BiineEnttarnt

Enttarnt

Fassungslos schaue ich in mein eigenes, lächelndes Gesicht. Eine Frau muss einen Bogen um mich herum machen und ich bemerke erst jetzt, dass ich immer noch mitten auf den Gehweg stehe, das fremde Smartphone halte ich in meinen Händen. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit, in die kleine Werbeagentur in der Südstadt als sich eine düstere Wolke über mein Leben schiebt und  es sich schlagartig verdunkelt. Wie durch einen Schleier nehme ich die Menschen um mich herum wahr, als ich meinen Weg fortsetze. Ich stecke das Smartphone, das ich vor wenigen Minuten auf der Straße gefunden habe, in meine Tasche, aber das Hintergrundbild, das auf dem Display erschien, als ich das Gerät aufhob, sehe ich noch deutlich vor mir. Wie kann das sein? Das war mein Gesicht. Ich erinnere mich noch an den Moment, als das Foto aufgenommen worden sein musste. Ich saß mit meiner Freundin Kerstin draußen in einem Café  und wir haben uns über die Kinder unterhalten. Ich schaue genau in die Kamera, denke ich und merke wie mir ein Schauer über den Rücken läuft. Wer war das? Und warum? Und wieso finde ausgerechnet ich dieses Handy mit dem ich offenbar vor ein paar Tagen fotografiert worden bin? Diese Fragen schwirren mir im Kopf umher wie Fliegen um einen Misthaufen und genauso fühlt es sich an. Mein Kopf brummt als ich an der Agentur ankomme. Gottseidank habe ich heute nicht ganz so viel zu tun. Das Projekt, dass ich mit Timo zusammen für einen Kunden in Berlin betreut habe, ist so gut wie beendet und ich bin gerade sehr froh, dass ich mich dazu entschieden habe, nicht mit nach Berlin zu fliegen um bei der Abschlusspräsentation dabei zu sein. Philipp muss in diesen Tagen einen sehr wichtigen Auftrag in der Tischlerei fertigstellen, so dass ich für die Kinder da sein muss. Eigentlich ist alles gut, war gut. Bis heute morgen. 

Das Telefon auf meinem Schreibtisch reißt mich aus meinen Gedanken. Ich hebe ab und höre die Stimme meiner Schwester am anderen Ende,  die mich fragt wie es mir geht und was ich so treibe und ich höre den leichten Vorwurf der mitschwingt als sie bemerkt, dass ich mich ewig nicht gemeldet habe. Dafür habe ich jetzt keinen Kopf, entscheide ich und nehme mir vor, sie abzuwimmeln. “Was ist los, warum bist du so komisch?”, fragt sie mich und mir wird klar, dass ich mein Unbehagen offenbar doch nicht so gut vor ihr verbergen kann wie ich dachte. Eigentlich stehen wir uns nicht besonders nahe. Unsere Eltern haben mich mit zwei Jahren adoptiert als  meine Schwester zehn war. Ich erinnere mich nicht an diese Zeit, aber ich glaube, für Mareike war es nicht so erfüllend wie für meine Eltern, dass plötzlich eine kleine Schwester da war, die auch noch ganz anders aussah als sie selbst. Ich habe indische Wurzeln und ich glaube, Mareike war oft genervt von ihrer süßen dunkelhäutigen kleinen Schwester, die jeden mit ihrer guten Laune anstecken konnte, während Mareike immer schon etwas schwierig war. “Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?”, holte mich ihre Stimme aus den Gedanken über meine Kindheit. “Ja, klar, wobei, irgendwie auch nicht. Mir ist heute morgen etwas passiert, Mareike und ich weiß nicht was ich machen soll”, gestand ich ihr nun doch meine Sorgen. 

“Du musst dich an die Polizei wenden, Shari”, sagte meine Schwester, nachdem ich ihr erzählt habe, was heute morgen geschehen ist. “Du wirst beobachtet! Das kann jeder sein und wer weiß, was der von dir will. Hast du das Handy durchsucht? Was ist noch drauf? Irgendwelche Adressen oder Telefonnummern? Hast du wenigstens die Hotline des Netzbetreibers angerufen?” Tatsächlich war ich so geschockt gewesen, als ich das Foto von mir sah, dass ich noch gar nicht daran gedacht hatte. Ich ziehe das Smartphone aus meiner Tasche und zucke zusammen, als ich erneut mein eigenes Gesicht sehe. Mein Herz setzt einen Schlag aus und mir wird kalt. „Und?, was ist drauf?“, fragt Mareike, die noch immer am anderen Ende der Leitung ungeduldig wartet. „Ich kann nicht glauben, was ich sehe. Meine Stimme ist mir fremd als ich mich sagen höre: „Es ist jetzt ein anderes Bild.“ 

„Diese blöde Kuh. Der wird ihr dauergutgelauntes Grinsen für immer vergehen.“ Sie sitzt zufrieden lächelnd mit einem Kaffee in Jogginghose und Kuschelsocken am Tisch und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hat sie Spaß an ihrem Leben. Aufstehen mit dem Gefühl von Macht und Kontrolle, dem Gefühl, etwas wert zu sein und einer Idee vom Tag. Keine Scheinaktivitäten, sondern ernsthafte Absichten die sie aus dem Bett treiben. Die Idee mit dem Smartphone, das sie auf der Straße deponiert, genau in dem Augenblick, als Shari um die Ecke biegt. Zur Vorsicht hatte sie sich einen schwarzen Kapuzenparker übergezogen, der drei Nummern zu groß war und den sie anschließend direkt in eine Mülltonne gestopft hatte. Überflüssig wie sich herausstellte, denn diese blöde Kuh war ja ständig so gut gelaunt, dass ihre Stupsnase immer Richtung Himmel zeigte in der Hoffnung keinen Vogel und keinen inspirierend gestalteten Balkon zu verpassen. Unerträglich diese Frau. Es muss einfach etwas passieren. Immer geht alles gut bei ihr. Sie hat alles, während andere zusehen müssen, wo sie bleiben. Sitzt da in ihrer schönen Altbauwohnung mit ihren zwei Kindern und obendrein einem liebevollen und attraktiven Ehemann. “Philipp… “,  spricht sie seinen Namen vorsichtig aus, als sei allein das Wort sehr wertvoll, „warum hast du diese langweilige Kuh geheiratet?“ sagt sie jetzt lauter. Egal, sie ist ja allein, wie immer. „Warum hast du alles kaputt gemacht? Ich war deine große Liebe. Du hast mich geliebt bis sie auftauchte. Ich hasse sie. Ich will, dass sie leidet. So wie ich damals.“ 

Ja, es war nur eine kurze Affäre, sie und Philipp. Sie hatte ein Praktikum in seiner Tischlerei absolviert. Drei Monate nur, aber sie war noch nie so glücklich gewesen, so erfüllt von Ideen und Plänen und Hoffnungen. Sie war blind dafür gewesen, als Philipp sich anfing von ihr zu distanzieren, ausweichend antwortete wenn sie fragte, ob er sich vorstellen könne, mit ihr zusammen zu leben und sich schließlich, nach ihrem Praktikum, nie wieder bei ihr meldete. Sie hatte sofort gespürt, dass da was war zwischen Shari und ihm und als er es ihr schließlich gestanden hatte, hatten sie ‘gemeinsam’ beschlossen, dass es wohl besser sei, wenn Shari nie von ihnen beiden erfahren würde, schließlich sei es nur eine kurze Sache gewesen, meinte Philipp. Eine kurze Sache. Diese drei Worte waren wie drei Schläge ins  Gesicht gewesen, aber sie hatte sich nichts anmerken lassen. Das konnte sie gut. Sie hatte in diesem Moment beschlossen, dass sie sich zurückholen würde, was ihr zustand, aber alles zu seiner Zeit und dieser Zeitpunkt würde kommen. Das wusste sie. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt und sie schreit jetzt, während ihr Tränen der Wut übers Gesicht laufen. „Verrecke, Shari! Ich lasse dich auffliegen. Ich weiß, was du getan hast! Ich enttarne dich und dann sieht jeder, dass dein blödes Grinsen nur Fassade ist. Vor allem Philipp wird endlich merken, dass er die falsche geheiratet hat,” schluchzt sie in das leere Zimmer hinein und ihr Gesicht verzieht sich zu einer tränenverschmierten, wütenden Fratze. 

Ich sitze mit Mareike bei ihr zuhause. Ich habe mich in der Agentur krank gemeldet und fühle mich wie in einem Alptraum gefangen. Das Bild von mir, das auf dem Display erscheint, wenn ich es bewege und das sich jetzt meine Schwester ansieht, zeigt mich und Timo beim Abendessen im Düsseldorfer Rheinhafen letzte Woche. “Scheiße”, sagt Mareike und sieht mich fragend an. “Shari, was machst du da? Wer ist das und wo seid ihr? Warum siehst du diesen Typen so verknallt an? Hast du was mit dem? Was ist mit Philipp? Ich dachte, es läuft gut mit euch?”

Die Fragen treffen mich wie Tennisbälle, die aus einem zu schnell eingestellten Ballautomaten kommen. ”Kannst du bitte mal was sagen?” Sie hebt die Handflächen nach oben und schaut mich fast hysterisch an. Ich stütze beide Ellenbogen auf den Tisch, mein Kinn in meinen Händen, die Finger über meinem Mund, als wollte ich mich selbst davon abhalten, zu sprechen. Ich nehme die Hände von meinem Mund und verschränke die Finger ineinander. “Ich wollte es längst beenden”, höre ich mich selbst wie aus der Ferne. “Es ist einfach so passiert. Es war so einfach mit ihm, so unkompliziert, keine Kinder, kein Alltag, einfach er und ich. Ein bisschen Spannung auf der Arbeit und das Gefühl jung und begehrt zu sein.” Mareike sieht mich fassungslos an. “Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, Mareike. Ich weiß selbst, dass es Mist ist. Philipp hat das nicht verdient und ich wollte das eigentlich auch gar nicht. Timo hat mit mir geflirtet, ich weiß, dass er schon länger auf mich steht und ich hab mich geschmeichelt gefühlt. Philipp ist immer in der Tischlerei und ich kämpfe mich durch den Alltag mit den Kindern. Versteh mich bitte nicht falsch, ich liebe mein Leben, aber es hat einfach gut getan mit ganz anderen Augen gesehen zu werden.” Mir laufen Tränen übers Gesicht. Ich bin wütend auf mich selbst und bereue plötzlich was ich getan habe. Es war nie meine Absicht Philipp weh zu tun und erst recht nicht, ihn zu verlassen. Es war wie ein Selbstläufer und ich habe verdrängt, dass mich das ganze irgendwann einholen könnte. 

“Ich habe es letzten Monat beendet”, sage ich leise und ziehe meine Nase hoch. Mareike reicht mir ein Taschentuch. “Na immerhin “, sagt sie, erstaunt darüber, dass ihre sonst so perfekte Schwester, wie sie gerne betont, doch nicht so perfekt ist wie alle glauben, und ihre Ehe offenbar auch nicht. “Was soll ich jetzt machen, Mareike? Jemand weiß Bescheid. Ich habe keinen Schimmer wer, geschweige denn, was er will. Ich kann mit niemandem darüber reden. Was ist, wenn Philipp davon erfährt? Nicht, dass ich es nicht verdient habe, aber dann kann ich einpacken und alles ist kaputt. Ich will ihm nicht unnötig weh tun und den Kindern schon gar nicht.” Ich seufze und schüttele meinen Kopf, als könne dies alles ungeschehen machen. “Das mit Timo ist vorbei, aber es würde trotzdem einen riesengroßen Schaden anrichten, Philipp würde mir das nie verzeihen. Verdammt, was hab ich nur getan?” Ich reibe mir die Stirn und spüre, wie mich Angst überkommt. Wirkliche Angst. Vielleicht will er mich umbringen, geht es mir durch den Kopf. Vielleicht will er mich erpressen, oder in den Wahnsinn treiben? Vielleicht ist es auch Philipp, der längst Bescheid weiß und sich rächen will? Nein, das ist Quatsch, beruhige ich mich selbst. Da spielt jemand ein Spiel mit mir, der weiß, dass ich nicht zur Polizei gehen kann, weil dann alles rauskommt. Denk nach, Shari, ermahne ich mich selbst. Wer hätte etwas davon, wenn meine Affäre mit Timo ans Licht käme? Mareike scheint genauso in Gedanken versunken, denn als ich zu ihr rüber sehe, schaut sie nachdenklich aus dem Fenster. “Du rufst jetzt erstmal den Netzbetreiber an”, sagt sie schließlich zu mir. “Wir müssen versuchen herauszufinden, auf wen das Gerät registriert ist.” 

“Danke trotzdem”, sage ich und lege auf. “Und?”, fragt Mareike sofort. “Es ist meins”, sage ich. Mareike ist mindestens genauso irritiert wie ich selbst. “Wie meinst du das? Es ist deins?” Ich beuge mich nach vorne, so dass ich ihr näher bin und flüstere: “Mareike, verstehst du denn nicht? Dieses Handy ist auf mich selbst registriert.”

Die nächsten zwei Wochen verbringe ich fast ausschließlich mit meiner Familie. Ich gehe zur Arbeit wie jeden Morgen, erledige meinen Job und zwinge mich, nicht an das Handy zu denken. Wie ein schlechter Traum beginnt die Erinnerung daran zu verblassen. Ich rede mir ein, dass es einfach ein Scherz von einem Neider oder heimlichen Verehrer war und dass nichts weiter passieren würde, immerhin hatte ich das Handy zwei weitere Tage eingeschaltet und niemand hat mich kontaktiert. Es ist bis auf das Hintergrundbild komplett leer. Ich nehme mein Umfeld jetzt ganz bewusst wahr, schaue genau hin, wer mir auf der Straße entgegen kommt oder in wessen Blickwinkel ich gerate, aber nichts. Rein gar nichts ungewöhnliches oder auffälliges. Als der Akku des Smartphones leer ist, beschließe ich, es erst einmal ausgeschaltet zu lassen, allerdings besorge ich mir ein passendes Ladekabel, weil ich die Sache abschließen will. Ich will mich selbst davon überzeugen, dass da nichts ist, niemand mich weiter beobachtet und ich einfach Glück hatte. Diese Sache hat mir endgültig gezeigt wo ich hingehöre und ich werde nie, ja nie wieder etwas tun, was meiner Familie schaden könnte. 

Es ist Samstag Nachmittag und Philipp ist mit den Kindern zu seinen Eltern aufs Land gefahren. Ich bin allein. Bis morgen  Abend, denke ich und spüre ein Ziehen im Bauch. Ich schenke mir ein Glas Wein ein und nehme das Handy aus meinem Schreibtisch. Mein Herz schlägt fest in meiner Brust und mein Atem geht schneller. Das Licht einer wunderbaren Septembersonne scheint in mein Wohnzimmer und taucht es in einen warmen Orangefilter. Für Spätsommer ist es noch sehr warm. Normalerweise sitze ich in solchen Momenten mit meinem Wein auf dem Balkon und genieße die Ruhe. Nicht aber heute. Nicht jetzt. Ich stecke das Ladekabel ein und warte. Es dauert, der Bildschirm bleibt eine gefühlte Ewigkeit schwarz. Ich nehme einen Schluck von meinem Wein, der bitter schmeckt. Ich frage mich, wie lange die Flasche schon geöffnet da steht, als ich den Firmennamen des Smartphones aufleuchten sehe, gefolgt von einem ‘Pling’, das die gleiche Wirkung auf mich hat wie ein Donnerschlag mitten in der Nacht. Kurz darauf werde ich aufgefordert, die PIN Nummer einzugeben. 

Na toll, denke ich. Hätte ich es doch nicht ausgehen lassen. Jetzt krieg ich es nicht mehr an. Woher soll ich die PIN Nummer wissen? Ich nehme noch einen Schluck Wein. Immer noch bitter. Die Sonne ist hinter einem gegenüber liegenden Haus verschwunden. Mir ist kalt. Der warme Orangefilter wurde gegen einen kühlen Grauschleier ausgetauscht, der mir zeigt, dass es nicht mehr lange dauert, bis ich das Licht werde einschalten müssen. Ich starre auf das Display, als erscheine dort gleich die Lösung meines Problems, als mir plötzlich eine Idee kommt. Nein, das ist albern, das werde ich nicht tun, sage ich so laut zu mir selbst, dass mich Charles, unser schwarzer Kater, irritiert ansieht. Ich gebe dem Wein eine letzte Chance bevor ich ihn angewidert zur Seite stelle und dann gebe ich, Zahl für Zahl, mit klopfendem Herzen mein Geburtsdatum ein: 1 -9 – 0 – 4 – 8 – 1. 

Sie liest die Nachricht wieder und wieder. “Ja, das ist gut”, sagt sie laut zu sich selbst.” Das schafft nicht mal Shari sich schön zu reden. “Du bist geliefert, meine Hübsche. 3,2,1…”, sie drückt auf ‘senden’ und klatscht so fest in die Hände, dass es weh tut. Danach nimmt sie einen tiefen Atemzug und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand vor der sie mit einem Handy bewaffnet sitzt. Sie fühlt eine Art Genugtuung. Ein Gefühl des Triumphs durchströmt sie wie warmes Sonnenlicht. Nein, sie schämt sich kein Stück. Das Miststück hatte es genauso verdient. Sollte sie doch auch mal sehen wie es ist, nicht zu wissen, wem man vertrauen kann und wem nicht. Wer Freund und wer Feind ist, wer gut und wer böse. “Ich hoffe, du hast letzte Nacht gut geschlafen, Shari”, sagt sie erneut zu sich selbst, “denn das war vorerst das letzte Mal, dass du ein Auge zu machst. Und ich bin erst am Anfang.” Sie schaltet das Handy aus, nimmt die Prepaid-Karte heraus und zerbricht sie mit einem hämischen Grinsen im Gesicht. 

Ich weiß nicht, ob ich gehofft hatte, dass das Smartphone startet oder aus bleibt und obwohl ich damit gerechnet habe, erschrecke ich mich so sehr, dass mir das Gerät fast aus der Hand fällt, als das Display aufleuchtet und ich erneut Timo und mich sehe. Diesmal allerdings zeigt das Foto, wie wir Hand in Hand im Eingang eines kleinen Hotels verschwinden. Bingo. Ich bin geliefert. Trotz der Kühle, in die mein Wohnzimmer mittlerweile getaucht ist, bricht mir der Schweiß aus. Ich bin in diesem Moment sicher, dass mir mein Leben innerhalb der nächsten Zeit um die Ohren fliegt und alles rauskommt. Mir wird schlecht bei der Vorstellung, alles zu verlieren, aber mindestens genauso schlimm finde ich die Tatsache, dass mich offenbar die ganze Zeit über jemand beobachtet hat und es womöglich noch immer tut. Wie ferngesteuert stehe ich auf und schließe die Vorhänge. Setze mich zurück an unseren großen Esstisch, der immer ein Ort der Geselligkeit und Geborgenheit für mich war und fühle mich zum ersten Mal einsam und von aller Welt verlassen. Obwohl er mir nicht schmeckt, greife ich wieder zu meinem Wein und kippe ihn in einem Zug runter. Der Alkohol erfüllt mich sofort mit einer lähmenden Schwere und als ich gerade meinen Kopf auf die Tischplatte legen will um zu überlegen, was ich jetzt tun soll, leuchtet das Display des Smartphones bedrohlich auf und gibt gleichzeitig einen Piepton von sich, der mich an zerbrechendes Glas erinnert. Ich öffne die Nachricht und sofort steigen mir Tränen in die Augen. “Jetzt siehst du wie es ist, wenn einem alles genommen wird. Wenn ich mit dir fertig bin, willst du nicht mehr leben, Shari!“ 

Natürlich kennt er auch meinen Namen! Als wenn das noch eine Rolle spielen würde, denke ich und stütze die Stirn in meine Hände. Eine Weile sitze ich so da und versuche klar zu denken. Ich richte mich auf und atme tief ein. Ich schaue mich um und fühle mich wie ein Beobachter meines aus den Fugen geratenen Daseins. Das muss aufhören. Ich will mein Leben zurück. Ich möchte mich nicht mehr beobachtet fühlen. Ich muss mit diesem Smartphone zur Polizei. Ich will wissen, wer dahinter steckt. Vorher rede ich mit Philipp. Ich werde ihm alles beichten, nehme ich mir vor. Die Affäre mit Timo und die Sache mit dem Handy. 

Ich greife zum Festnetztelefon und wähle Mareikes Nummer um sie zu fragen, ob sie morgen Abend die Kinder nehmen kann, damit ich Zeit mit Philipp habe. „Klar kann ich die beiden nehmen, ich muss am Montag erst spät zur Arbeit und es sind Ferien, aber bist du dir sicher, dass du es Philipp wirklich erzählen willst?“, fragt Mareike mich. „Gibt es denn keine andere Lösung? Hast du mal versucht, die Nummer anzurufen, von wo aus die Nachricht gesendet wurde?“ Obwohl ich darüber nachgedacht hatte, habe ich den Gedanken wieder verworfen. „Anzurufen oder die Nummer zurückverfolgen zu lassen macht doch einfach keinen Sinn, Mareike, denn so schlau wird die Person wohl sein, irgendeine Prepaid Nummer verwendet zu haben, die nach dem Senden der Nachricht direkt entsorgt werden konnte. Und vergiss nicht, es ist auf mich selbst registriert, wie auch immer diese Person das angestellt hat.” Mareikes Schweigen zeigt mir, dass sie nicht sicher ist, ob ich Recht habe oder nicht. „Was ist, wenn ich das Handy einfach wegwerfe und die ganze Sache vergesse?“ „Hm, höre ich vom anderen Ende der Leitung.“ „Glaubst du, da macht sich jemand diese ganze Mühe um dich dann in Ruhe zu lassen, wenn du ihn ignorierst?“ Einen Versuch wäre es wert, denke ich, aber vermutlich hat sie Recht und es würde nur noch schlimmer werden. „Also besser ich selbst beichte Philipp was passiert ist, als wenn ein anderer es ihm erzählt  und er sich doppelt belogen fühlt.“  Bei dem Gedanken daran, Philipp meine Affäre mit Timo zu gestehen, überkommt mich beides, Angst und Erleichterung. Dann hat das alles endlich ein Ende. Ich fühle mich elend und möchte mich am liebsten vor der Welt verstecken.

Ein Klopfen reißt sie unsanft aus dem Schlaf. Sie muss eingenickt sein, denn das Telefon liegt noch in ihrer Hand, aber sie erinnert sich nicht daran, ob sie aufgelegt hatte und schaut auf das Display. Nichts. War da überhaupt jemand gewesen? Sie weiß es nicht. Sie fühlt sich leer und orientierungslos. “Das müssen die Tabletten sein”, denkt sie. Das Klopfen wird lauter. „Frau Weidhof, sind sie da? Sie haben Ihren Termin versäumt. Ich mache mir Sorgen und dachte, ich schaue mal bei Ihnen vorbei.” Sie erstarrt. Kurz ist sie sich nicht sicher, ob sie sich ganz leise verhalten oder die Tür öffnen soll. Wer ist das? Die Stimme kommt ihr bekannt vor, aber sie kann sie nicht einordnen. Der Raum erscheint ihr plötzlich kleiner und auf die gleiche Weise erscheint ihr ihr Brustkorb zu eng für ihr klopfendes Herz. Die Tür öffnet sich und die Frau, die von draußen zu ihr gesprochen haben muss, betritt das Zimmer. 

Philipp und ich leeren gerade die zweite Flasche Wein. Ich rücke sofort mit der Sprache raus, nachdem Mareike die Kinder abgeholt hat, um vor Philipp nicht den Anschein zu erwecken, ich wolle mit ihm einen romantischen Abend verbringen. Die Worte sprudeln aus mir heraus wie Wasser aus einem Springbrunnen. Philipp schweigt und hört mir zu. Ab und zu schenkt er uns beiden Wein nach. Ich frage mich, wie ich es schaffe, beim Trinken mit ihm Schritt zu halten, wo ich doch die ganze Zeit rede. Als ich gesagt habe, was ich zu sagen hatte, steht Philipp auf und geht zum Fenster. Gedankenverloren schaut er auf die Straße und ich stelle mich auf die Vorwürfe  ein, die mich jetzt erwarten. Statt dessen sagt er nur: “Ich habe einen Verdacht, Shari.”

Ich war auch nicht ganz ehrlich zu dir. Vielleicht ist das, worüber ich geschwiegen habe nicht so gravierend wie das Geheimnis, das du vor mir hattest, dafür trage ich meins bereits unsere gesamte gemeinsame Zeit über mit mir herum.” Er dreht sich um und schaut mich an. “Was ist es?”, frage ich und spüre, wie mich ein Schaudern erfasst. Die letzten zwei Wochen waren die pure Hölle. Ich hatte Angst alles zu verlieren, weil ich mit dem Feuer gespielt hatte. Ich fühlte mich schuldig und undankbar, war verzweifelt und der festen Überzeugung, mit niemandem reden zu können, weil sonst alles auffliegen würde und das erste was mein Mann zu mir sagt, als ich ihm alles gestehe ist, dass er auch nicht ganz ehrlich zu mir war? Was kann das für ein Geheimnis sein, das er vor mir verbirgt, wenn er es all die Jahre über gehütet hat und darüber offensichtlich meine Affäre mit Timo nicht mal erwähnenswert findet? Meine Gedanken überschlagen sich und werden erst durch Philipps Worte zum Schweigen gebracht. Als er anfängt zu reden, donnert es draußen. Ich hatte das Gewitter bis jetzt nicht bemerkt, aber die kühle Luft, die durch das offene Fenster herein weht, tut erstaunlich gut. 

“Kerstin?” Ich fühle mich wie auf einem Schiff mitten auf dem Ozean bei Seegang. Ein Wort, ein Name und meine Welt gerät ein zweites Mal ins Wanken. “Was meinst du damit, es könnte sein, dass es Kerstin ist?” Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich meine Freundin Kerstin meint, aber eine andere kenne ich nicht. Mein Verstand ist langsamer als seine Worte. “Okay, Shari”, fängt Philipp an und setzt sich wieder mir gegenüber an den Tisch. “Wir müssen etwas tun. Sie ist gefährlich.” Ich versuche Schritt zu halten als er mir die ganze Geschichte erzählt. Danach bin ich es, die aufsteht und zum Fenster geht. “Ich brauche Luft”, sage ich und öffne es. Ich atme tief ein, das Gewitter hatte eine bereinigende Wirkung, denke ich und bin mir der Doppeldeutigkeit bewusst. Ich atme die kühle Nachtluft ein. Bin ich verletzt oder erleichtert? Von beidem ein bisschen vermutlich. So spielt das Leben, denke ich. Du glaubst, du bist der böse, fühlst dich schuldig, hast ein schlechtes Gewissen und kaum einen Moment später bist du das Opfer und fühlst dich machtlos und ausgeliefert. Philipp kannte Kerstin bereits bevor er mich kannte. Ich kann es immer noch nicht glauben. Eine kurze Affäre hatten sie, als ich während des Studiums im Ausland war. Kerstin und ich hatten zu der Zeit nur wenig Kontakt. Ich wusste, dass sie irgendwo ein Praktikum macht, das sie für ihre Ausbildung zur Requisiteurin brauchte und ich wusste auch, dass sie während dieser Zeit etwas mit einem Kollegen hatte, aber sie war nie besonders offen was ihre Beziehungen anging und ich hatte damals nicht die Möglichkeit mich ausgiebig genug zu erkundigen. Irgendwann erwähnte sie ihn nicht mehr und als wir uns auf meiner Willkommensparty wieder gesehen haben, hatten wir so viele andere Dinge zu besprechen, dass es in Vergessenheit geriet. Irgendwann sagte sie mir, er sei der größte Idiot dieser Erde gewesen und das war es dann. 

Kerstin und ich waren nicht die besten Freundinnen. Wir hatten auch keine gemeinsamen Freunde, sondern kannten uns von der Uni, wo sie jedoch nicht studierte, sondern im Rahmen ihrer Ausbildung einen Auftrag erledigte. So genau hatte ich nie nachgefragt. Wir waren die Sorte Freundin, mit der man sich alle paar Monate mal auf einen Kaffee trifft und Neuigkeiten austauscht, so wie kürzlich. Fieberhaft überlege ich, was sie mir erzählt hat. Hatte sie überhaupt von sich erzählt? Mir wird plötzlich bewusst, dass ich eine ziemlich miserable Freundin gewesen sein musste. Ich hatte nicht mal auf der Party nach meiner Rückkehr bemerkt, dass Philipp und Kerstin sich kannten. Sie waren zusammen da, was mir bei all den Leuten, die ich ebenfalls nicht kannte, nicht aufgefallen war. Die beiden hatten an dem Tag Streit und haben deswegen nicht miteinander geredet. Trotzdem hätte ich es bemerken müssen, werfe ich mir vor. An diesem Abend hatten Philipp und ich uns ineinander verliebt. 

“Mein Gott, Philipp”, sage ich, als mir das Ausmaß der Tragödie schlagartig klar wird. “Was haben wir getan? Du warst mit ihr zusammen auf meiner Party und hast dich wegen mir direkt danach von ihr getrennt? Warum hast du mir nichts erzählt? Dir muss doch klar gewesen sein, dass du sie wieder sehen könntest?” Philipp schüttelt wortlos den Kopf. “Ich wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Sie hat mich bedroht. Hat gesagt, dass der Tag kommen würde, an dem ich es bitter bereuen würde, sie wegen dir abserviert zu haben. Sie hat eine riesen Szene gemacht und mir Drohbriefe geschrieben. Ich sagte ihr, wenn sie nicht augenblicklich damit aufhörte, ginge ich zur Polizei und dann könne sie ihre Ausbildung vergessen. Ich verlangte sogar von ihr, dass sie dich nicht kontaktiert, aber Sie ließ mich in Ruhe und ich beließ es dabei. Es ist gut gegangen. Sie hat dir offenbar nie etwas von mir erzählt und so oft hast du sie ja nicht getroffen. Da habe ich es auf sich beruhen lassen. Ich konnte ja nicht ahnen, zu was sie fähig ist. Es tut mir leid, Shari.” 

Ich durchlebte in Sekunden meine vergangenen Treffen mit Kerstin noch einmal. Sie hatte nie geheiratet, aber schien zufrieden zu sein. Sie interessierte sich sehr für Philipp und die Kinder, aber bestand immer auf ein Treffen an einem neutralen Ort. Das war dann unsere Flucht vor dem Alltag. Ich dachte mir nichts dabei. Vor kurzem aber besuchte sie mich zuhause als Philipp wegen eines Auftrages für ein paar Tage weg war. Das ergibt plötzlich alles einen Sinn. Jetzt erst fällt mir auf, dass das die Zeit gewesen sein muss, als ich meinen Personalausweis nicht mehr wieder fand.  Sie stand an dem Tag vor einem Familienfoto und sagte so etwas wie halte dein Glück fest, es kann schnell vorbei sein damit. Kerstin hat einen Hang zum Drama und so nahm ich es nicht weiter ernst. Hätte ich tun sollen. Zuhören, Fragen stellen, den Menschen mir gegenüber wirklich kennenlernen. Offenbar ist mir das bei ihr nicht gelungen und wenn ich ehrlich bin, habe ich es wohl auch nie versucht. Mich beschleichen Mitleid und Wut gleichzeitig. Ich bin sogar ein wenig traurig über den Verlust der Freundin, die wohl nie wirklich eine war. Zumindest nicht seit dem ich ihr, ohne es zu wissen, den Freund ausgespannt habe. “Was tun wir jetzt?”, frage ich Philipp. “Spielt es denn überhaupt noch eine Rolle? Wir wissen beide über einander Bescheid”, sagt er und zieht die Schultern hoch. “Ja, du hast Recht. Es spielt keine Rolle mehr.” Ich gehe um den Esstisch herum, beuge mich von hinten zu ihm herab und lege ihm meine Arme um die Schultern. Ich atme seinen Geruch ein und entspanne mich. Endlich.

Die Schwester verlässt ihr Zimmer. Sie weiß immer noch nicht, ob sie sie schon mal gesehen hat, oder ob sie neu hier ist. Auf der Türschwelle bleibt sie stehen und dreht sich nochmal zu ihr um. “Gehen sie mal wieder vor die Tür, Frau Weidhof. Sie müssen nicht den ganzen Tag in ihrem Zimmer verbringen. Wenn sie um 18:00 Uhr wieder hier sind, reicht das. Ihre Behandlung ist bald abgeschlossen, sie sind gut eingestellt. Dann dürfen sie auch wieder zuhause schlafen. Fangen sie damit an, sich draußen umzusehen. Setzen sie sich in ein Café und genießen sie die letzten Sommertage.” Sie lächelt versonnen und geht ihr damit auf die Nerven. “Treffen sie eine Freundin”, rät sie ihr noch, “dann geht es ihnen bald wieder besser.” Mit diesen Worten schließt sie die Tür hinter sich. Eine Freundin, denkt sie und rollt die Augen hoch. “Ich hatte mal eine Freundin, aber der geht es gerade selbst nicht so gut”, sagt sie jetzt laut und grinst.  Sie greift in ihre Nachttischschublade, schiebt den fremden Personalausweis zur Seite und holt eine der Prepaid Karten heraus, die sie vorsorglich gekauft hatte. Sie steckt sie in das Smartphone, das sie ebenfalls aus der Schublade zieht. Das Foto, das sie versenden wird, zeigt sie selbst zusammen mit Philipp. Arm in Arm. Glücklich. Am Flughafen in ihrem letzten Urlaub, als es ihr noch gut ging. Bevor sie zusammengebrochen und hier eingeliefert worden war. Bevor Philipp jeden Kontakt zu ihr abgebrochen hatte.  Bevor ihr Leben zu einem einsamen Alptraum geworden war. Sie fährt mit dem Finger über das Display. Über Philipps Mund und  vergewissert  sich dabei, dass man das Datum auf der Anzeigetafel  lesen kann. Der 06. September, heute genau vor einem Jahr. Dann drückt sie auf ‘senden’. 

Sie schaltet das Handy aus, nimmt die Karte heraus und bevor sie es zurück in die Schublade legt, schluckt sie die Karte zusammen mit den Medikamenten, die ihr die Schwester in dem kleinen runden Becher auf den Nachttisch gestellt hat, runter. Als sie den Becher wieder abstellt, fällt ihr Blick auf ihren Namen darauf. Kerstin Weidhof. 

3 thoughts on “Enttarnt

  1. Okay – Not Bad! Fang ich mal hinten an… das Ende ist einfach klasse!! Unerwartet und böse, genau nach meinem Geschmack 🙂
    Du beschreibst genauso gut wenn nicht noch besser die perfiden Gedanken der Täterrolle richtig erschreckend gut, sodass man die Täter/das Böse fast schon nachvollziehen kann. Sowieso, deine Kunst Dinge/Menschen/Situationen/Gesten zu beschreiben kommt fast schon einem Hörspiel gleich. Man hört deine Geschichte förmlich, wenn man sie liest. Auch die Idee deiner Geschichte, dass beide Partner Affären hatten – einfach genial ausgeschmückt! Finde auch deine Namensgebung super gelungen und Shari passt einfach zu der Person die du da beschreibst, das ist einfach eine Shari!:)
    Dein Schreibstil/deine Wortwahl lädt zum weiterlesen ein. Das hier ist nicht nur ein guter Psychothriller sondern nebenbei auch ein richtig schönes Liebesdrama! Meine Stimme hast du!:)
    Herzlich – Lia 😉

    Wenn du Lust hast; lies gerne auch mal meine Geschichte „was sich liebt das hackt sich“ würde mich freuen!

  2. Finde deine Geschichte mega. Die Idee gefällt mir sehr gut, vor allem finde ich es faszinierend, wie du aus einer “Spannungsvorgabe” auch noch ein kleines Liebesdrama herausholen konntest.
    Mich hat es bloß etwas irritiert, wenn die Perspektive gewechselt wurde, vielleicht könnte man das vorher etwas deutlicher machen.
    Aber ansonsten ist dir das echt gut gelungen, bleib unbedingt dran, da kann man sicher noch mehr draus machen.
    Als kleiner Tipp: Lass deine Geschichte nochmal Korrektur lesen. Das Tempus wechselt oft.
    Vielleicht hast du ja auch Lust meinen Beitrag zu lesen: Gedächtnisschwund

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