KatiePainIch weiß etwas, das weißt du nicht!

Ich weiß etwas, 

das weißt du nicht!

Katie Pain

 

Als ich am Morgen aufwachte und wie gewohnt dreißig Minuten später die Wohnung verließ, dachte ich, mich erwarte ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag in meiner Kanzlei.

So kann man sich irren … 

Mit schwitzigen Fingern halte ich ein älteres Smartphonemodell in den Händen, das nicht mir gehört. Der Akku ist voll geladen, es gibt keinen Entsperrungscode. Die einzigen Informationen, die ich darauf finde, sind Bilder … Bilder, auf denen ich zu sehen bin.

Hunderte – nein tausende! – Gedanken rasen durch meinen Kopf. Wieso jetzt?! Wieso überhaupt?!

Gerade eben noch habe ich mich auf mein Abendmahl gefreut, welches zu Hause, von meiner Ehefrau zubereitet, auf mich wartet und nun ist mir jeglicher Appetit vergangen.

Ich zittere am ganzen Körper; Schweiß perlt von meiner Stirn, mein weißes Hemd ist geschmückt mit großen, dunklen Flecken.

»Sabine!«, rufe ich nach meiner Rechtsanwaltsfachangestellten.

»Ja?« Sofort stürmt sie in mein Büro. Ich muss furchtbar aussehen, so besorgt, wie sie mich ansieht.

»Hast du mitbekommen, wann der Umschlag durch den Postschlitz geworfen worden ist?«

»Nein, tut mir leid. Ich hatte Kopfhörer auf und habe Ihr Diktat abgetippt. Ist alles in Ordnung?«

»Ja ja. Es steht nur kein Absender auf dem Umschlag und es liegt auch kein Zettel bei. Ich glaube, es hat sich jemand an der Tür geirrt …«, lüge ich.

»Ist der Umschlag vielleicht für Herrn Simon?«

»Nein, ausgeschlossen. Außerdem wissen seine Mandanten, dass er im Urlaub ist und ich seine Fälle übernehme.«

»So ein Pech. Dann können Sie es also nicht zurückschicken. Soll ich den Umschlag für Sie entsorgen?«

»Nein, danke. Das ist nicht nötig. Das wäre dann auch schon alles. Machen Sie Feierabend; genießen Sie Ihr Wochenende.«

»In Ordnung. Machen Sie auch nicht mehr so lang. Wir sehen uns dann am Montag.« Könnte Sabine dahinterstecken? Ich verwerfe den Gedanken sofort wieder, weil er keinen Sinn ergibt. Ich bin nur froh, dass mein Kollege aktuell nicht in der Kanzlei ist. Ich möchte mir nicht ausmalen, was gewesen wäre, hätte er den Umschlag gefunden und diese Bilder von mir gesehen. Normalerweise kümmert sich auch Sabine um die Post, aber ich bin mir sicher, dass sie den ominösen Umschlag zu mir gebracht hätte, ohne ihn vorher zu öffnen …

Ich starre auf das Handydisplay. Ich habe diese Bilder noch nie gesehen, dennoch wusste ich von ihrer Existenz; nur bin ich davon ausgegangen, sie wären mittlerweile Datenmüll.

Ein befremdliches Gefühl steigt in mir auf, mich selbst anzusehen. Es ist so lange her … 

Ich beschließe, nach Hause zu fahren, bevor sich meine Frau noch Sorgen macht oder wütend im Büro anruft und sich beschwert, dass das Essen kalt wird.

»Und? Wie war dein Tag? Irgendwelche aufregenden Fälle? Du siehst nämlich echt fertig aus …«

»Das ist sehr aufmerksam von dir. Mein Tag war tatsächlich hart. Viel Papierkram zu erledigen …«

Eigentlich mag ich es nicht, vor Moni Geheimnisse zu haben. Doch es gibt etwas, von dem sie nie erfahren darf. Es würde alles zerstören. Warum genau dieses Stückchen geheime Vergangenheit mich gerade einholt, will sich mir nicht erschließen. Es kann nur eine Person geben, die mir eine stille Botschaft übermitteln will. Nur verstehe ich den Grund nicht. Es war alles geklärt!

Ich überlege, ob ich ihr heute Nacht einen Besuch abstatte und sie direkt darauf anspreche, wenn Moni bereits schläft. Leider hat Moni keinen festen Schlaf. Was ist, wenn sie aufwacht und bemerkt, dass ich mich heimlich davon schleichen möchte? Spätestens dann würde sie unangenehme Fragen stellen und ich käme in Erklärungsnot. Es muss ein anderer Plan her!

Während ich die Lasagne hinunterwürge – obwohl sie wirklich gut schmeckt –, denke ich angestrengt nach. Und dann hab ich sie! Die perfekte Notlüge.

»Liebling … Ich muss nachher noch mal kurz weg. Etwas erledigen.«

»Echt? Wohin denn? An einem Freitagabend?« Sie schaut mich irritiert an. Sie riecht, dass etwas nicht stimmt.

»Ich habe dir etwas verschwiegen.« Sie senkt die Gabel und schaut mich mit großen Augen an.

»Martin …«, flüstert sie.

»Keine Sorge! Es hat nichts mit dir oder uns zu tun!«, unterbreche ich sie.

»Okay, das ist beruhigend, aber … Bist du in Schwierigkeiten?«

»Kann man so sagen. Der Grund, weshalb ich so fertig bin, ist der, dass mich heute ein anonymer Umschlag erreicht hat. Er wurde persönlich durch den Briefschlitz geworfen.«

»Was befand sich darin?« Moni schiebt den Teller von sich. Ihr scheint ebenfalls der Appetit vergangen zu sein.

»Eine Drohung. Ein ehemaliger Mandant war wohl nicht ganz so zufrieden mit meiner Leistung. Was ich verstehen kann. Wir hatten den Fall verloren. Das hat ihn um viel Geld gebracht, das seiner Ex-Ehefrau zugutekam. Ich denke, dass die Drohung von ihm stammt. Alles andere ergibt für mich keinen Sinn. Daher möchte ich zu ihm fahren und die Wogen persönlich glätten. Von Mann zu Mann.«

»Das klingt gar nicht gut. Du solltest die Polizei benachrichtigen und sie das erledigen lassen; es ist eine schlechte Idee, diese Sache selbst klären zu wollen. Du kannst nicht einschätzen, wie gefährlich dieser Mann ist!« Moni kennt mich eigentlich für meine vernünftigen Entscheidungen; diese Halbwahrheit war nicht die optimalste Option. 

»Es geht nur um Geld. Mehr nicht. Keine große Sache.«

»Mir ist nicht wohl dabei, Martin.« 

»Liebling, vertrau mir bitte. Ich weiß, was ich tue.«

»Okay. Aber ich will, dass du die Standortverfolgung von WhatsApp aktivierst. Wenn du zu lange an diesem Ort verweilst, schicke ich die Polizei zu dir.« Meine Frau ist zu schlau … denkt zu gut mit. Sollte sie die Adresse meines Standortes googeln, fliege ich auf. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich muss dieses Risiko eingehen. 

»Ja, natürlich. Das mache ich.« Dann übertönt das Klicken der Wanduhr die Geräuschkulisse. Ich bin froh drum, dass die Diskussion schnell über den Tisch gegangen ist und Moni keine weiteren Fragen stellt. Eigentlich ungewöhnlich …

Nachdem wir beide doch noch aufgegessen haben, räumen wir unsere Teller in den Geschirrspüler ein. Gedanklich gehe ich die Unterhaltung durch, die ich gleich führen werde. Obwohl das unnötig ist. Ich werde eh ganz anders reagieren, als ich es mir in meinem Kopf zurechtgelegt habe.

»Ich fahre dann mal los. War sehr lecker, Schatz.« Ich drücke meiner Frau zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. Sie steht mit verschränkten Armen vor der Haustür und schaut mir dabei zu, wie ich meine Schuhe anziehe, in meinen Kaufmannsmantel schlüpfe, in dessen Innentasche sich das Beweismaterial befindet, und die Türe hinter mir ins Schloß ziehe. Ich verharre einen Moment, atme tief durch und setze mich dann in meinen Wagen. Bevor ich losfahre, aktiviere ich, wie von Moni gewünscht, die Standortverfolgung.

Sie wird sich bestimmt wundern, dass ich die Stadtgrenze hinter mir lasse … Dort, wo mein Ziel ist, wohnt niemand. Ich könnte woanders parken, aber der Fußweg würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ruft sie die Polizei, wenn die Verbindung abbricht? Bestimmt nicht sofort. Außerdem würden sie eh nicht aktiv werden. Frühestens nach 48 Stunden. Also stelle ich mein Handy in den Flugmodus, während ich mich noch in der Nähe einer Wohngegend befinde. Tut mir leid, Moni. Aber es ist zum Schutze unserer Ehe.

Ich fahre auf einen dunklen Parkplatz, auf dem nur drei weitere Autos stehen. Die Scheinwerfer meines Wagens verraten meine Ankunft; wie gut, dass der Schuppen über keinerlei Fenster verfügt. Ich glaube zwar kaum, dass sie sich noch daran erinnern kann, welches Auto ich fahre, aber so ist der Überraschungseffekt auf meiner Seite.

Zielsicher gehe ich auf das Industriegebäude zu. Die Tür ist nicht verschlossen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wieder hier zu sein. Bedrückend und erregend zugleich.

Der längliche Flur, welcher nur durch Neonröhren beleuchtet wird – eine Lampe flackert ganz klischeehaft und untermalt die düstere Atmosphäre –, scheint endlos. Alle Türen sind geschlossen, bis auf die letzte. Ich klopfe nicht an den Türrahmen, sondern trete sofort ein.

»Was soll das, Sina?!« Wie zu erwarten, reagiere ich anders, als ich es vorhatte. Sina hebt mehr oder weniger überrascht ihren Blick. Sie ist gerade dabei, sich die Nägel zu lackieren; in einem kräftigen Rot, wie ich sehe.

»Ich hätte nicht gedacht, dich jemals wiederzusehen.« Mit dieser Begrüßung bringt sie mich direkt aus dem Konzept; sie kann also nicht die Absenderin des Handys sein … Ich hole es hervor.

»Kommt dir das hier etwa nicht bekannt vor?« Ihre Stirn kräuselt sich. Sie schüttelt mit dem Kopf und pustet ihre rot lackierten Nägel trocken.

»Nö.«

»Aber der Inhalt bestimmt!« Ich trete näher an sie heran; sie sitzt auf ihrem Thron, das offene Nagellackfläschchen, dessen beißender Gestank mir in die Nase zieht, steht auf der hölzernen Armlehne. Sina schaut interessiert auf den hellen Display.

»Ja, die Bilder habe ich von dir gemacht. Keine Ahnung, wie die auf dieses Handy gekommen sind. Da bin ich überfragt. Deswegen bist du so aufgebracht und kreuzt hier nach fünf Jahren wieder auf? Ohne anzuklopfen? Ich hatte dich besser erzogen …« Ich senke instinktiv den Blick, erinnere mich jedoch schnell daran, dass dies nicht mehr nötig ist.

»Tut mir leid, das war wirklich unhöflich von mir. Aber du bist nun mal die Einzige, die im Besitz dieser Bilder ist beziehungsweise sein sollte. Wie würdest du dich fühlen, wenn du im Postkorb deiner Kanzlei einen Umschlag ohne Absender findest und sich darin ein Handy befindet, auf dem wirklich äußerst pikante Bilder abgespeichert sind, von denen du dachtest, sie seien längst gelöscht? Dann ist nicht mal eine anderweitige Botschaft vorhanden. Ich habe keine Ahnung, was die Person jetzt von mir will …«

»Falls du hier bist, um mich in irgendeiner Weise dafür verantwortlich zu machen …«

»Nein, deswegen bin ich nicht hier. Ich will einfach nur Antworten haben! Wer hätte noch Zugang zu diesen Bildern haben können? Und vor allem zu der Adresse meiner Kanzlei? Hast du meine Daten nicht gelöscht, nachdem unsere Bindung beendet war?«

»Nein, habe ich nicht. Ich habe alle Daten zum jeweiligen Kunden in einem Ordner angelegt. Wenn jemand Zugang zu den Bildern hat, dann auch zu der Adresse deiner Kanzlei. Die sich in den letzten Jahren offenbar nicht geändert hat.«

»Aber warum bewahrst du die Daten auf?«

»Zum einen, weil mir die Bilder gefallen und zum anderen, weil ich mich sicherer fühle, ein Druckmittel in meinen Händen zu halten …«

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, wer außer dir an diese Daten kommen könnte.« Hat sie diese Frage bewusst ignoriert?

»Stimmt. Du stellst aber auch ganz schön viele Fragen. Tauchst hier auf, trittst unhöflich ein, fragst mich nicht einmal nach meinem Wohlbefinden, beschuldigst mich direkt und jetzt löcherst du mich mit Fragen wie in einem Kreuzverhör …«

»Ich habe nicht viel Zeit!« Ich muss schnellstmöglich Moni anrufen, damit sie vor Sorge nicht krank wird.

»Ich weiß nicht … Eigentlich niemand. Höchstens eine der anderen Damen, aber die halte ich nicht für intelligent genug, um meine geheimen Ordner zu finden. Da muss man schon ein wenig graben. Außerdem haben sie auch Besseres zu tun, als sich so einen albernen Streich zu erlauben.«

»Konkurrenzdenken könnte ein mögliches Motiv sein. Vielleicht will dich jemand denunzieren. Wie sieht es mit deinen Kunden aus? Könnte sich einer von ihnen Zugang verschafft haben?«

»Nein, das glaube ich nicht. Wir verstehen uns gut und haben alle ausreichend zu tun. Hm. Unrealistisch. Dann könnte es eher mein Partner gewesen sein.«

»Dein Freund?«

»Ja … Na ja … Ex-Freund.«

»Welches Motiv könnte er denn haben?« 

»Das müsstest du ihn schon selbst fragen. Aber ich weiß nicht, wo er jetzt wohnt. Er hat herausgefunden, was ich wirklich mache und war sehr wütend deshalb und ja … deshalb ist er auch mein Ex. Wie er es herausgefunden hat, wollte er mir nicht sagen. Vielleicht war er heimlich an meinem Laptop. Den nehme ich nach Feierabend oft mit nach Hause, statt ihn hier zu lassen. So könnte er an die Daten gelangt sein. Aber warum er dir ein Handy mit deinen Bilder schickt, ist mir nicht schlüssig. Kann mir kaum vorstellen, dass er so’n Aufwand betreibt. Wozu?«

»Vielleicht, um sich an dir zu rächen? Immerhin stehe ich gerade wütend in deinem Arbeitszimmer … Vielleicht will er deine Kundschaft gegen dich aufbringen …«

»Joa … so schätze ich Nick nicht ein. Kann aber sein. Wenn man sich zutiefst enttäuscht fühlt, brennen bei einem schon mal die Lichter durch. Aber dann kannst du ja jetzt beruhigt nach Hause fahren. Offenbar warst du nur Mittel zum Zweck. Du solltest jetzt auch gehen. Mein kleines Ferkel kommt gleich und ihm ist Anonymität genauso wichtig wie dir.«

»Ich fühle mich aber nicht beruhigt. Ich brauche Gewissheit. Wie lautet der volle Name deines Ex-Freundes? Und ich will die Daten deiner Kunden!« Ich hole einen USB-Stick aus der Jackentasche; gut, dass ich meinen Geschäftsmantel trage, ich habe nämlich immer einen USB-Stick dabei.

»Verpisst du dich dann und lässt mich mit diesem Scheiß in Ruhe? Und lass dir gefälligst ne gute Ausrede einfallen, wie du meine Daten geklaut hast! Ich will aus dieser Angelegenheit herausgehalten werden!«

»Ja, ist gut. Zumindest bist du jetzt gewarnt, sollten noch andere unangekündigt bei dir auftauchen. Vielleicht kann ich sie sogar davon abhalten. Ich werde herausfinden, ob ich der Einzige bin, der ein Handy gefunden hat …« Ich reiche ihr den Stick, sie spielt die Daten drauf. 

»Der Name meines Ex-Freundes lautet Niklas Salkin. Hier, und jetzt zieh ab, Martin!« Ich nehme ihr den Datenstift ab.

»Danke, Sina. Mach’s gut.«

»Spar dir die Freundlichkeit.« Ich verlasse den Dark Room ohne mich noch einmal umzudrehen und atme erleichtert auf, als ich an der frischen Luft bin. Der Geruch von Leder und Latex weckte eine alte Sehnsucht …

Ich lege den USB-Stick zum mysteriösen Handy in die Innentasche. Als ich im Auto sitze, fahre ich sofort los. Ich muss erst mal weg von hier, bevor ich Moni kontaktiere.

Auf einem Supermarktparkplatz halte ich wieder und deaktiviere den Flugmodus meines Smartphones.

»Hey, Moni! Mir geht es gut! Der Empfang war weg. Ich hoffe, du hast dir keine Sorgen gemacht.«

»Doch, habe ich natürlich, du Idiot! Ich war kurz davor, die Polizei anzurufen!«, dringt es aggressiv und aufgebracht aus dem kleinen Lautsprecher.

»Beruhig dich, Liebling. Es ist wirklich alles gut. Das Problem ist aus der Welt geschafft. Leg dich ins Bett und schlaf. Ich sollte in einer guten halben Stunde zu Hause sein.«

Sie hat einfach aufgelegt.

Das Wochenende nutze ich, um Niklas Salkin ausfindig zu machen. Was dank Social Media einfacher ist, als ich erwartet habe.

Moni spricht nicht mit mir, sie ist nach wie vor eingeschnappt. Was mir zugutekommt; so kann ich in Ruhe das Problem aus der Welt schaffen, wovon sie glaubt, dass dies bereits geschehen ist. Montag, während meiner Mittagspause, werde ich Herrn Salkin einen Besuch auf seinem Arbeitsplatz abstatten.

»Sabine, es kann sein, dass ich etwas später aus meiner Mittagspause zurück sein werde!«, rufe ich meiner Angestellten zu und schließe die Tür hinter mir.

Herr Salkin arbeitet nur wenige Autominuten von mir entfernt in einem Telekom Shop. Das scheint mir sehr verdächtigt. Vielleicht hat Sina recht und diese Aktion galt nicht mir, sondern ihr … Und wie es der Zufall so wollte, war ich für ihn die Adresse, die am wenigsten Fahraufwand beanspruchte.

Ich betrete den gut besuchten Shop und entdecke ihn direkt hinter einem der Schalter; irgendwie kommt er mir bekannt vor. Dort stelle ich mich an. In seinem Anzug mit der magentafarbenen Krawatte macht er beinahe einen ähnlich seriösen Eindruck wie ich. 

Ich nehme das Handy aus der Tasche, als ich an der Reihe bin. 

»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, begrüßt er mich professionell. Mich überrascht meine eigene Coolness, mit der ich Herrn Salkin mit dem Smartphone konfrontiere.

»Kommt Ihnen das bekannt vor?«

»Ja, das ist ein älteres Modell. Das verkaufen wir nicht mehr. Haben Sie Probleme mit dem Akku? Ich kann Ihnen auch gerne ein paar neuere Modelle zeigen.« Wieso überrascht mich seine Reaktion nicht …

»Der Akku funktioniert einwandfrei. Vielleicht sollte ich Ihnen den Inhalt zeigen, um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.« Er schaut mich irritiert an. Was ist, wenn er es nicht war, sondern einer von Sinas anderen Dienstleistungsempfängern … Dann zeige ich ihm wirklich sehr intime Bilder von mir, was unangenehm für mich ausgehen würde. Aber tue ich es nicht, bekomme ich keine eindeutige Gewissheit, dass er nichts damit zu tun hat. Und bisher deutet alles darauf hin.

Ich öffne den Ordner mit den Bildern.

»Deshalb sind Sie hier? Wollen Sie mich auf eine kranke und perverse Weise anmachen?!«

»Sie haben diese Bilder also noch nie zuvor gesehen?«

»Nein! Wie kommen Sie darauf? Was soll das hier werden?!«

»Ich weiß, dass Sie mit Sina zusammen waren. Und vor einigen Tagen habe ich dieses fremde Handy in meiner Kanzlei gefunden, mit genau diesen Bildern … Irgendjemand hat also offenbar ein Problem mit mir und ich will wissen, ob Sie das sind!«

»Sina? Wer ist Sina? Ich kenne keine Sina …« Natürlich kennt er keine Sina … Sina ist ihr Pseudonym. Er wird sie nur unter ihrem Geburtsnamen kennen. Trotzdem muss er wissen, wen ich meine. Es sei denn, Sina hat mir eine Geschichte aufgetischt, was ihre Beziehung anbelangt und er weiß gar nichts über ihren eigentlichen Beruf und der Trennungsgrund war ein ganz anderer. Ich halte es zumindest für unwahrscheinlich, dass er nur ihren wahren Beruf herausgefunden hat, ohne ihren Pseudonym dabei zu erfahren.

»Ihre Ex … Die Domina. Nun tun Sie nicht so unwissend.«

»Hören Sie mal. Es ist eine absolute Frechheit, dass Sie mich auf meiner Arbeit aufsuchen und mir diese Bilder zeigen, die wirklich widerlich sind und mir dann noch unterstellen, ich hätte irgendwas damit zu tun. Ich habe Ihnen nichts getan! Ich würde dann bitte weiterarbeiten, wenn Sie erlauben!«

»Sie wissen also, von wem ich rede …«, bleibe ich stur und ignoriere seine Bitte.

»Ich fordere Sie auf, das Geschäft zu verlassen.«

»Ich habe genauso wenig Interesse an einer Szene wie Sie. Ich werde aber erst gehen, wenn ich eine klare Antwort bekommen habe.«

»Wenn ich was damit zu tun haben würde, würde ich Ihnen doch nicht die Wahrheit sagen, dass ich dahinterstecke. Das würde niemand … Also ist es vollkommen egal, was ich Ihnen sage. Ich will mit dem Business meiner Ex nichts zu tun haben und einfach mein gewöhnliches Leben in Frieden fortführen. Und jetzt tauchen Sie hier auf und entpuppen sich als einer ihrer Sklaven … Gehen Sie und kommen Sie nie wieder her!« Ich verlasse den Laden, bevor das Ganze noch peinlicher wird. Das war die unangenehmste Unterhaltung, die ich je geführt habe! Aber seine Reaktion war glaubwürdig genug. Fürs Erste. Wenn die andere Option ebenfalls erfolglos bleibt, werde ich zurückkommen. Oder einfach abwarten, ob ich noch einen weiteren Umschlag im Postkorb meiner Kanzlei vorfinden werde … Aber kann ich mit dieser Ungewissheit leben? Ich bin Anwalt. Es liegt in meiner Natur, auf alles eine Antwort zu haben. Und meinen Beruf und meine Ehe, also meine heile Welt, die ich mir aufgebaut habe, gefährdet zu sehen, wird mich keine einzige Nacht ruhig schlafen lassen.

Als ich nach Hause komme, ist nicht alles wie sonst. Es steht kein fertiges Essen auf dem Tisch; es riecht auch nicht danach, als wäre gekocht worden.

Ich gehe in jeden Raum. Nichts. Moni ist weg. Vielleicht ist sie einkaufen … Ich schaue auf mein Smartphone. Keine Mitteilung von ihr.

Unter anderen Umständen hätte ich mir keine Sorgen gemacht, jetzt mache ich mir welche! 

Als erstes schaue ich an der Garderobe nach, ob ihre Jacke und Schuhe noch da sind. Weg. Ebenso wie ihre Handtasche, ihr Geld und natürlich ihr Handy. 

Ich versuche sie anzurufen, es hebt niemand ab. Ich schreibe ihr eine Nachricht, dass sie sich bitte sofort bei mir melden soll. Nach zwanzig Minuten immer noch keine Reaktion.

Ich wandere durch die Räume. Suche weiter nach Hinweisen, die auf eine Entführung hindeuten.

Was ich finde beziehungsweise vielmehr nicht finde, hinterlässt ein mulmiges Gefühl in meinem Magen: Ihre Zahnbürste steht nicht mehr in dem Becher auf der Anrichte im Bad.

Hat sie mich verlassen? Am liebsten würde ich weiterhin am Verdacht der Entführung festhalten; was für mich viel mehr Sinn ergeben würde. Warum sollte Moni mich verlassen? Einfach so? Doch nicht wegen der Sache mit der Standortverfolgung … Das wäre albern.

Hat sie etwas herausgefunden? Das Handy mit den Bildern konnte sie nicht gefunden haben. Ich trage es die ganze Zeit bei mir. Ich verstehe es nicht.

Erneut werfe ich einen Blick auf mein Smartphone. Noch immer keine Nachricht. Ich kann nicht einmal die Polizei alarmieren, weil es keinen ersichtlichen Grund einer Gewalttat gibt.

Ihr muss doch bewusst sein, dass sie nicht einfach so verschwinden kann! Sie ist mit einem Scheidungsanwalt verheiratet … Um eine öffentliche Zustellung beim Verschwinden des Ehepartners zu erreichen, ist es meine Pflicht, alles Nötige zu tun, um sie zu finden. Und sollte ich sie finden, wird sie die Scheidungspapiere unterschreiben und nichts vom Kuchen abbekommen! Damals hat Moni sehr naiv den Ehevertrag unterschrieben … Sie hatte mir vertraut. Was jetzt ganz offensichtlich nicht mehr der Fall ist. 

Ich setze mich auf unser gemachtes Ehebett und lege mein Gesicht in beide Hände. Eben war ich noch wütend, jetzt bin ich verzweifelt. Wie schnell sich das Leben gegen einen wenden kann … Letzte Woche hatte ich stets das Gefühl, über alles die Kontrolle zu haben; nun weiß ich nicht mehr weiter. 

Soll ich die anderen Männer von Sina noch aufsuchen? Soll ich direkt zu Sina fahren und versuchen, herauszubekommen, ob sie Spielchen mit mir spielt oder soll ich mich um Moni kümmern? Sie hat nur wenige Freunde und kaum noch Familienmitglieder. Wenn es ihr Plan ist, spurlos zu verschwinden, wird sie niemanden in Kenntnis gesetzt haben. Andernfalls hätte sie mir ganz klassisch einen Abschiedsbrief auf dem Esstisch hinterlassen können.

Plötzlich vibriert mein Smartphone. Aufgeregt entsperre ich den Bildschirm. Eine WhatsApp. Von Moni.

Im ersten Moment bin ich erleichtert, doch was ich dann lese, lässt mich mehrere Minuten sprachlos vor mich hinstarren.

Hallo, Martin.

Du brauchst dich nicht bemühen, mich zu finden. Die unterschriebenen Scheidungspapiere findest du in der Schublade im Nachttisch. Ich denke, du wirst es mir nicht verübeln, dass ich mir einen anderen Scheidungsanwalt genommen habe. Eigentlich hatte ich nur vor, mich von dir scheiden zu lassen, aber als mir der Anwalt unseren Ehevertrag erklärt hat, hast du mir keine Wahl gelassen.

Wie du bestimmt schon festgestellt haben wirst, bin ich auf und davon. Und ich habe einen sehr großen Teil deines Geldes, wovon du immer meintest, es wäre unseres – was es in Wahrheit gar nicht war –, mitgenommen.

Ich finde das nur fair, nachdem ich die letzten Jahre in Einsamkeit verbracht habe. Für dich gekocht und geputzt und die brave Ehefrau gespielt habe.

Als Sina vor ein paar Monaten vor unserer Tür stand, dachte ich im ersten Moment, du hättest eine Affäre und sie geschwängert. Ich ließ sie rein und sie zeigte mir Bilder von dir. Ich konnte und wollte es kaum glauben, dass du der Mann bist, der da nackt auf dem Boden kriecht und Urin aus einem Napf aufleckt!

Ich war geschockt und enttäuscht, dass du mir deine Neigung die ganzen Jahre über verheimlicht hast. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Aber Sina war für mich da. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, mir das angetan zu haben. Ich bin ihr jedoch nach wie vor dankbar für die Wahrheit. Sie erzählte mir, weshalb sie vor unserer Tür stand …

Ihr Ex-Mann hatte vor drei Jahren herausgefunden, dass sie eine Domina ist und sich deshalb von ihr scheiden lassen. Das war aber nicht alles. Sie haben eine gemeinsame Tochter. Er war damals bei dir in der Kanzlei und hat sich von dir beraten lassen bezüglich der Scheidung und welche Möglichkeiten es gibt, das alleinige Sorgerecht zu erhalten. Ich weiß, dass du nur für die Beratung zuständig warst und nicht vor Gericht gegangen bist. Aber du hast ihm Hoffnung gemacht und er hat es durchbekommen, dass ihre Tochter bei ihm wohnt.

Sina schiebt dir natürlich einen Teil der Schuld zu. Die verletzten Gefühle einer Mutter kann ich nur erahnen. Du wolltest ja nie Kinder … 

Die Wut darüber, dass ihre Beziehung aufgrund ihres Berufes, der aus dem Bedürfnis der devoten Männer resultiert, gescheitert ist, hat sie dazu gebracht, sich an ihren ehemaligen Subs zu rächen, indem sie ihre Beziehungen ebenfalls zerstört.

Dank eurer gemeinsamen Vorliebe für Blackmailing war das ein Leichtes …

Wäre meine tiefe Unzufriedenheit, die sich über die letzten beiden Jahre angesammelt hat, nicht, wäre ich bestimmt bei dir geblieben. Nun bot Sina mir einen Ausweg.

Und leider hast du meinen letzten Vertrauenstest auch nicht bestanden. Die Standortverfolgung … Ich wusste natürlich, wo du hinwillst und ahnte, dass du die Verbindung trennen wirst.

Hättest du dies nicht getan, hätte ich meinen Plan vielleicht noch einmal überdacht. Obwohl es unsinnig ist, darüber nachzudenken, was gewesen wäre, wenn … Meine Gefühle für Sina sind stärker, als sie für dich je waren. 

Ich war es, die die Idee mit dem Handy und den Bildern hatte. Und ich war auch diejenige, die den Umschlag durch den Postschlitz warf. Du warst abgelenkt und ich konnte seelenruhig die letzten Vorbereitungen treffen.

Mach’s gut, Martin.

Ach ja. Und es sollte demnächst an der Tür klingeln.

Moni

Während des Lesens ist mein bestes Stück angeschwollen. Ich fühle mich erniedrigt und gedemütigt; Fluch und Segen zugleich.

Meine Moni hat sich in meine ehemalige Domina verliebt … Was für eine Ironie des Schicksals. Daher hatte Sina das Handy noch nie zuvor gesehen, das war Monis Aktion … 

Und jetzt weiß ich auch, weshalb mir dieser Niklas bekannt vorkam. Er wird auch gewusst haben, wer ich bin. Daher hat er gemeint, ich habe mich als einer ihrer Sklaven entpuppt … Und Sina, das Miststück, hat ganz absichtlich gesagt, dass es sich um ihren Ex-Freund und nicht Mann handelt. Damit mein Gehirn keine Verknüpfungen herstellt, wenn ich den Namen höre und das Gesicht dazu zu sehen bekomme … Sie wusste, dass ich nicht gut darin bin, mir Namen zu merken und Gesichter schnell vergesse. Das vorhergesagte Klingeln reißt mich aus meiner Gedankenschleife.

Wie paralysiert schreite ich die Treppenstufen hinab und öffne die Haustür. Niklas Salkin. Er sieht wütend aus.

»Was wollen Sie hier?«, frage ich irritiert.

»Ich habe gerade eine Nachricht von meiner lieben Ex-Frau bekommen … Sie ist mit einer anderen Frau und unserer Tochter durchgebrannt und meint, dass das Ihre Schuld ist!«

Ich komme nicht mehr dazu, mich zu rechtfertigen. Ich spüre einen pochenden, brennenden Schmerz. Sehe Sterne vor den Augen. Dann falle ich zu Boden. Und wache nicht mehr auf.

2 thoughts on “Ich weiß etwas, das weißt du nicht!

  1. hi, ein wirklich gutesThema sprichst du da mit deiner Geschichte an. Habe bis zum Schluss gespannt gelesen. Ich finde man merkt, dass du noch am Anfang stehst, aber auf einem sehr guten Wege bist, was deinen Schreibstil betrifft. an Kreativität mangelt es dir auf jeden Fall schon mal nicht! mein Like hast du und ich hoffe es kommen noch ein paar dazu! wenn du magst lass mir doch auch ein Feedback und bei Gefallen ein Like da. Beste Grüße, Patricia.

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/hinter-den-kulissen

    1. Hey, danke für deinen Kommentar.
      Ich lebe von meinen Romanen und stehe definitiv nicht mehr vollkommen am Anfang. Also liegst du da falsch mit deiner subjektiven Einschätzung 😀
      Allerdings schreibe ich keine Thriller, sondern Dark Romance. Beim Schreiben der Kurzgeschichte habe ich auch gemerkt, dass ich dem Genre treu bleiben werde. Gewöhnliche Thriller sind nicht mein Ding und Kurzgeschichten schon gar nicht. Die lese ich lieber, als sie zu schreiben 😉
      Liebe Grüße!

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