TomGenetik

Der U-Bahnhof war fast menschenleer. Nur ein paar Pendler standen an den Gleisen, einige betrunkene Jugendliche torkelten den Bahnsteig entlang und in einer Ecke schlief ein obdachloser Mann mit seinem Hund. Vinz hatte für keinen von ihnen Augen. Er lehnte an einer Wand und tat, als würde er Zeitung lesen, doch sein Blick haftete an dem Mann in Lederjacke mit dem roten Basecap. Ab und zu senkte Vinz den Kopf, um nicht aufzufallen und las tatsächlich ein paar Worte.

Obama wird erster schwarzer US-Präsident verkündete seine Zeitung in großen Lettern.

Er sah wieder zu dem Mann in Lederjacke mit dem roten Basecap. Dann schaute er auf seine Uhr.

6.02 Uhr. Einen letzten Moment genoss er die Stille auf dem Bahnsteig. Dann fuhr die U-Bahn ein. Durch den Luftstoß erfasst, wehte Vinz´ Mantel nach hinten. Rasch zog er ihn wieder eng um sich, um den Blick nicht auf die darunterliegende Pistole freizugeben. Die U-Bahn kam zum Stehen. Türen öffneten sich und plötzlich waren überall Menschen. Menschen verschiedensten Alters, verschiedenster Herkunft und verschiedenster Größe. Sie fluteten die U-Bahn-Station, drängten sich an ihm vorbei und versperrten ihm die Sicht.

Für einen Moment dachte Vinz, er hätte sein Ziel verloren. Nervös kratzte er sich hinter dem Ohr. Dann sah er es zwischen all den Köpfen: Das rote Basecap. Hastig bahnte er sich einen Weg durch das Menschenmeer und schaffte es in letzter Sekunde, sich in dasselbe Abteil zu quetschen. Die Türen schlossen sich und die U-Bahn setzte sich in Bewegung. Der Mann mit dem Basecap stand nur ein paar Meter von ihm entfernt. Er sah zwar auf sein Handy, dennoch zog sich Vinz sein eigenes Basecap tiefer ins Gesicht. Er holte ein Foto aus seiner Manteltasche und glich es mit der Person ab. Zum dritten Mal an diesem Morgen, doch lieber einmal zu viel als zu wenig. Es bestand noch immer kein Zweifel. Anfang sechzig. Graue Haare. Markantes Kinn. Das war der Mann.

Drei Stationen lang verharrte Vinz an seinem Platz und beobachtete das rote Basecap aus den Augenwinkeln. An der vierten Station stieg der Mann aus. Vinz wartete, bis er das Abteil verlassen hatte und folgte ihm. Er wusste, wohin der Mann ging. Er folgte ihm die Treppen nach oben und die Straße entlang. In gebührendem Abstand, sorgfältig darauf achtend, dass das Geräusch seiner Schritte ihn nicht verriet. Der Mann rückte das rote Basecap zurecht, als er die Stufen zu einer Unterführung hinabstieg. Vinz ging ihm nach und augenblicklich verebbte der Straßenlärm. Die Unterführung war lang, bestimmt 100 Meter, und Vinz ging schnell, um sein Ziel einzuholen. Seine Schritte knallten jetzt wie Pistolenschüsse auf dem Boden, doch das war nun egal. Er warf einen flüchtigen Blick zurück. Niemand. Sie waren allein. Vinz´ Hand fuhr unter den Mantel und ertastete den Griff seiner Beretta. Er hatte aufgeholt und war nur noch wenige Meter von seinem Ziel entfernt. Der Mann bemerkte ihn und blieb stehen. Er drehte sich um und hob abwehrend die Hände, doch es war zu spät.

Es zischte dreimal, fast als würde jemand stoßweise die Luft aus einem Luftballon lassen.

Eine kleine Rauchschwade stieg aus dem Schalldämpfer der Pistole in Vinz´ Hand hervor, als der Mann auf die Knie fiel. Drei Schüsse ins Herz, das war Vinz´ Markenzeichen. Andere Auftragsmörder bevorzugten einen Schuss in den Kopf, wieder andere einen gezielten Schuss mit dem Scharfschützengewehr. Vinz war das alles zu riskant. Er bevorzugte drei Schüsse auf kurze Distanz. Ins Herz. Das überlebte niemand.

Sein Opfer sackte zu Boden und blieb regungslos liegen. Zufrieden fischte Vinz ein Wegwerfhandy aus seiner Manteltasche. Zehntausend Euro befanden sich schon auf seinem Konto. Weitere zehntausend sollten folgen, sobald er ein Foto der Leiche an seinen anonymen Auftraggeber geschickt hatte. So war es in seinem Geschäft üblich. Er hatte gerade die Kamera geöffnet, als sein Blick auf das Handy in der Hand des Toten fiel. Vinz zögerte eine Sekunde, dann griff er danach. Die Leiche brauchte es nicht mehr und wenn er das Foto davon versenden und es danach im nächstbesten Teich versenken würde, musste er sein Wegwerfhandy nicht verwenden.

Er war gerade dabei, das Foto zu machen, als ein Bild auf dem Display erschien. Vinz glaubte zunächst, er sei mit dem Finger auf eines der Symbole gekommen und hätte aus Versehen eine App geöffnet. Doch das Bild verschwand gleich darauf wieder und machte Platz für ein zweites Foto. Und danach noch eines. Ungläubig starrte er auf das Handy und auf die Fotos, die sich darauf abwechselten. Zuerst waren es Bilder von einem kleinen Jungen, mal spielend, mal etwas essend, mal weinend. Dann zeigten die Bilder einen Teenager, einen jungen Mann und schließlich … Vinz fuhr es eiskalt den Rücken hinunter, als er erkannte, dass er auf seine eigene Lebensgeschichte blickte. Sein gesamtes Leben in Bildern. Stocksteif stand er mitten in der Unterführung, die Leiche neben sich schon längst vergessen.

Zwei Minuten lang dauerte die kleine Diashow, doch ihm kam es vor, als wäre es so lang wie das Leben, das bildhaft an ihm vorbeizog. Sie endete mit einem Foto, das Vinz im Mantel zeigte. Mit einem dunklen Basecap bis ins Gesicht gezogen. Er stand auf einem Bahnsteig. Vinz sah auf den Timecode des Bildes. Ein weiterer kalter Schauer ließ ihn erzittern. Das Bild war eine halbe Stunde alt.

Schritte hallten durch die Unterführung und rissen ihn aus seinen Gedanken. Menschen kamen. Augenblicklich wurde ihm gewahr, dass er noch immer neben einer Leiche stand. Hektisch schoss er das Foto von dem Toten mit seinem eigenen Handy und rannte davon.

Vinz kannte sich nicht besonders gut mit Technik aus. Das musste er auch nicht. Er kannte Leute, die das taten. Und die nicht zu viele Fragen stellten. Er hatte das Smartphone zu einem Bekannten gebracht, der im Keller einer schäbigen Bar „Informationsbeschaffungen aller Art“ anbot. Der hatte ihm erklärt, dass die Bilder nicht von dem Smartphone des Toten stammten. Vielmehr wurden sie von einem anderen Gerät gesendet und gezielt genau dann geöffnet, als Vinz nach dem Smartphone griff. Jemand wollte, dass er diese Bilder sah.

Zwei Stunden und vierhundert Euro später wusste Vinz, von welchem Handy die Bilder versendet wurden. Informationsbeschaffung hatte so ihren Preis, doch den war sie wert.

Und noch besser: Vinz hatte eine Adresse.

Seine Kopfschmerzen besserten sich etwas, als er seinen Kopf an die kühle Fensterscheibe lehnte.

Wie aufs Stichwort fuhr der Bus durch ein Schlagloch und Vinz´ Kopf schlug hart gegen das Glas.

Er rieb sich die Stelle und sah nach draußen. Die Adresse befand sich außerhalb der Stadt in einem Vorort. Zu weit entfernt vom Stadtzentrum für eine U-Bahn-Linie. Also hatte Vinz den Bus nehmen müssen. Er hasste Busfahren. Zu lange dauerte es und zu unbequem war es, doch zumindest hatte er Zeit zum Nachdenken. Über den Mann, den er erschossen hatte, und über das Handy. Vor allem über das Handy. Menschen zu erschießen war sein Job. Doch die Bilder von ihm selbst wollten ihm nicht aus dem Sinn gehen und bereiteten ihm Kopfschmerzen. Wer hatte die Bilder aufgenommen? Und warum? Und was hatte der Tote damit zu tun? Der Mann mit dem roten Basecap. War er nur Mittel zum Zweck gewesen, um Vinz die Fotos zukommen zu lassen? Sein Kopf drehte sich und so tastete er nach seiner Beretta. Sie gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, und auch wenn es nur ein Gefühl war, es war doch etwas, das er momentan gut gebrauchen konnte.

Eines der Fotos beschäftigte ihn besonders. Es zeigte Vinz als kleinen Jungen. Er war zwei, vielleicht drei Jahre alt und eine Frau stand neben ihm. Sie lachte und hielt ihn an beiden Händen fest. Das war die einzige Erinnerung, die Vinz noch an seine Mutter hatte. Das Waisenheim, in dem er aufgewachsen war, hatte ihm nicht sagen können, was mit ihr geschehen war. Oder mit seinem Vater. Falls er denn je einen gehabt hatte. Und auch seine verschiedenen Pflegeeltern hatten ihn immer nur geduldet. Bestenfalls. Als er mit siebzehn von seiner dritten Pflegefamilie weglief, hatte er nichts bei sich außer seiner Kleidung und einem alten Teddybären. Den Teddy hatte er immer noch.

Doch Vinz dachte nicht gern an die Vergangenheit. Dafür war sie zu schmerzlich gewesen.

Als der Bus eine halbe Stunde später hielt, Vinz absetzte und weiterfuhr, fand er sich in einem Vorort wieder, der klischeehafter nicht hätte sein können. Einfamilienhäuser reihten sich aneinander, durch vorbildlich gepflegte Gärten voneinander getrennt. Laubbäume säumten die breite Straße und Vinz musste noch nicht einmal still sein, um die Vögel darin singen zu hören.

Der Vorort war größer als gedacht. Einige hundert Meter musste Vinz laufen, bis er in ein Villenviertel gelangte. Er ging an den ersten Villen vorbei. Manche waren groß und aufwendig saniert. BMWs oder Audis standen in der Einfahrt. Sogar einen Porsche konnte er entdecken. Andere waren verfallen und heruntergekommen. Oft waren Fenster eingeschlagen.

Er blieb vor einer der prachtvolleren stehen. Dreistöckig, mit weißer Fassade und einem einladenden Vorgarten. Er rief sich die Adresse ins Gedächtnis und glich sie mit der Hausnummer ab. Das war sie.

Da man ihm vielleicht nicht wohlgesinnt war, kam Klingeln nicht in Frage. Hastig sah er sich um. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, deswegen sprang er über den niedrigen Gartenzaun und hastete über den Rasen zum Haus. In geduckter Haltung schlich er die Hauswand entlang zur Rückseite, stets darauf achtend, sich unter den Fenstern des Erdgeschosses wegzuducken. Einen richtigen Plan hatte er auch jetzt nicht, doch mit viel Glück fand er … da! Ein offenes Fenster. Mit einer Leichtfüßigkeit, die jeden Ninja eifersüchtig gemacht hätte, kletterte er durch das Fenster ins Erdgeschoss. Ein offenes Fenster bedeutete aller Wahrscheinlichkeit nach, dass jemand zuhause war. Doch das war ihm gerade recht. Wer auch immer hier wohnte und was auch immer dieser jemand gegen ihn hatte – er wollte ihn zur Rede stellen.

Er schlich auf Zehenspitzen einen langen Flur entlang, die Pistole längst im Anschlag. Er konnte nicht verhindern, dass der alte Parkettboden hier und da quietschte. Auf der linken Seite befand sich eine Tür. Ein Blick hinein verriet Vinz, dass es sich um ein Badezimmer handelte. Er schlich vorsichtig weiter zur großen Doppeltür, die sich am Ende des Ganges befand. Vorsichtig öffnete er sie einen Spalt breit und spähte hinein. Es war ein riesiges Wohnzimmer mit einem offenen Kamin, Bildern von Jagdszenen an der Wand und einem gigantischen Flachbildschirm an der Rückwand, der das rustikale Gesamtbild gekonnt zerstörte. Keine Spur von einem Bewohner. Dafür entdeckte Vinz einen alten Sekretär. Er war aufgeklappt und jede Menge Notizen, Mitschriften und Ausdrucke lagen darauf. Vinz beschloss, sie schnell durchzusehen und schlich durch das Wohnzimmer. Er erreichte den Sekretär, legte seine Waffe darauf ab und blätterte.

Es waren mehr  Rechnungen als persönliche Briefe. Nichts Interessantes. Allerdings verrieten die Briefe ihm, mit wem er es zu tun hatte. Sie waren allesamt adressiert an einen Alec Eisenschmidt. Der Name sagte Vinz nichts, doch das musste nichts heißen. In einem Geschäft, in dem man Leute umlegt, machte man sich zwangsläufig Feinde. Auch solche, von denen man nichts wusste. Ganz besonders solche.

„Was machen Sie hier?“

Vinz erschrak. Seine Hand zuckte in Richtung der Pistole.

„Die würd ich liegen lassen.“, sagte die Männerstimme hinter ihm und Vinz hörte das Klicken, das eine Pistole von sich gab, wenn sie entsichert wurde.

„Langsam umdrehen!“, forderte die Stimme ihn auf. Vinz hob langsam seine Hände und folgte der Aufforderung.

Ungläubig riss er die Augen auf. In der großen Doppeltür stand, eine Pistole auf ihn richtend, ein Mann, doch es hätte genauso gut ein Spiegel sein können. Er glich Vinz wie ein Ei dem anderen. Die Haare, die Augen, das Gesicht, selbst die Körperhaltung.

„Was soll das?“, fragte Vinz. „Was wird hier gespielt?“

Doch zu seiner Überraschung schien sein Gegenüber mindestens genauso überrascht zu sein.

„Wer … wer sind Sie?“, fragte er.

Vinz wusste weder was er sagen, noch was er denken sollte. Sein Zwilling schien die Fassung allerdings wiedererlangt zu haben, denn er richtete die Pistole auf seinen Kopf, um der Frage Nachdruck zu verleihen.

„Vinz.“, antwortete er. „Vinz Peters. Wer sind Sie?“

Der Fremde runzelte die Stirn.

„Alec Eisenschmidt. Und das ist mein Haus. Sagen Sie mir auf der Stelle, was Sie hier machen. Und warum Sie aussehen wie ich, Vinz Peters. Er spuckte den Namen aus als wäre es der seines Todfeindes. Vinz war noch immer ein schockiert, weshalb die Wahrheit aus seinem Mund kam, bevor er darüber nachdenken konnte.

„Ich bin Ihrer Spur bis hier gefolgt.“

Alec runzelte die Stirn.

„Welcher Spur?“, fragte er.

„Der des Handys.“

Alecs Gesicht glich einem Fragezeichen. Und seine Geduld war am Ende.

„Was für ein Handy?“, fragte er genervt. Sein Finger legte sich auf den Abzug, als Vinz vorsichtig in seine Tasche griff und das Smartphone hervorholte, auf dem er die Bilder von sich gesehen hatte.

„Ist nicht meins.“, sagte sein Gegenüber, ohne dass es ihn groß zu interessieren schien. „Aber du lieferst mir sofort eine Erklärung, warum du aussiehst wie ich.“

„Ich wünschte, ich könnte.“, sagte Vinz. Er schöpfte wenig Hoffnung aus der Tatsache, dass sein Gegenüber ihn inzwischen duzte. „Aber ich weiß es nicht.“

Der Fremde schien Vinz zu glauben. Ratlos standen sich Beide gegenüber.

Und da geschah es. Mit ein und derselben Bewegung fuhren sie sich über den Kopf und kratzten sich nervös hinter dem Ohr. Noch in der Bewegung hielten sie inne.

„Wir sind verwandt.“, sagten sie nahezu gleichzeitig.

„Aber … ich hatte nie einen Bruder.“, flüsterte Alec. „Geschweige denn einen Zwillingsbruder. Wie ist das möglich?“

„Soll ich´s euch erklären?“

Die beiden Zwillinge zuckten zusammen, als sie die Stimme hörten. Alec wirbelte herum.

„Lass sie lieber fallen.“, sagte der Mann, der hinter Alec im Flur stand. Alec ließ widerwillig die Pistole fallen und trat ein paar Schritte zurück, ins Wohnzimmer hinein. Dann betrat auch der Mann das Wohnzimmer.

Vinz´ Herz setzte für einen Schlag aus, als er das rote Basecap erkannte.

Vor ihm stand der Mann, den er vor ein paar Stunden erschossen hatte. Nur hielt er seinerseits eine Pistole in der Hand und sah alles andere als tot aus.

Langsam bewegte er seine Hand in Richtung seiner Beretta. Der Mann bemerkte es.

„Auch an deiner Stelle würde ich das sein lassen, Vinz.“, sagte er und als er Vinz´ ungläubiges Gesicht sah, fügte er hinzu: „Ja, ich weiß, wer ihr seid.“

Vinz trat von seiner Waffe weg.

„Wieso sind Sie am Leben?“, fragte er stattdessen.

Der Mann lächelte nur und knöpfte den obersten Knopf seines Hemdes auf. Eine schwarze Weste kam darunter zum Vorschein.

„Kugelsicher.“, sagte er.

Alec, der der Unterhaltung nicht folgen konnte, hakte ein.

„Was tun Sie hier? Und wer sind Sie?“, fragte er vorsichtig und nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Der Mann lächelte wieder.

„Ich musste euch beide an diesen Ort locken.“, sagte er und fügte an Vinz gewandt hinzu: „Daher das Handy.“

„Und was wollen Sie von mir?“, sagte Alec. „Uns“, korrigierte er mit einem Seitenblick auf Vinz.

Für eine Sekunde verschwand das Lächeln aus dem Gesicht des Mannes.

„Ihr erkennt mich wirklich nicht, hm?“, sagte er. Dann war er wieder professionell.

„Ich arbeite für die Regierung.“, erklärte er. „Abteilung Genforschung. Und als meine Frau Zwillinge zur Welt brachte, wurden sie von der Regierung zu Testzwecken entführt.

Bei Vinz fiel der Groschen zuerst.

„Soll das heißen, Sie sind mein …“

„Vater.“, beendete er den Satz. „Ja. Euer Vater.“

Die Zwillinge brauchten einige Sekunden. Vinz fand als erster seine Sprache wieder.

„Was haben sie mit uns gemacht? Wo warst du all die Jahre? Und wo ist Mutter?“

„Sie nahmen euch uns weg, als ihr gerade einmal zwei ward.“, sagte der Mann. Vinz fiel auf, dass er über die Regierung von sie sprach und nicht von uns.

„Damals wollte die Regierung ein sogenanntes Verbrecher-Gen nachweisen. Eine Erbanlage, die zeigt, dass Menschen später kriminell tätig werden. Ihr beide hattet dieses Gen. Also haben sie euch mitgenommen und für ein Sozialexperiment voneinander getrennt. Sie haben uns bedroht und erpresst, wir konnten nichts dagegen tun.“ Er stockte kurz. „Alexander, dich haben sie als Adoptivsohn zu einer liebevollen und wohlhabenden Familie gegeben. Vincent, dich steckten sie in ein Waisenhaus und sorgten dafür, dass du in die schrecklichsten Pflegefamilien kamst.“

Vinz wusste nicht, was er denken, geschweige denn sagen sollte, darum war er froh, als der Mann weitersprach. Der Mann, der sein Vater war.

„Obwohl ihr unterschiedlicher nicht hättet aufwachsen können, seid ihr inzwischen beide das, was der Staat Verbrecher nennt.“, sagte er. „Vincent, du hast heute Morgen versucht, mich umzubringen. Und Alex, wo warst du heute?“

„Bei der Bank.“, antwortete Alec perplex.

„Um ein faules Aktiengeschäft abzuschließen?“

Alec sagte nichts, doch das war auch nicht nötig. Sein Gesicht sprach für ihn.

Eine ganze Minute lang sagten die Zwillinge nichts. Ihr Vater respektierte ihr Schweigen. Es gab  viel nachzudenken.

„Und was ist mit Mutter?“, fragte Vinz erneut.

Sein Vater senkte den Blick.

„Sie hat es nicht verkraftet.“, sagte er. „Wenige Monate, nachdem sie euch uns wegnahmen, ist sie vor Kummer gestorben.“

Für Vinz hätte es kein Verlust sein dürfen, er hatte schließlich nie wirklich eine Mutter gehabt. Und trotzdem fühlte er eine gewisse Traurigkeit. Er nickte.

Auch Alec schien noch eine Frage auf den Lippen zu liegen.

„Und warum sind Sie … bist du hergekommen und hast ihn hergelockt?“ Er deutete auf Vinz.

Sein Vater nickte und schien sich an seinen roten Faden zu erinnern.

„Die Regierung hat mich damit beauftragt, euch beide herzubringen.“ Er lächelte wieder.

„Ihr seid der Beweis, dass es das Verbrecher-Gen tatsächlich gibt. Das bedeutet, man kann Menschen wegsperren, bevor sie überhaupt eine Straftat begangen haben. Und jetzt stellt euch vor, wie die Bevölkerung darauf reagieren wird.“ Er grinste. „Nein. Die Welt ist noch nicht bereit für ein Verbrecher-Gen. Ich nehme an, dass die Regierung deswegen jedem von uns eine generöse Summe für unser Stillschweigen anbietet.“ Er sah auf seine Uhr. „Sie sollten jeden Moment hier sein.“

Panik breitete sich in Vinz´ Körper aus.

Er fluchte laut und stürzte auf seinen Vater zu. Im Laufen schlug er ihm die Pistole aus der Hand. Er rannte an ihm vorbei den Flur entlang zur Haustür und riss sie auf.

Als er die Drohne sah, wusste er, dass es zu spät war. Ein Gasunfall, würden die Schlagzeilen am nächsten Tag lauten, um den riesigen Krater zu erklären, der sich dort befinden würde, wo zuvor das Haus stand.

12 thoughts on “Genetik

  1. Hallo Tom,
    danke für eine flüssig geschriebene, unterhaltsame Geschichte. Auch das Thema Predictive Policing bringt mal eine schöne Abwechslung und ist ebenso interessant wie gefährlich. Gefällt mir sehr gut.
    Falls du Lust hast bei mir mal reinzulesen freue ich mich natürlich auch über ehrliches Feedback. LG, Simone mit “Momentaufnahme”

  2. Lieber Tom,

    ich hab dir ein Like dagelassen, weil ich deine Geschichte wirklich klasse finde. Die Idee, wo das Handy gefunden wird, ist wirklich sehr außergewöhnlich und spannend.

    Herzliche Grüße
    Nina
    (Kurzgeschichte: “Tot, ohne zu sterben”)

  3. Hallo Tom,
    auch mir gefällt deine Geschichte sehr gut. Flüssig und spannend geschrieben, kreativer Plot. Hat mich echt gefangen. Ich hab schmunzeln müssen, weil mich ein Detail an meine Geschichte “Nichts zerbricht so schnell wie Glück” erinnert hat.

    LG

  4. Moin Tom,

    starker Plot! Eine Kurzgeschichte ganz nach meinem Geschmack. Locker erzählt, aber dennoch mit einem Spannungsbogen der zum weiterlesen auffordert.

    Die Idee, wie du den Handy Parameter in deiner Geschichte einbindest, macht aus deiner Storie etwas ganz besonderes.

    Ich glaube ich werde in Zukunft vermehrt auf rote BaseCaps achten..😅

    Aber weißt du was mich an deiner Geschichte am meisten fasziniert? Der Schluss!! Ein Absatz der deine Geschichte von einer guten, zu einer sehr guten Geschichte wandelt! Ich bin begeistert!

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  5. Hallo lieber Kollege

    Deine Geschichte MUSS einfach ins EBook.

    Sie hat mich gefesselt und berührt.
    Das Finale war außerordentlich genial.
    Überraschend und spannend zugleich.

    Die Parameter hast du gut umgesetzt, die Protagonisten klar und toll angelegt, dass Finale war super kreativ.
    Zudem gefällt mir dein Schreibstil.
    Er wirkt auf mich gereift und sicher.
    Und professionell.

    Mein Like hast du natürlich sicher.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.

    Noch kannst du es definitiv ins EBook schaffen.

    Kämpfe weiter und gib niemals auf.
    Deine Geschichte schreit nach einer Veröffentlichung.

    Und dein Schreibstil schreit danach, dass sein Besitzer endlich das werden kann, was er tief in seinem Inneren bereits ist.

    Ein Autor und Schriftsteller.

    Liebe Grüße aus dem Münsterland.

    Hochachtungsvoll, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.

    Ich würde mich sehr freuen.
    Vor allem über einen Kommentar von dir.

    Es wäre mir eine Ehre.

    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Ich danke dir von ganzem Herzen.
    Pass auf dich auf.
    Swen

  6. Hallo Tom,

    Ich freue mich dir dein 20. Herzchen zu geben. Deine Geschichte hat mir richtig gut gefallen.
    Die Idee mit dem Auftragskiller und wie er an das Handy kommt ist richtig cool. Generell hast du dir da richtig viel ausgedacht und trotz der Komplexität hast du es geschafft, es auch als Kurzgeschichte zu erzählen. Dabei könnte man da locker einen Roman mit füllen.
    Das Einzige, das mich tatsächlich gestört hat, war der Dialog am Schluss. Da kamen mir manche Stellen etwas inszeniert vor, vor allem als über die Mutter gesprochen wurde. So als würden die Männer das so nicht sagen, wenn du weißt, was ich meine. Das hätte auch etwas mehr Perplexität seitens der Männer vertragen.
    Das Ende ist aber der Hammer. Richtig großes Kino.

    Du hast definitiv noch zu wenig Likes.

    Ich drücke die Daumen, dass es noch einige mehr werden.

    Liebe Grüße,
    Jenny /madame_papilio
    (Nur ein kleiner Schlüssel)

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