufgelegt!

 

Da steht er wieder unten. 

Schaut hoch.

Sein Gesicht wie ein Eisblock.

 

“WER BIST DU VERDAMMT!? WAS SOLL DAS ALLES?”

Ich brülle. Mein Herz überschlägt sich.

 

Er sieht wirklich aus wie eine Kopie von mir. 

Wie mein verfluchtes Spiegelbild aus einem Paralleluniversum! 

Steht einfach nur da!

 

Das soll aufhören, er soll weg! 

Ich schreie wie wild.

Es bricht aus mir heraus.

 

Jetzt haut er ab. Verschwindet endlich.

 

Donnerstag, 21.23 Uhr

Nein, nein, nein.

Ich muss mir das eingebildet haben. 

Das waren locker zehn Meter Luftlinie zwischen uns. Und es hat schon gedämmert. 

 

Er sieht mir ähnlich, ja, aber er hat natürlich nicht mein Gesicht. Das ist nicht möglich.

 

Das war zu viel Stress in den letzten Tagen. Mein Gehirn spielt total verrückt. Ich bin kurz panisch geworden.

Hab ziemlich geschrien. War völlig im Tunnel.

Das muss die ganze Straße gehört haben.

Oh Gott!

 

Freitag, 6.32 Uhr 

Ich bin nur noch müde.

Aber ich kann unmöglich nicht ins Büro. Nicht in meiner zweiten Woche!  

Vor allem, mit welcher Begründung? Weil ein Psychopath mich verfolgt?

 

Und ausgerechnet heute muss ich noch früher da sein. Wie soll ich den Vortrag nur ordentlich halten, so fertig wie ich bin und aussehe?

 

In drei Minuten kommt der Bus. Den krieg’ ich noch. 

 

Da hängt wieder einer der nervigen Jugendlichen rum. Um die Uhrzeit!

Saß der etwa die ganze Nacht hier vor der Tür?

So sieht er jedenfalls aus! Völlig zugedröhnt.

Was macht der? Der macht mein Geschrei nach. Der äfft mich nach!

“HÖR AUF DAMIT!”

Bin ich nur noch eine Witzfigur für alle?

 

“DU SOLLST AUFHÖREN!”

Dem ist das egal. Kreischt weiter rum wie von Sinnen.

Klang ich wirklich so gestern? 

 

Jetzt lacht er. Lacht mich aus – und später wird er seinen Freunden davon erzählen.

Und sie werden alle lachen. 

Über den Verrückten aus dem dritten Stock. 

 

 

Freitag, 6.35 Uhr

Ich kann nicht mehr!

Die Arbeit muss ich noch irgendwie durchstehen – aber dann gehe ich zur Polizei.

Ich brauche jetzt wirklich Hilfe.

 

Immerhin ist der Bus leer. Er kann mir nicht gefolgt sein.

 

Jetzt fahren wir an dem Café vorbei. 

Da diese Verkäuferin, die Blonde. 

 

Und da sitzt der Typ drin! 

Genau wie auf den Fotos vom Handy!

Spinne ich jetzt total? 

 Mit einer Tasse in der Hand und frühstückt in aller Seelenruhe. 

Scheiße!

Der sieht echt aus wie ich.

Wie ist das nur möglich?

 

Er schaut direkt durch die Scheibe in den Bus. Der muss mich doch erkannt haben! 

 

Ja! Ja doch! Er hat sich erschrocken!

Seine Tasse hat gezittert. Der hat mich gesehen.

 

Jetzt blickt er schnell zu Boden.

Zu spät, Arschloch!

 

Da kommt schon die nächste Haltestelle.

Ich muss raus!

Diesmal pack’ ich ihn mir!

 

Da ist er!

 

 

Zwei Wochen zuvor

Ob dieser Tag jemals endet? Um 6 Uhr hatte der Wecker geklingelt. Dann musste er den Transporter bei der Autovermietung abholen. Sein Bruder hatte natürlich noch nicht alles in die Kartons gepackt. Und von den tollen Freunden war auch noch keiner da, als er um halb neun ankam. War ja auch nicht anders zu erwarten. 

 

Also musste Thomas auch noch beim Einpacken helfen, damit sein Bruder aus seiner Studentenbude in Leipzig ausziehen konnte. Umzug nach Berlin. Die Hauptstadt – das war ja schon immer der Traum von Alexander gewesen. 

 

Doch wie ständig musste sich Thomas um alles drumherum kümmern. Alexander hatte es sogar irgendwie geschafft, ihn dazu zu überreden, morgen die Wohnung in Leipzig zu weißeln und die Übergabe mit der Vermieterin zu erledigen. Auch wieder ein verlorener Tag. “Du bist du doch viel näher dran, ich hätte viel mehr Fahrzeit von Berlin aus. Ist doch nur ein bisschen streichen. Ich würde das auch für dich tun!”, hatte er behauptet. Als ob.

 

Frank, Tim und Emma tauchten erst auf, als sie schon die allermeisten Kartons und Möbel verladen hatten. Trotzdem bekamen sie alle Pizza in der ausgeräumten Wohnung, hatten ja mitgeholfen. Oder zumindest so getan.

 

Dann zu zweit nach Berlin. Dritter Stock, kein Aufzug. Alles musste mühsam hochgeschleppt werden.

 

Nun sitzt Thomas kurz vor 18 Uhr mit Rückenschmerzen in dem leeren Transporter. Er muss noch rasch zu einem Baumarkt, weiße Farbe besorgen. Irgendwann spätabends kann er dann endlich den Wagen wegbringen. Nur um am nächsten Tag gleich wieder mit seinem eigenen Auto nach Leipzig zu düsen. 

 

Dabei kann Alexander doch nur so leben, weil er für ihn Opfer bringt. Es bebt in Thomas. Der Zorn meldet sich zurück. Sein alter Bekannter.

Er könnte auch nach Berlin ziehen. Oder sonst wohin. Aber nein, er steckt in Fockendorf fest. 

 

Weichenstellung vor sechs Jahren. Ihr 18. Geburtstag. Alexander und Thomas bekamen ihr erstes Auto. Twingo, Gebrauchtwagen. Fast schon für eine Person zu klein. Ihr Leben lang mussten sie alles teilen. 

 

Wer durfte zuerst ans Steuer? Selbstverständlich der Erstgeborene. Fünf Minuten eher auf der Welt entschieden über den Tod.

 

Die Eltern hinten auf der Rückbank, Alexander am Lenkrad, Thomas daneben. Spritztour bis nach Altenburg. Zurück sollte dann Thomas fahren. Das sei doch fair, meinten sie. 

Der Wagen fuhr aber nicht mehr zurück. 

 

Unglück auf der B93. Sogar in der Bild-Zeitung stand es groß drin, mit entsetzlichen Fotos des Wracks. Die Mutter starb noch an der Unfallstelle. Der Vater ist seitdem halbseitig gelähmt. Die Söhne brachen sich Arme und Beine. 

Ein Fahrfehler von Alexander. Bewährungsstrafe. Er sei sowieso schon gestraft genug, meinte das Gericht. Hat seine Mutter auf dem Gewissen. Den Vater zum Pflegefall gemacht.

 

Ein Jahr danach Abitur. Alexander, der mit dem Unfall und dem Verlust der Mutter einfacher zurecht kam, machte einen weitaus besseren Abschluss als Thomas.

Er müsse nun raus, wolle studieren, die Vergangenheit hinter sich lassen, neu anfangen, sagte er. Der Vater unterstützte ihn. Das reichte, um über die Runden zu kommen. Alexander zog nach Leipzig und begann sein Studium. Fockendorf besuchte er immer seltener. 

 

“Ach Thomas, du kannst nicht auch noch gehen”, bedrängte ihn derweil sein Vater. “Mach’ doch die Ausbildung bei der Volksbank. Ich brauche dich hier! Und wer weiß, ob ein Studium überhaupt was für dich ist? Das Abi fiel dir doch schon so schwer. Es muss nicht jeder studieren, um glücklich zu werden”, lag ihm der Mann im Rollstuhl in den Ohren. Thomas knickte ein.

So lebten die Brüder plötzlich unterschiedliche Leben. Der eine zog hinaus – der andere steckte daheim in Enge und Selbstmitleid fest.

 

Das alles geht Thomas mal wieder durch den Kopf, als er mit dem Transporter nur wenige Straßen von der neuen Wohnung seines Bruders entfernt ist. Er steht an einer roten Ampel und schaut sich um. 

 

Sein Blick fällt auf ein Café – da erstarrt er. 

 

Der Kerl da drin sieht seinem Bruder zum Verwechseln ähnlich. Aber das kann nicht Alexander sein. Der war doch eben noch in der Wohnung. Vor allem nicht in diesen Klamotten. Sowas würde sein Bruder niemals tragen.

 

Thomas nimmt sein Smartphone und macht rasch Fotos. Vielleicht würde er die Bilder in die WhatsApp-Familiengruppe posten, überlegt er sich.

 

Er fühlt sich unwohl dabei, einen Fremden zu fotografieren, aber die Ähnlichkeit ist zu kurios. Da steht der leibhaftige Doppelgänger seines Bruders. Und das ausgerechnet um die Ecke von dessen neuer Wohnung. 

 

Bei der nächsten Parklücke stellt Thomas den Transporter ab und folgt dem Mann. Alles wie ferngesteuert. Irgendetwas arbeitet in seinem Gehirn. Da ist eine Idee, die versucht sich eine Bahn zu brechen. Sie lenkt ihn.

 

Nach einer Weile blickt der Fremde sich irritiert um – und Thomas direkt in die Augen. 

“Was ist?”, fragt er missmutig. 

“Äh… sorry. Es ist nur: Du siehst ganz genau aus wie mein Bruder. Vom Gesicht und der Statur und alles.” 

“Bin ich aber nicht.”

“Ja, ich weiß. Aber ihr könntet Zwillinge sein.”

“Ich habe keinen Zwillingsbruder!” 

“Ich schon. Meinen Bruder halt. Aber wir sind keine eineiigen Zwillinge. Wir sehen uns nicht mal besonders ähnlich.” 

“Was interessiert mich deine Familiengeschichte?”

 

Thomas mustert den Mann genauer. Die Jeansjacke mit braunen Flecken, die abgelaufenen Sneaker, die löchrige Sporttasche. Geduscht hat er sich bestimmt länger nicht, er verströmt einen strengen Geruch. Aber Thomas selbst stinkt auch nach Schweiß, nach all den Strapazen.

 

“Bist du obdachlos?”

Noch nie hatte er mit einem Fremden so unverblümt gesprochen.

“Was geht dich das an?”

“Bist du es? Brauchst du Geld?”

“Ich gehe nicht auf den Strich, falls du Sex suchst!”, zischt er angewidert zurück.

“Nein! Nein, das will ich nicht von dir.” 

 

Aber was will er stattdessen? Wieso redet er bloß mit diesem Kerl? 

 

Von einem Moment auf den anderen kennt Thomas die Antwort.

Er weiß nun, warum er angehalten hatte, was ihn antrieb, wieso dem Typ gefolgt war.

Dieser Gedanke in seinem Kopf ist nun hell. 

 

“Ich will dir einen Job anbieten. Er hat mit meinem Bruder zu tun. Der ist neu hierher gezogen. Ich will, dass er nicht glücklich wird in Berlin, verstehst du? Er hat es nicht verdient.”

 

“Aha. Und wieso sollte ich dir dabei helfen?”

 

“Ich kann dir 2000 Euro bieten. 2000 Euro, das ist eine Menge Geld. Du musst nicht viel dafür tun!”

 

“2000 Euro?” 

 

“Ja. Du musst meinen Bruder nur ab und zu besuchen. Er muss dich sehen. Mehr nicht. Den Rest erledige ich.”

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