SaraLS P I E G E L V E R K E H R T

 

S  P  I  E  G  E  L  V  E  R  K  E  H  R  T 

 

Heute, Tag zehn

Was macht dir Angst? Dunkelheit und das Alleinsein sind es bei mir. Doch um ehrlich zu sein, spüre ich erst seit zehn Tagen die größte Angst, die ich je hatte. Und es ist weder dunkel, noch bin ich allein. Ich hatte es völligst verdrängt, war mir so sicher, in dem was ich tat. Mit diesem innerlichen Erdbeben, das alles in mir zusammenbrach, hatte ich nicht gerechnet. Du wirst gemeinsam mit mir meinem schlimmsten Alptraum gegenüber stehen.

Mir selbst. 

Sag mir, wovor hast DU Angst?

 

Rückblick, zehn Tage zuvor 

,,Leg‘ doch mal das Handy weg!‘‘ die NDR2 Morning Show lief und Oma Freese war um 7.17 Uhr schon gut dabei. Mir dröhnte der Schädel und mir war übel, ich schaltete das Radio im Auto mit einem Klick wieder aus. Der Teildienst machte mich fertig. Das fremde Handy! Mit einem Mal bekam ich einen Schlag in die Magengrube. Wie konnte ich das denn bloß vergessen!? Und wie konnte ich überhaupt letzten Abend so viel trinken? Ich würde nur noch mehr Fehler machen. Ok, konzentriere dich. Ich musste mich beruhigen. Es fühlte sich nicht real an. Das durfte nicht sein. Eine unsichtbare Macht zog mich nach unten, immer tiefer in die Dunkelheit. Ich setzte den Blinker und fuhr rechts ran, um meine Gedanken zu sortieren. Der nächste Patient musste warten. Die Angst und die Erinnerungen schlugen erneut auf mich ein. Ich ging den gestrigen Abend noch ein mal von Anfang an durch:

Ich verabschiedete mich von Frau Grud mit einem ,,Gute Nacht und bis morgen!‘‘ nachdem ich ihre Tabletten gestellt hatte und schloss von außen die Tür ihres Hauses ab. Mein Auto fand ich nur mit Hilfe des LED-Blitzes meines Handys wieder, so dunkel war es hier draußen. Ich hasste diese Gegend. Ich öffnete die linke Hintertür meines Dienstautos, stellte meinen Korb, in dem sich alles befand, was ich für die häusliche Pflege benötigte auf die Rückbank, schlug diese Tür zu, setzte mich hinter das Steuer und fuhr los. Je mehr das Auto beschleunigte, umso mehr wurde das Rauschen lauter und die Luft im Nacken kälter. Hinten muss ein Fenster offen sein, schoss es mir durch den Kopf. Widerwillig drückte ich auf die Bremse und stieg erneut aus. Tatsächlich. Ich musste an die Fensterkurbel gekommen sein, der Spalt war nicht größer als 1cm. Kommt davon, wenn man halb im Auto wohnte. Dass die Türen noch schlossen, war ein Wunder. Aber niemand außer mir fuhr dieses Auto, dafür hatte ich vor fünf Jahren gesorgt. Wie ich dafür gesorgt hatte, dass in unserer Einrichtung jede Examinierte Altenpflegerin in der ambulanten Pflege ihre festen Patienten bekam. Üblich ist, dass die Kolleginnen die Touren und somit die Patienten regelmäßig wechselten, aber aufgrund guter Argumente meinerseits wurde beschlossen, es zu testen und aus einem Test wurde schnell ein fester Entschluss. 

Ich setzte meine Fahrt fort und machte mir Gedanken über das Abendessen. Eine halbe Pizza vom Vortag war noch übrig, die musste für heute Abend reichen und ich hatte eine neue Eissorte gekauft, die ich probieren wollte. Der Klingelton meines Smartphones unterbrach meine Reise ins Kulinarische. Ich warf den Kopf gegen die Lehne und verdrehte die Augen. ,Bitte kein weiterer Einsatz! Es ist 20.30 Uhr, ich habe Hunger und Feierabend! Wenn jetzt wieder irgend ein Patient auf Wanderschaft gegangen ist und da lag wie ein Käfer auf dem Rücken, bräuchte ich gar nicht mehr Heim fahren.‘ dachte ich. Ich kramte nach meinem Handy, das ich im Kasack hatte. Ich war die Vorzeige- Examinierte, grundsätzlich erreichbar. Mein Sperrbildschirm zeigte mir nichts an. Die Meldung musste ich wohl beim herausziehen weggewischt haben. Diese empfindlichen Geräte! Da war es schon wieder! Ich tippte meine sechsstellige PIN ein um der Sache auf den Grund zu gehen. Nichts. Kein Anruf, keine Nachricht. Ich durchforstete den verschlüsselten Chat der Dienstelle, meine Mails und andere Apps, denen ich zugestimmt hatte mir Mitteilungen zu senden. Erneut klingelte es! Es war direkt neben mir. Es klang so, als würde es von unter dem Beifahrersitz herkommen. Ich musste mich weit nach rechts rüber beugen, da meine Körpergröße mich dazu zwang, griff zum Hebel und mit einem Ruck zog ich den Sitz bis zum Anschlag nach hinten. Da lag tatsächlich ein Handy, neuer als meins, in rot. Ich griff danach, drehte es um und wurde von dem riesigen Display geblendet. Aus Reflex kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf zur Seite. Als sich meine Augen langsam an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich noch einmal richtig auf das Display. Das, was ich sah, brannte sich in meinen Augen, in meinem Gehirn fest. Ich könnte auf der Stelle blind werden, diese Bild war das letzte und einzigste, welches mir vor Augen bleiben würde. Jemand hatte sich die Mühe gemacht und ein Bild von mir vor meinem alten Haus geschossen und es als Hintergrundbild eingestellt. Es hatte keine Apps und zeigte mir mit einem Pop-up-Fenster samt Klingelton an, dass die SIM Karte fehlte. Doch das war nicht das verstörendste daran. Das, was mir die Hitze in jede Faser meines Körpers trieb, war erstens: Die wie ich feststellen musste, hervorragende Gesichtserkennungssoftware des Handy-Herstellers und zweitens: Elf Wörter unter dem Bild: 

KOMM ZU MIR ZURÜCK UND BRING ZUENDE, WAS DU ANGEFANGEN HAST! 

Ich übergab mich, quer über meine Kleidung, bis ich es mehr schlecht als recht aus dem Auto schaffte. Mein Herz raste. Die Dunkelheit drehte sich. Das Scheinwerferlicht tanzte in meinen Augen. Ich wusste nichts mehr. Ich war nichts mehr. Ich war aufgeflogen. Meine Vergangenheit hatte mich eingeholt. 

Eine ganze Weile stand ich mit dem Rücken an der geschlossenen Fahrertür meines laufenden Autos angelehnt. Ich erinnere mich, dass ich auf Autopilot lief. Ich funktionierte nur noch. Ich war wie in Trance. Es fühlte sich an, als würde mein Geist an einer Schnur hängen, wie ein Luftballon und mein Körper zog ihn einfach hinter sich her. 

Daheim entschied ich mich für ein weiteres Ventil aus meiner Vergangenheit: Mich zu betrinken. 

 

Rückblickelf Stunden nach Fund des Handys 

Körperlich und geistig war ich seit genau elf Stunden nach dem Fund des Handys nicht mehr als der Inhalt meines Magens, der das Tageslicht erblickt hatte. Ich fühlte mich furchtbar. Nichtsdestotrotz entschied ich mich, den Schein zu wahren. Ich durfte keine Schwäche zeigen, denn hier draußen schien mich plötzlich jeder zu beobachten. Angst lähmt, macht dich langsam und dumm. Nur musste ich es mit mir allein ausmachen. Niemanden konnte ich um Hilfe bitten, geschweige denn meine Vergangenheit gestehen. Mein wahres Ich zeigen. Niemals. Die Gedanken überschlugen sich, genau wie das Hupen der Autos, die wegen mir den Gegenverkehr Vorfahrt gewähren lassen mussten. Ich stand noch immer rechts-blinkend mitten auf der rechten Fahrspur. 

Welchen Fehler hatte ich damals gemacht? Und wieso jetzt? Nach all den Jahren. 

Ich kam natürlich zu spät bei meinem zweiten Patienten an und wurde dementsprechend höflich und zahnlos begrüßt ,,Na Kleine, haste ausgeschlafen?!‘‘ Ich kenne meine Pappenheimer. Es gibt Patienten, die denken, ich führe diesen Job ganz allein für sie aus, stellen sich selbst als Nummer eins dar, sind von sich und ihrem egoistischen Verhalten geblendet. Und dann gibt es die, die einfach dankbar sind, wenn man sie nur einmal in der Woche besucht und unter die Dusche stellt. In solchen Momenten ist mir der einzige Trost, die Tatsache, dass die Alten vor mir diese Welt verlassen würden – höchstwahrscheinlich. Also lächelte ich meinen Kater und die Wut weg und scherzte ,,Ja, hat mir gut getan den Wecker auszustellen.‘‘ und stellte meinen Korb auf dem Tisch ab. 

Als ich abends meine Wohnung betreten wollte, erschrak ich. Ein Paket lag vor meiner Tür, es war lediglich mit einem Etikett aus weißem Kraftpapier versehen 

Für Corinna  

Stand in geschwungener Handschrift darauf. Die Verpackung hatte in etwa die Größe eines Schuhkartons. Mit zittrigen Händen ließ ich das Etikett wieder los und hob es vom Boden auf, ich hatte es plötzlich eilig damit in die Wohnung zu kommen. Ich fühlte mich erneut beobachtet. Mit einer Schere durchtrennte ich den Klebestreifen, atmete tief ein und öffnete es. Im wahrsten Sinne des Wortes sah ich rot. Es waren die roten Lack-Stiefeletten, die ich zuletzt vor fünf Jahren getragen hatte. 

Dem ersten Paket folgte genau vierundzwanzig Stunden später ein zweites, aber diesmal sehr kleines Paket, ebenfalls an mich gerichtet. Darin befand sich ein kleines Spielzeugauto. Es symbolisierte das Cabrio, das ich so gerne gefahren hatte. 

Zehn weitere Stunden später, lag ein Paket vor der Haustür meiner ersten Patientin. Es war mit der selben geschwungenen Handschrift an mich gerichtet. Hektisch lief ich damit die Treppen runter zum Auto zurück und öffnete es im Kofferraum mit meinem Wohnungsschlüssel. Ich konnte noch nie ästhetisch Geschenke auspacken, geschweige denn Umverpackungen. Und beim letzteren achtete ich in meiner Lage sowieso nicht mehr darauf. Dieses Kleidungsstück war zum Schutz in Papier gewickelt. Ich zog wie in Zeitlupe die enge weiße Bluse aus dem Karton. Mein Herz raste. Ich griff in die linke Tasche des Kasacks und leerte den Flachmann zu einem Drittel. Die Angst blieb. Die Stimmen in meinem Kopf wurden nur noch lauter. Ich fasste mir an den Kopf, beugte mich vor und schrie los, direkt in den Kofferraum hinein; bettelte die Stimmen an, endlich zu verschwinden. ,,Frau Elfert? Was ist mit Ihnen?‘‘ Die Stimme von Frau Rose rettete mich für den Moment aus dem Gedankenkarussell. Ich blieb hinter meinem Auto stehen und rief ihr zu, dass ich sofort kommen würde, gleich nachdem ich mir den Stich einer Wespe verarztet hatte. Keuchend wischte ich mir die Tränen weg und blieb noch einige Atemzüge stehen, bis ich den Kofferraum schloss und die Bluse allein und im Dunkeln zurück ließ. 

Als mir am vierten Tag ein kleines Päckchen aus meinem Briefkasten entgegen fiel, hatte ich mich beinahe schon daran gewöhnt täglich Post zu bekommen. Einerseits hatte ich vor jedem neuen Tag und jedem weiteren Paket, dass mich erwartete zunehmende Angst. Doch der Gedanke daran, vielleicht irgendwann keines mehr zu bekommen, bereitete mir noch größere Angst. Betrunken schwenkte ich einige Zeit später das kleine teure Parfümfläschchen im Sonnenlicht hin und her, welches ich an diesem Tag erhalten hatte. Ich betrachtete es stundenlang. 

Zum fünften Tag erhielt ich eine ganze Make-up-Sammlung. Mit steigender Anzahl der Pakete stieg auch von Tag zu Tag mein Alkoholpegel. Kurz vor Beginn meines sechsten Arbeitstages meldete ich mich krank, denn auf meiner ,Herzlich willkommen‘ Fußmatte lag gefaltet die schwarze Coulotte-Hose. Ich stolperte rückwärts in die Wohnung zurück. Ich hatte das Gefühl verrückt zu werden. 

Tag sieben brachte mir die kurze, schwarze Lederjacke. Sie hing an dem Knauf meiner Wohnungstür und kam mir entgegen geschwungen als ich diese öffnete um zum Briefkasten zu gehen. Ich schlug die Hand vor dem Mund und mit der anderen die Wohnungstür wieder zu, doch die Jacke klemmte sich in der Tür ein. Es war verstörend und wirkte so, als wollte sie mit aller Kraft zu ihrer Besitzerin zurück. 

Nachdem ich am achten Tag die blonde Perücke auspackte und der Aufforderung auf dem Schild nachging, sie zu pflegen, verbrachte ich den Rest des Tages eng umschlungen und wimmernd auf dem Badezimmerboden. Ich erbrach mich stündlich. 

 

Tag neun. 

Es waren fast vierundzwanzig  Stunden vergangen nachdem ich das letzte Paket erhalten hatte. An dem Abend war ich vor Erschöpfung und Schlafmangel endlich auf der Couch eingeschlafen. Mitten in der Nacht, nach ein paar Stunden Schlaf am Stück, wachte ich jedoch auf und entschied mich dafür, meinen Schlaf im Bett zu vollenden. Ich hatte nur die Nachttischlampe angeschaltet, um nicht von der Helligkeit geweckt zu werden und erstarrte als ich eine Person direkt vor mir stehen sah. Sie. Ich hatte keine Luft zu schreien. Sie stand wie angewurzelt da, starrte mich an und sagte nichts. Ich starrte zurück und sagte ebenso wenig. Ich fühlte mich wie gelähmt. ,,Corinna.‘‘ Ich erschrak beinahe vor meiner eigenen Stimme. Keine Reaktion. Nach quälend langen Sekunden bemerkte ich den Grund ihres Schweigens: Sie war im Spiegel. Voll bekleidet in den Kleidungsstücken, die ich in den letzten acht Tagen zurück erhalten hatte. Das Spiegelbild trug sogar die Perücke auf dem Kopf. Ich stürzte mich auf sie. ,,Verschwinde! Was willst du von mir!?‘‘ wimmerte ich und trommelte immer weiter auf den Spiegel ein, bis meine Kräfte schließlich nachliessen. Dann ließ ich vom Spiegel ab und riss mir die Kleidung vom Körper, bis alles quer über dem Boden verteilt lag. Als ich mich anschließend zum Bett umdrehte um mich erschöpft daraufzulegen, trat ich auf etwas Hartes. Ich jaulte auf. Unter meinem rechten Fuß zog ich einen Schlüsselanhänger hervor, der aus einer Tasche der Lederjacke heraus lugte, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Es war einer dieser Anhänger in denen man seine Familien- oder Urlaubsfotos verewigen konnte. Er war allerdings statt schöner Bilder mit einem Satz versehen: 

Komm nach Hause, Corinna Bach, den Schlüssel dazu hast du noch. 

Du weißt, du hast keine andere Wahl!

 

 

Haus Nummer neun, fünf Jahre zuvor 

Bei der wöchentlichen Dienstbesprechung, die wir vor genau fünf Jahren hatten, wurden wir von unserer Chefin darüber informiert, dass wir ab Montag eine neue Patientin, Frau Corinna Bach, fünfzig Jahre alt, nach überstandener Krebstherapie mit einer Dekubitus bedingten offenen Wunde am Steißbein dazu bekommen würden. Zur Zeit lag sie noch im Krankenhaus und sollte am Montag entlassen werden. Sie wurde für die erste Woche meiner Tour zugeteilt. Als ich an jenen Abend das Haus zum ersten Mal sah, verschlug es mir die Sprache. Das hatte ich hinter der Kurve nicht erwartet. Es war so luxuriös, dass es mich einschüchterte. Im knitterigen Kasack und gefütterten Gummischuhen an den Füßen musste ich es betreten. Von meinem verzweifelten Versuch mir heute Morgen mit meinen kinnlangen, vom Färben zerstörten dunklen Haaren eine Frisur zu zaubern ganz zu schweigen. Ich umklammerte den Griff meines Korbs noch fester. Frau Bach öffnete mir nach dem Klingeln die Haustür. Der Anblick überraschte mich nicht. Vom Krebs war ihr nichts anzusehen, so perfekt saß ihr strahlendes Lächeln, ihre Frisur und ihr Make-up. Das Haus passte so gut zu ihr, wie sie zum Haus passte. Ich schämte mich für mein Auftreten und gleichzeitig bewunderte ich sie, ohne sie zu kennen. Ich musste innerlich lächeln, als mir ihre Größe auffiel, sie war keinen Zentimeter größer als meine 1,60 Meter. Und wir achteten beide auf unsere Figur, bei der Größe verwandelte man sich schnell in einen Hefekloß. 

In der ersten Woche hatte ich bereits vieles über Frau Bach erfahren: Sie war Einzelkind und verlor vor fünfzehn Jahren ihre Eltern an Krebs, das Haus hatte sie nach deren Tod geerbt. Sie hatte keine Kinder, die letzte Beziehung zu einem Kollegen lag ein paar Jahre zurück, sie hatte eine führende Position in einem großen Elektronikfachmarkt und war sehr stolz darauf. Überall hingen Spiegel, sogar in der Küche. In jeder Ecke schrie das Haus nach Eitelkeit. Bilder etlicher Reisen, die sie gemacht hatte hingen wie Ausstellungsstücke im Museum an den Wänden. Sie hatte alles erreicht, wovon sie je geträumt hatte. Nur Freundschaften zu pflegen fiel ihr schwer. Sie war lieber die Einzelgängerin. 

Die Krebsdiagnose musste sie schwer getroffen haben. Das wurde mir bewusst, als ich ihr zum ersten Mal beim Duschen half. Sie griff sich an den Haaren und zog sie sich vom Kopf. Nun war sie diejenige, die sich schämte, ich sah es in ihren Augen. Und ich sah auch, dass sie mir die Überraschung über die Perücke ansah. Dann musste sie kichern. Ich betrachtete sie ungläubig. Wieso lachte sie noch? 

 

Heute, Tag  10 

,,Du bist schlimmer als Krebs.‘‘ Sie schlug die Schlafzimmertür zu. Sie war zurück gekommen. Ich war erleichtert, ich war nicht mehr allein. 

,,Weißt du was? Ich dachte immer, ich habe mir jeden persönlichen Wunsch erfüllt – bis zu dem Tag, an dem du Alki zu dumm warst meinen Puls zu fühlen! Du hast mich einfach liegen lassen. Erst mein Tod konnte dich stoppen und brachte dich dazu die Fixierung zu lösen und die Bettgitter abzubauen.‘‘ Ich zuckte zusammen, so laut sprach sie. ,,Wieso hast du danach nicht erstrecht  weiter gemacht!? Du hattest doch schon alles! Du hast doch bereits schöne sechs Monate gehabt, hast ein Leben geführt, das nie deines war und das nie deines gewesen wäre! Du hast mir alles genommen. Alles wofür ich stand. Alles, was ich war, hast du an dich gerissen. Hast mich imitiert. Meine Kleider, mein Make-up, selbst mein Parfüm und meine Perücke getragen. Fuhrst mit meinem Cabrio, hast meinen Job gekündigt. Meinen Job! Weißt du, wie verstörend das alles gewesen ist!? Ich war zum Schluss ein Häufchen Elend! Und es hat dir auch noch gefallen!‘‘ 

,,So war das nicht Corinna! Ich habe dich gepflegt!‘‘ Hörte ich mich lallend sagen. Ich wollte damals glänzen und das Beste aus mir herausholen. Und es ist mir mehr als gelungen. ,,Und wie du mich gepflegt hast! Du hast mich KRANK gepflegt, Judith!‘‘ sie schrie jetzt ,,Stück für Stück hast du darauf hingearbeitet, mich bewegungs- und willenlos zu machen! Du hast mir mein Leben, meine Seele zerstört! Seitdem bin ich ein Wrack! Ich zeige dir alles, an das ich mich erinnern kann. Denn nicht immer wirkte dein Medikamentencocktail, den du mir verabreicht hattest!‘‘ Sie ließ sich in den gelben Lesesessel sinken, der schon immer in der Ecke des Schlafzimmers gestanden hatte. ,,Du hattest dich von einer Sekunde auf die andere verändert. Gleich nachdem du wusstest, dass meine Haare nicht echt waren und ich die Scham weg lachte. Dein Blick. Da begann ich Angst vor dir zu bekommen.‘‘ Sie warf lachend die Hände in die Luft ,,Berechtigter Weise, denn gleich danach lag ich schon betäubt und fixiert im Pflegebett!‘‘ Corinna lehnte sich zurück in den Sessel und schloss die Augen ,,Der Krebs ist zurück.‘‘ Sie machte eine lange Pause und sprach dann weiter, bedacht darauf, jedes einzelne Wort zu betonen ,,Und um deine Vorstellungskraft anzukurbeln: Ich werde es diesmal nicht überleben. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Bis zu meinem letzten Atemzug wirst du leiden. Die letzten neun Tage, in denen ich dich noch körperlich verschonte, wirst du dir noch zurück wünschen Liebes.‘‘ Sie stand auf und ließ mich eine ganze Weile allein. Ich wusste weder, was sie als nächstes vor hatte, noch wann sie wieder kam. Ich fühlte mich benommen, sah die Welt wie durch eine zu starke Sehbrille. In den letzten neun Tagen, gequält von Gedanken, wollte ich nicht wahrhaben, dass Corinna Bach noch am Leben war und Rache an mir wollte. Nichts als Rache. 

 

 

Haus Nummer neun, vor fünf Jahren

Abends fuhr ich das letzte Haus meiner Tour an, der offizielle Teil meines Dienstes war erledigt. Ich war in Verzug. Ich kam zu spät, verdammt. In Gedanken bedankte ich mich bei Herrn Meink, der mich durch seinen Sturz ungeplant aufgehalten hatte. Doch nun begann der Teil des Tages, der mein Herz höher schlagen ließ. Einsam und verlassen stand es da, die Umrisse konnte man nur schwach durch entfernte Lichtquellen der Stadt erkennen, bis die Bewegungsmelder ihre Pflicht erfüllten. Das Garagentor fuhr nach betätigen der Fernbedienung hoch und ich parkte neben meinem Cabrio. Es wurde mal wieder Zeit es zu fahren. Ich stieg aus und nahm diesmal den Korb, der sich im Kofferraum befand, schloss erst den Kofferraum, dann das Tor und lief die Treppen zum Haus hinauf. Der Schlüssel hakte und machte beim Aufschließen ein knirschendes Geräusch im Schloss. Ständig vergesse ich das Schloss zu Ölen! ,,Ich bin wieder Zuhause!‘‘ rief ich Richtung Schlafzimmer. Ich ging ins Bad um meine Hände zu waschen. Danach zog ich mir die Arbeitskleidung aus. Ich machte mir einen Dutt und nahm die Perücke aus dem Korb, die ich heute in der Mittagspause noch gekämmt hatte und zog sie mir auf den Kopf. Schon hatte ich blondes, schulterlanges Haar und einen Pony. Ich malte mir vor dem Spiegel rote Lippen und zog mir einen Lidstrich. Aus dem begehbaren Kleiderschrank nahm ich die schön schwingende schwarze Culotte-Hose, die roten Lack-Stiefelletten und die enge weisse Bluse, die ich in die Hose stecken wollte heraus. Von der Garderobe nahm ich mir die kurz geschnittene schwarze Lederjacke. Zu meiner Reihenfolge gehörten abschließend zwei Pumpstöße eines der sündhaft teuren Parfüms, welche akkurat auf der Kommode im Flur unter einem weiteren Spiegel standen. Aus dem Schlafzimmer hörte ich schon die vertrauten Geräusche. Die Absätze klackerten auf dem Parkett, als ich mit dem Korb in den Händen zum Schlafzimmer lief. ,,Aber, aber, beruhig dich doch! Ich weiß, ich bin spät dran. Schau mal, ist es mir heute nicht gut gelungen? Ich hab das gute Teil mal gekämmt, wurde höchste Zeit!‘‘ stolz drehte ich mich um die eigene Achse, lächelnd stellte ich den Korb auf den Boden und legte die Medizinprodukte nach und nach auf dem Tisch ab. Dann machte ich die sechs Schritte bis zum Bett. 

 

 

Heute, Tag  10 

Ihre Stimme holte mich aus der Vergangenheit. ,,Guten Abend. Wird Zeit, dass du mit jemandem Bekanntschaft machst.‘‘ Aus einer Hutschachtel nahm Corinna Bach einen Büschel dunkler Haare und wedelte damit herum. Es sah aus wie ein totes Langhaar-Meerschweinchen, das ich als Kind besaß. ,,Ich komme gleich wieder, du wirst Augen machen.‘‘ Sie klang fröhlich. Ich hörte gedämpfte quietschende Schritte und als ich damit kämpfte die Augen offen zu halten sah ich mich selbst, langsamen Schrittes auf das Bett zukommen. Wie ich mich zu mir über das rechte Bettgitter herunter beugte und flüsterte: ,,Sie nur, ist es mir nicht gut gelungen? Ich bin du! Erkennst du dich wieder? Du wirst dich ab jetzt nur noch selbst sehen!‘‘ lachte die Stimme. Das Meerschweinchen erkannte ich wieder, es waren meine Haare. Ich folgte sofort meinem Blick. ,,Oh, die Haare? Ich hatte für das Hintergrundbild auf dem Handy -welches du relativ schnell gefunden hattest- eine neue und um ehrlich zu sein, äußerst hässliche Perücke anfertigen lassen. Meine ehemalige Arbeitskleidung hatte ich nie entsorgt, um mir selbst vor Augen zu führen, wie weit ich es gebracht hatte, so oft, wie ich es brauchte. Zwei Dinge wusstest du bis heute nicht von mir: Erstens, dass ich den Scheiss überlebt habe. Ich bin untergetaucht und wie du weißt, habe ich viel Geld. Ich habe dieses Haus hinter mich gelassen. Die Alarmanlage schützte es vor Einbrechern. Es war unglaublich schwer für mich zurück zu kommen und vor allem diesen Raum wieder zu betreten. Und zweitens- höre mir jetzt gut zu: Ich konnte nicht mehr in meinen letzten Job zurück, aufgrund deiner bescheuerten Kündigung, danke dafür! Aber mein Ausbildungsberuf ist der deine gewesen.‘‘

Ich beobachtete mich, wie ich mich wieder aufrichtete, in die rechte Tasche des Kasacks griff und ein Paar Einmal-Handschuhe herausholte, sie mir über die Hände zog, mich umdrehte, mit quietschenden Solen sechs Schritte zum Tisch zurück ging und die Hände in die Hüften stemmte ,,Mal sehen, ob ich es noch drauf habe, aber dazu musst du wachbleiben Corinna. Nenn du mich doch ab jetzt Judith!‘‘ Ich sah, wie ich mich wieder zum Bett umdrehte und mich ansah. ,,Ich warte seit meinem Beinah-Tod in diesem Bett, seit viereinhalb Jahren auf diesen Moment. Es wäre zu leicht, zu erträglich für dich gewesen, wenn ich einfach zur Polizei gegangen wäre. Ich will die sein, die du als letztes in die Augen blickst und den selben seelischen Schmerz spürst, den ich noch heute mit mir herum trage! Wenn du überhaupt eine Seele hast! Ich WERDE die sein, die DU gewesen bist!‘‘

Hier hatte sich räumlich rein gar nichts verändert. Nur ich lag nun am Bauch fixiert in dem selben Bett, in dem ich Corinna Bach über sechs Monate gepflegt hatte. Mit den blonden Haaren und der Kleidung, die mir damals schon so gut gefiel. Ich sah zwar wieder aus wie Corinna Bach, doch die war nur nicht mehr hier. Die wahre Corinna Bach sah jetzt so aus wie Judith Elfert, wie ich, als wir uns damals vor genau fünf Jahren kennenlernten. Ich begegnete mir selbst, meinem größten Alptraum. Die Angst löste bei mir einen Krampfanfall aus. 

 

7 thoughts on “S P I E G E L V E R K E H R T

  1. Hallo Sara,

    dankeschön für diese tolle Geschichte. Eine interessante Idee und super umgesetzt.

    Deine Bildsprache ist unfassbar gut. Mein Lieblingssatz: “Körperlich und geistig war ich seit genau elf Stunden nach dem Fund des Handys nicht mehr als der Inhalt meines Magens, der das Tageslicht erblickt hatte.” Was für eine treffende Beschreibung, großartig 😂 👍🏻

    Ich persönliche lese gerne Geschichten, die in der Ich-Perspektive geschrieben sind, denn sie lässt einen an den Gefühlen der Figuren teilhaben. Das ist auch bei deiner Geschichte so, man fühlt Corinnas/Judiths Unruhe und Angst. Sehr gut gefällt mir am Anfang, dass du den Leser direkt ansprichst.

    Kleine Probleme hatte ich beim Lesen der Dialoge. Das liegt aber wohl eher an der Formatierung und Schriftart.

    Den letzten Satz finde irgendwie “unrund”. Vielleicht könntest du schreiben: “Ich begegnete mir selbst, meinem größten Alptraum. Und dieser löste bei mir einen Krampfanfall aus.” Das ist aber nur meine Meinung und ändert nichts an deiner tollen Leistung 😊

    Hoffentlich hast du vor, weiter zu schreiben.
    Von mir bekommst du definitiv ein Like. Viel Glück für die EBook-Ausgabe.

    Liebe Grüße
    Sarah mit h am Ende 😉

    1. Hallo liebe Sarah mit h 😉

      Vielen Dank für diese respektvoll verfasste Kritik! Das ist in Social Media eine Seltenheit geworden und ist für mich nicht selbstverständlich (sollte es aber sein). Ich habe mich sehr über Dein ausführliches Feedback gefreut und werde den letzten Satz definitiv noch überdenken!
      Ich wünsche Dir alles Gute und bleib gesund! ✌🏼🙃

      Ganz liebe Grüße, Sara ohne h 😁

  2. Hallo Sara,
    deine Geschichte ist gut geschrieben und könnte jederzeit so passieren.
    Die Sprünge von Gegenwart und Vergangenheit sind gut gemacht.
    Ich hätte gerne noch detallierter gewusst, was sie mit “Corinna” angestellt hat und was genau passiert ist oder ist es Absicht, das jeder sich selber Gedanken dazu machen kann.
    Absolut tolle Leistung und schreibe weiter.

  3. Liebe Sara

    Meine Güte!!!

    Was für eine krasse, geniale, psychisch dichte Atmosphäre.
    Was für eine großartige Geschichte.

    Ich bin immer noch hin und weg.

    Man spürt deine Verbundenheit mit der Handlung, mit den Charakteren.

    Deine Geschichte schreit nach einer Verfilmung. Einer Veröffentlichung.

    Sie hat mich gefesselt und berührt.

    Hast du mal in der Altenpflege gearbeitet?
    Deine Beschreibungen, deine Bilder legen das nahe.

    (Und unter uns: solltest du tatsächlich Altenpflegerin sein, möchte ich dir an dieser Stelle nur DANKE sagen, für die letzten Monate.
    Ich habe am eigenen Leib erfahren, was diese Menschen während der Corona Krise geleistet haben).

    Zu deiner Geschichte:

    Deine Grundidee war bemerkenswert, die Handlung nachvollziehbar und stringent, die Charaktere, besonders die weibliche Hauptperson, genial angesetzt, die Dialoge realistisch und das Finale absolut genial.

    Was für ein Ende !!!!!

    So müssen Kurzgeschichten sein.

    Mein Like hast du natürlich sicher.

    Ich zolle dir den höchsten Respekt.

    Deine Geschichte ist dir super gelungen.
    Ich habe sie gerne gelesen und wollte unbedingt direkt wissen, wie sie endet.

    Die psychische Tiefe deiner Geschichte ist immens.
    Die psychische Tiefe deiner Geschichte ist so was von intensiv.

    Ich merkte direkt, dass hier eine Könnerin am Werk ist.
    Dein Schreibstil ist ambitioniert und voller Schreiblust.
    Man spürt deine Verbundenheit mit der Handlung.

    Einen Tipp habe ich noch.

    Es haben sich da und dort Wiederholungen und kleine Fehler eingeschlichen.
    Das ist aber kein Problem.

    Lass deine Geschichten in Zukunft immer noch einmal gegenlesen.
    Die Fremdleser finden Flüchtigkeitsfehler sofort, und dann ist das Thema auch Vergangenheit.

    Ohne Mist.
    Du hast ein Talent.

    Ein Erzähltalent.

    Bitte schreib weiter.
    Und deine Geschichten werden die Menschen erreichen.
    Und du wirst noch viele bezaubernde Geschichten schreiben.

    Ich danke dir für diese sympathisch geniale Kurzgeschichte.

    Du hast es verdient, ins EBook zu kommen.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen.

    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Ich danke dir.
    Swen

  4. Liebe Sara,

    Deine Geschichte ist höchst spannend und mitreißend. Die Erzählweise und vor allem die Zeitsprünge haben mich besonders gefesselt. Es war auch gut gemacht, das ist ja nicht immer so leicht, mitzukommen und kann schon mal verwirren.
    Von Anfang an war man mitten drin im Geschehen und die Spannung stieg von Satz zu Satz..
    apropos Satz… finde die kurzen Sätze super.. es liest sich flüssig und clean.
    Du musst unbedingt noch viel mehr Geschichten schreiben👍🏻😊
    Weiter so !!
    ich bin einfach begeistert😍
    Dana

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