NinuIm Schatten lebt die Rache

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Ich renne so schnell ich kann, höre seine Schritte dicht hinter mir. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, so lange versuche ich ihn schon in der Dunkelheit des Waldes abzuhängen, ohne jeden Erfolg. Meine Lunge fühlt sich an als ob sie jeden Moment platzt und das nicht nur wegen der Anstrengung des Rennens, sondern auch weil ich mittlerweile so hysterisch bin, dass ich nicht einmal mehr weiss wo ich überhaupt hinlaufe. Hauptsache weg. Weg von ihm und den Bildern, die ich kurz zuvor sehen musste. Obwohl ich überhaupt kein Gefühl mehr für meine derzeitige Umgebung habe, sehe ich das Blut an den Wänden, rieche den Geruch von Verwesung und spüre immer wieder die Gänsehaut auf meiner Haut. Plötzlich sind sie weg: Die Geräusche an denen ich ohne nur einmal über meine Schulter zu blicken mit Sicherheit wusste, dass ich verfolgt werde. Ich renne noch ein wenig weiter und suche Deckung hinter einem der Bäume. Mein Herz rast, das Blut rauscht in meinen Ohren und mein Atem geht schwer. Innerlich gebe ich meinem Körper eine Ohrfeige, denn wenn er sich jetzt nicht beruhigt, kann ich meinen Gehörsinn nicht einsetzen, welcher mir in der eisigen Dunkelheit sehr von Nutzen sein würde. Ich halte den Atem an und dann höre ich es: Ein Knacken, links von mir. Langsam drehe ich meinen Kopf und mit erneut aufkommender Panik versuche ich eine Silhouette oder sonst was auszumachen. Dann sehe ich nur noch einen Schatten auf mich zuspringen und eine Sekunde später falle ich in eine nicht endend wollende Dunkelheit. Schweissgebadet wache ich auf. Es war nur ein Traum. Nur ein böser Traum.

Die Sonne scheint mir ins Gesicht und nährt meine helle Haut mit Wärme. Oh, wie ich das geniesse. In fünf Minuten wird es mit der Ruhe vorbei sein, denn dann kommt mein Sohn Leo von der Schule nach Hause. Manchmal beneide ich diesen kleinen Kerl um seine Energie. Vom Zeitpunkt wenn er am Morgen aufsteht bis er abends ins Bett geht, zeigt er keine Spur von Müdigkeit, was an Tagen wie diesem auch schon mal an meinen Nerven zehrt. Heute ist einer dieser Tage, an denen nichts so läuft wie ich es gerne hätte. Ich trinke den Rest meines Kaffees und strecke meinen erschöpften Körper. Dann geht auch schon die Tür auf und ich höre meinen Sohn durch das Haus rennen. Wahrscheinlich ist er auf der Suche nach mir. Ich rufe ihm zu, dass ich im Garten bin und nicht einmal zehn Sekunden später steht er schon neben mir, mit seinen leuchtenden Augen und dem Schulranzen noch auf dem Rücken. „Mama, heute habe ich alle meine Hausaufgaben bereits im Unterricht machen dürfen, weil ich alle anderen Aufgaben so schnell fertig hatte. Frau Schneider hat mich sehr gelobt“, sagt er mit aufgeregter und stolzer Stimme. Frau Schneider ist seine neue Klassenlehrerin und Leo vergöttert sie. Sie ist seit ein paar Monaten an seiner Schule. „Na, das ist aber schön, das hast du gut gemacht, Schatz! Wie wär‘s wenn wir zur Feier des Tages an den See fahren und ein Eis essen gehen?“ Das findet Leo anscheinend eine tolle Idee, denn das Leuchten in seinen Augen wird noch heller. Er macht vor Aufregung einen Sprung und rennt dann in sein Zimmer um seine Badesachen anzuziehen. Unterdessen packe ich alles andere zusammen, schlüpfe auch noch in meinen Badeanzug und ziehe mir ein Kleid drüber. Dann packe ich unser Gepäck und meinen Sohnemann ins Auto und wir fahren zum nahegelegenen See. Schon in meiner Kindheit bin ich mit meinen Eltern viel an diesen See gefahren und diese Tradition setze ich nun mit meinem Sohn fort. Kaum habe ich das Auto geparkt, springt Leo auch schon raus. „Sei vorsichtig beim Aussteigen und warte auf mich bevor du zum See rennst“, ermahne ich ihn. Er verdreht die Augen und hält inne um auf mich zu warten. Dann laufen wir gemeinsam den Kiesweg entlang bis zur grossen Wiese, die direkt am See liegt und suchen uns einen Platz unter einem der Bäume. Schon nach wenigen Sekunden entdecke ich eine Freundin von mir, die mit ihrer Tochter nicht weit von unserer Stehposition in der Sonne liegt und mich bisher noch nicht entdeckt hat. Leo, der sie nun auch gesehen hat, sprintet auf die beiden zu und begrüsst sie mit so lautem Gebrüll, dass beide erschreckt zusammenfahren. Mein Sohn kugelt sich vor Lachen. Sichtlich stolz, dass sein Erschreckungsmanöver funktioniert hat. Entschuldigend winke ich Susanne zu, welche nun auch mich entdeckt hat. „Hallo, entschuldigt den Überfall. Mein Sohn ist heute wieder einmal in Topform.“ Susanne lacht nur und winkt die Entschuldigung bei Seite. „Kein Problem. Lilli würde gerne ins Wasser gehen, möchtest du sie nicht begleiten, Leo?“ Leo nickt schnell, zieht sein T-Shirt aus, welches er mir, umsichtig wie er ist, direkt ins Gesicht schmeisst und läuft dann mit Lilli zum Wasser. „Aber geht nicht zu weit!“, rufe ich ihnen noch nach und lasse mich dann müde auf mein Badetuch fallen. Während die Kinder im Wasser sind, unterhalte ich mich mit Susanne, die gerade Mitten in ihrer Scheidung steckt. „Ich bin froh, wenn die ganze Sache vorbei ist“, meint sie knapp und ich nicke ihr verständnisvoll zu. Das einzig Gute, wenn dein Mann über Nacht die Kurve kratzt und dich mit deinem zehn Monate alten Baby im Stich lässt ist, dass es keinen Streit ums Sorgerecht gibt und da wir nicht verheiratet waren, gab es auch keinen schmutzigen Scheidungskrieg. Alles was er hinterlassen hatte, war ein Brief und das hat mir damals und auch heute vollkommen gereicht. Auf sein Geld war ich schon gar nicht scharf. Ich habe vor einigen Jahren einen ziemlichen Batzen von meiner Lieblingstante geerbt. Das Erbe und mein Job ermöglichen uns einen überaus passablen Lebensstil. Wer kein Teil dieser Familie sein will und seinen Sohn ohne ein Wort des Abschieds im Stich lässt, soll zum Teufel gehen. Ganz in diese Gedanken vertieft, jagt mir die eiskalte, nasse Hand auf meinem Rücken einen riesen Schrecken ein. Als ich zu dem Schuldigen hochblicke, sehe ich einen breitgrinsenden Leo über mir stehen. Gerade als ich ihn packen möchte um ihn zur Strafe so richtig durchzukitzeln, halte ich inne als ich etwas in seiner Hand entdecke. „Was hast du da?“, frage ich ihn und zeige auf das schwarze Etwas in seiner Hand. Stolz streckt er mir eine kleine Digitalkamera entgegen. „Ich habe deine Kamera gefunden.“, meint er und hält sie mir hin. „Ich besitze aber keine Kamera. Wie kommst du auf die Idee, dass das meine sein soll, Schätzchen?“ Er nimmt mir die Kamera wieder aus der Hand, schaltet sie ein und zeigt auf den kleinen Bildschirm. „Weil da nur Fotos von dir drauf sind, Mama.“ Ich sehe ihn fragend an und starre dann ungläubig auf den Bildschirm. Tatsächlich erkenne ich mich selbst darauf wieder. Ich nehme ihm die Kamera aus der Hand und drücke den rechten Pfeil auf der Kamera um mir alle Fotos ansehen zu können und erstarre. „Was ist mit dir Mama?“, fragt Leo besorgt, doch ich kriege keinen Ton heraus. Susanne, die meinen abrupten Stimmungswechsel bemerkt hat, holt ihre Brieftasche raus und gibt Lilli ein bisschen Geld. „Warum holt ihr euch nicht ein Eis? Ihr habt sicher Hunger nach dem Schwimmen.“ Das muss sie den beiden nicht zwei Mal sagen, denn sie machen sich sofort auf den Weg zum Eisstand. Nun rückt sie näher an mich heran, damit sie einen Blick auf die Kamera werfen kann. „Was zum Teufel?“, fragt sie sich eher selbst als mich. Ich sehe mir nochmals die Bilder an, weil sich mein Gehirn weigert, die neuen Informationen zu verarbeiten. Da sind über ein Dutzend Fotos von mir auf der Kamera. Eines zeigt mich wie ich die Blumen in meinem Garten bewässere, eines wie ich gerade aus meinem Auto steige. Eines zeigt mich sogar schlafend auf der Couch in meinem Haus. Beim Letzten halte ich inne, denn dieses muss erst vor einigen Minuten gemacht worden sein. Es zeigt mich und Susanne, auf dem Bauch liegend. Die Köpfe zueinander gedreht als wir uns gerade unterhielten. Einer plötzlichen Eingebung folgend stehe ich auf und sehe in die Richtung, von der aus das Foto meiner Meinung nach geschossen worden war. Ich mache ein paar Schritte auf die Stelle zu, doch sehe nur zwei Frauen, die sich tropfend gerade wieder auf ihre Badetücher setzen. Weiter hinten hat es Menschen jeglichen Alters, die mein Starren gar nicht mitbekommen. Mittlerweile ist auch Susanne aufgestanden und sieht sich um. Ich drehe mich zu ihr, doch sagen kann ich immer noch nichts. „Das ist mir irgendwie unheimlich. Wir sollten die Kinder nehmen und erst einmal zu mir fahren. Ich finde es nicht gut, wenn ihr allein bei euch zu Hause seid, wenn ja offensichtlich jemand mindestens einmal in eurem Haus war.“ Ich nicke ihr zustimmend und dankbar zu und fange an unsere Sachen zusammenzupacken. Lilli und Leo sind natürlich gar nicht begeistert von der Idee, jetzt schon wieder nach Hause fahren zu müssen. Doch als sie erfahren, dass sie sich noch nicht voneinander verabschieden müssen, beruhigen sie sich schnell wieder. Auf der Fahrt zu Susanne sehe ich immer wieder in den Rückspiegel, doch kann keinen Verfolger ausmachen. Kein Auto, dass immer die gleiche Abbiegung wie mir nimmt und auch sonst sehe ich nichts Verdächtiges. „Leo, wo hast du die Kamera eigentlich gefunden?“, frage ich meinen Sohn. „Sie lag neben meiner Taucherbrille, die ich ins Gras geworfen habe.“ Ich bin total verwirrt und weiss beim besten Willen nicht, wie ich mich gerade fühlen soll. Deswegen lächle ich ihm kurz zu und konzentriere mich dann wieder auf die Strasse. Bei Susanne angekommen, macht sie uns zuerst einmal ein Tee, während die Kinder im Garten spielen. „Sollten wir die Polizei einschalten?“, fragt mich Susanne. Ich schüttle den Kopf. „Bis jetzt haben wir nur eine Kamera mit Fotos von mir gefunden. Ich denke nicht, dass das für die Polizei Grund genug ist, eine Untersuchung in der Sache einzuleiten.“ Wir sehen uns die Fotos nochmals an um irgendeinen Hinweis zu finden, wer diese Fotos gemacht haben könnte. Nach einer Weile steht Susanne auf, verlässt die Küche und kommt einige Minuten später mit einem Laptop und einem schwarzen Verbindungskabel wieder. „Ich schlage vor, die Fotos von der Kamera runterzuladen, dann können wir sie auf dem Laptop vergrössern und so vielleicht mehr herausfinden.“ Ich nicke ihr zu und gebe ihr die Kamera. Das Herunterladen dauert nur ein paar Sekunden, dann sehen wir die Fotos durch und vergrössern sie an gewissen Stellen, doch weiter kommen wir damit leider auch nicht. Das einzige, das wir nun mehr wissen, sind die Daten an denen die Fotos aufgenommen wurden. Einige reichen mehrere Monate zurück. Als wir schon aufgeben wollen, fällt mir etwas ins Auge: Auf dem Bild, welches mich zeigt wie ich aus meinem Auto steige, sehe ich den Ansatz einer Spiegelung. „Kannst du mal das hintere Fenster heranzoomen?“, frage ich Susanne, die meiner Aufforderung auch sofort nachkommt. Und tatsächlich: In der Spiegelung des Fensters ist das Gebüsch in meiner Einfahrt zu sehen und mittendrin ein helles Licht, wie der Blitz einer Kamera. Leider kann ich nicht erkennen, wer hinter der Kamera ist, doch zu wissen, dass mein Verfolger so dicht neben mir im Gebüsch gekauert hat, jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. „Vielleicht sollten wir mal deine Nachbaren fragen, ob sie etwas gesehen haben?“, schlägt Susanne vor und ich stimme ihr zu. Doch nicht heute. Ich hätte nicht gedacht, dass sich unser schöner Nachmittag am See so entwickeln würde. Ein paar Minuten später geben wir uns geschlagen, klappen den Laptop zu und sehen nach den Kindern. Lilli sitzt im Gras und flechtet ihrer Puppe gerade die Haare, doch von Leo ist keine Spur. „Lilli wo hast du denn Leo gelassen?“, frage ich sie. „Wir haben Fussball gespielt und der Ball ist über die Hecke geflogen. Leo wollte ihn holen aber nach einer Weile wollte ich nicht mehr auf ihn warten.“ Panisch schaue ich mich um, sprinte zur Strasse und rufe nach ihm. Susanne ist mittlerweile neben mir aufgetaucht und wir teilen uns auf. Ich rufe immer wieder seinen Namen, während ich die Quartierstrasse auf und ab laufe. Und dann sehe ich ihn: Mit einer kleinen Katze auf dem Arm kommt er gemütlich die Strasse entlanggelaufen. „Leo!“, schreie ich, laufe zu ihm und gehe vor ihm in die Hocke um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. „Du kannst doch nicht einfach weglaufen. Du hast mir einen riesen Schrecken eingejagt.“ Langsam sieht er von dem Kätzchen zu mir und strahlt mich an. Meinen Ausbruch total ignorierend sagt er zu mir: „Sieh mal Mami, das kleine Kätzchen gehört niemandem. Darf ich es behalten?“, fragt er mich zuckersüss. Ich sehe das Kätzchen genauer an und dann wieder Leo. „Schätzchen, das gehört bestimmt jemandem. Seine Mami sucht es sicher schon.“ „Nein, ich hab überall gesucht, aber die Kleine ist ganz alleine. Bitte Mami, lass sie mich behalten.“ „Wir nehmen sie mal mit und versuchen ihre Besitzer zu finden. Aber du hast recht, wir können sie nicht alleine lassen.“ Ich laufe mit Leo und der Katze zurück zu Susanne, die schon auf uns wartet. Die Erleichterung ist ihr praktisch ins Gesicht geschrieben. „Leo, da bist du ja. Und du hast eine neue Freundin gefunden, wie ich sehe. Kommt doch zurück ins Haus. Ich mache uns Abendessen.“ Dankbar sehe ich sie an und wir gehen zurück ins Haus. Nach dem Essen verabschieden wir uns von Susanne und Lilli und machen uns auf den Heimweg. „Wollt ihr nicht hier schlafen? Wir haben genug Platz?“, fragt mich Susanne noch besorgt. „Nein, das ist wirklich nett von dir. Aber Leo hat morgen Schule und alle seine Sachen sind zu Hause. Es wird schon nichts passieren.“ Zuhause angekommen ist für Leo schon Schlafenszeit. Ich nehme ihm das Kätzchen ab, schalte das Licht aus und ziehe seine Zimmertür zu. Dann giesse ich mir ein grosses Glas Rotwein ein um meine Nerven ein wenig zu beruhigen und sehe noch etwas fern. Die Katze springt mir auf den Schoss und ich kraule sie ausgiebig. Unter ihrem dichten und langen Haar, bemerke ich plötzlich etwas. Ich schiebe die Haare an ihrem Nacken zur Seite und sehe ein schwarzes, schmales Halsband. So viel dazu, dass die Kleine kein Zuhause hat. Hinter dem Band, entdecke ich ein weisses Stück Papier, wobei nur eine Ecke davon rausschaut. Ich ziehe das Stück heraus und falte es auseinander. Als ich das Wort lese, welches draufsteht, bleibt mir für eine Sekunde lang das Herz stehen. In roter Schrift steht ein Name „David“. Der Name von Leos Vater.

„Ich sage dir Susanne, das kann kein Zufall sein. Leo findet an dem Tag eine streunende Katze, die den Namen seines verschollenen Vaters trägt, an dem ebenfalls Leo eine Kamera mit lauter Bilder von mir am See entdeckt. Wie gross ist die Chance?“ Ich tigere nervös im Wohnzimmer hin und her, während ich telefoniere. „Willst du nicht doch die Polizei einschalten?“, fragt mich Susanne. „Nein. Ich denke, dass das immer noch zu wenig ist.“ Ich höre ein Geräusch, das vom Garten zu kommen scheint und mein Körper verspannt sich auf der Stelle. Jetzt werde ich langsam aber sicher paranoid. Bei jedem vorbeifahrenden Auto zucke ich unwillkürlich zusammen und ich bilde mir mittlerweile schon ein von jeder Ecke irgendein Geräusch wahrzunehmen. Ich werde diese Nacht kein Auge zumachen. Dessen bin ich mir vollkommen bewusst. „Ich weiss, ich habe dein Angebot bei dir zu übernachten vorher nicht angenommen. Aber kann ich trotzdem mit Leo zu dir kommen? Ich fühle mich hier einfach nicht mehr sicher.“ „Natürlich kannst du das. Schnapp dir Leo und kommt sofort vorbei.“ Innerlich danke ich dem Universum für eine so tolle Freundin. Schnell beende ich das Telefonat und laufe die Treppe rauf zu meinem Schlafzimmer. Dort packe ich ein paar Sachen ein, bevor ich mich auf den Weg zu Leos Zimmer mache. Ich hasse den Gedanken, dass ich ihn aus dem Schlaf und in die kalte Nacht hinaus reissen muss, doch die Angst ist zu gross. Es führt kein Weg daran vorbei. Als ich an der Zimmertür von Leo ankomme, bemerke ich als Erstes, dass die Tür zu ist. Doch ich hatte sie vorhin lediglich zugezogen. Misstrauisch öffne ich die Tür und lasse das kleine Nachtlicht auf der Kommode an. Dann packt sie mich mit voller Wucht: Nackte Panik. Leo ist nicht in seinem Bett. Ich rufe seinen Namen so laut, dass sich dabei meine Stimme überschlägt, doch ich erhalte keine Antwort. Ich renne aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und rufe dabei immer wieder seinen Namen. Das Haus und die Stille scheinen mich buchstäblich zu verschlingen. Ich bin kurz davor eine Panikattacke zu kriegen, doch zwinge mich zur Ruhe. Ich muss ruhig bleiben, nur so bekomme ich meinen Sohn zurück. Dessen bin ich mir absolut sicher. Ich greife zu meinem Handy um die Polizei zu verständigen. Als ich mit der nächsten Polizeiwache verbunden werde, höre ich ein Klopfen an der Haustür. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, das Telefon an meinem Ohr zittert. Langsam mache ich einige Schritte auf die Tür zu und nehme auf dem Weg dorthin einen Brieföffner in die linke Hand, damit ich wenigstens irgendetwas zu meiner Verteidigung in Händen halte. Ich drehe denn Türknauf langsam um und öffne mit angehaltenem Atem die Tür und sehe… rein gar nichts. Vorsichtig mache ich einen Schritt aus dem Haus und sehe einmal nach links und rechts, doch alles was ich in der Dunkelheit ausmachen kann, sind in der Ferne erscheinende Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos. Ich schrecke hoch, als hinter mir die Eingangstür krachend ins Schloss fällt. Dabei fällt mir das Handy aus der Hand, dass ich schon total vergessen habe überhaupt in Händen zu halten. Gott sei Dank habe ich noch einen Ersatzschlüssel unter einem der Steine neben dem Eingang. Als ich den Stein hochhebe fehlt da aber was und zwar der besagte Schlüssel. Blitzschnell drehe ich die restlichen Steine um, in der Hoffnung ihn einfach unter den falschen Stein getan zu haben. Aber auch dort finde ich nichts ausser Erde. Ich rüttle an der Haustür und merke verwundert, dass sie nicht abgeschlossen ist. Trotz des automatischen Schliesssystems. Langsam öffne ich die schwere Holztür und spähe in den Eingangsbereich meines eigenen Hauses. Wie lächerlich muss das denn aussehen. Dann mache ich vorsichtig einen Schritt hinein und versuche irgend ein Geräusch auszumachen, doch alles was ich höre ist das Laufen der Waschmaschine. Ich schliesse die Türe wieder hinter mir und betätige das Schloss, dann sehe ich einen blauen Zettel mitten auf der Theke meines offenen Küchenbereichs liegen, dem nun meine ganze Aufmerksamkeit gilt. Langsam gehe ich auf ihn zu, schleiche fast. So als könnte mich dieser Zettel anspringen und attackieren. Mit zitternder Hand nehme ich den Zettel von der Theke. Darauf steht in fein geschwungener Schrift: „Komm zu uns. Wir warten auf dich und zwar NUR auf dich…“ Bei diesen Worten wird mein ganzer Körper von einer Kälte übermahnt, die mich fast zu Boden zwingt. Was ist mit „wir“ gemeint? Gibt es mehrere Entführer, Täter, oder wie ich es auch immer benennen will oder könnte damit auch Leo gemeint sein. Ich spüre, dass etwas an der Rückseite des Zettels befestigt ist und zwar ein Polaroid Bild. Dieses Bild sollte eigentlich in einem Fotoalbum kleben, welches ich vor Jahren in eine Kiste gepackt und auf dem Dachboden deponiert habe. Das Bild zeigt mich und David, Leos Vater, bei einem Wochenendausflug in einem Waldhaus, wo auch der See, an dem wir heute Nachmittag waren, nicht weit entfernt liegt. Schon wieder David. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus um die wiederkehrende Panik in Schach zu halten. Mit „NUR auf dich“ ist sicherlich gemeint, dass ich niemandem von der Sache erzählen darf und ich will kein Risiko eingehen und damit das Leben meines Kindes in Gefahr bringen. Ich schnappe mir eine Taschenlampe, denn mein Handy hat fast keinen Akku mehr, zudem ist das Display beim vorherigen Sturz in die Brüche gegangen. Dann ziehe ich meine Jacke an, greife meine Autoschlüssel und mache mich auf den Weg zum Waldhaus das etwa eine halbe Stunde entfernt liegt.


Ich parke vor dem Waldhaus, welches sonst Erholung und Frieden für mich darstellt. Doch heute umgiebt das Haus eine Kälte, die wohl nur ich wahrnehmen kann. Die Ungewissheit, was da drin auf mich wartet zerreisst mich fast und obwohl ich am liebsten den Rückwärtsgang einlegen und wieder nach Hause fahren würde, treibt mich die Angst um meinen Sohn und auch schiere Neugier an, aus meinem Wagen zu steigen und mich dem zu stellen, was drinnen auf mich lauert. Ich inspiziere zuerst das Haus bevor ich zur hölzernen Vordertüre gehe. Es brennt kein Licht und auch sonst sieht das Waldhaus verlassen aus. Ich atme einmal tief ein und wieder aus, lege dann die Hand um den Türknauf und trete langsam ein. Wie bereits von Draussen beobachtet, liegt das Haus in totaler Dunkelheit. Ich taste nach dem Lichtschalter, doch nichts passiert. Gott sei Dank bin ich darauf vorbereitet und schalte meine Taschenlampe ein, die schwer in meiner Hand liegt. Ich habe absichtlich die grösste Lampe die ich besitze gewählt, damit mir wenigstens sowas wie eine Waffe zur Verfügung steht. Ich lasse den Lichtstrahl durch den Raum schweifen, doch nichts ist zu sehen. Keine Menschenseele. Ich gehe ein paar Schritte weiter Richtung Wohnzimmer, leuchte alles ab, was die Weite des Lichts erfassen kann, doch da ist immer noch nichts zu sehen. Dann höre ich es: Ein lautes Poltern, direkt unter mir. War ja klar, dass ich in den kalten dunklen Keller muss, vor dem ich mich schon immer gefürchtet habe. Das Haus ist schon sehr alt und daher kann es schon hin und wieder passieren, dass die Sicherung herausfällt und es war immer Davids Job gewesen in den Keller zu gehen, wo sich der Sicherungskasten befindet. Ich war nur ein einziges Mal als Kind dort unten, ganz allein mit meinen Gedanken und den wilden Fantasien, die Kinder nunmal haben. Ich schiebe meine Angst beiseite, öffne die Kellertür und gehe die lange steile Steintreppe hinunter. Als ich etwa in der Mitte der Treppe ankomme, geht plötzlich das Licht wieder an und mir entfällt vor Schreck ein hoher Kreischton. Instinktiv klatsche ich meine Hand auf meinen Mund, wohlwissend, dass wer auch immer hinter all dem steckt, mich bereits erwartet und genau weiss, wo ich mich momentan befinde. Ich bringe den Rest der Treppe hinter mich, gehe um die nächste Ecke, immer darauf gefasst, dass ich gleich angesprungen werde und finde mich vor dem Luftschutzraum wieder, welcher geschlossen ist. Ich versuche die schwere Türe zu öffnen, doch die bewegt sich keinen Millimeter. Ich muss die Taschenlampe aus der Hand legen, denn ich brauche beide Hände um die schwere Tür aufstemmen zu können. Mit einem lauten Quietschen geht die Türe auf und sofort kommt mir ein widerlicher Gestank entgegen, der sich durch Kleider, Haut und Haare zu fressen scheint. Schnell schliesse ich die Tür wieder und schnappe gierig nach frischer Luft. Ich warte ein paar Minuten, denn mir graut davor, die Tür noch einmal zu öffnen, doch dann tue ich es doch noch und hebe die Taschenlampe vom Boden auf. Auch dieser Raum ist vom Licht der Deckenlampe erfüllt, welche ein so grelles weisses Licht von sich gibt, dass ich zuerst fast nichts sehen kann. Als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, erschauere ich. Der Raum ist bis auf eine verlassene Liege leer, was mir keine grosse Ablenkung von diesem Gestank gibt. Ich mache ein paar Schritte in den Raum hinein, denn auf der anderen Seite sehe ich unzählige Striche, die in die Wand gekarft worden sind. Es ist immer eine Fünfergruppe von Strichen, wie jemand etwas gezählt hätte. Das Laken auf dem Bett ist dreckig, zerwühlt und voll von Blutflecken, doch ansonsten leer. Als ich mich zum Gehen umdrehe, weil ich keine weitere Minute in diesem Raum verbringen möchte, bleibe ich abrupt stehen. Der Schrei, der aus mir raus will, bleibt in meinem Hals stecken und mir dreht sich der Magen um. Da hängt ein Mann von der Decke. Oder ist es eine Frau? Die Haut ist schon so verfault, dass das Geschlecht schwer auszumachen ist, doch die Kleidung spricht für einen Mann. Ich habe ihn beim Betreten des Raums nicht gesehen, weil er direkt hinter der offenen Tür baumelt und so zuerst unsichtbar für mich war. Kreischend und vor Eckel und Angst übermannt, renne ich an der Leichr vorbei, durch die Tür, die Treppe rauf, durchquere das Wohnzimmer und springe fast dem Ausgang entgegen. Die Tür ist zu meinem Glück nicht verschlossen, doch trotzdem komme ich nicht weit. Ich spüre nur noch, dass mich etwas Hartes mit voller Wucht am Kopf trifft und dann verliere ich das Bewusstsein.

Das Erste was ich wahrnehme, als ich wieder zu mir komme, ist das schmerzhafte Hämmern meines Kopfes und der eiskalte Boden unter mir. Dann rieche ich ihn wieder, den Verwesungsgestank. Als ich meine Augen zu öffnen versuche, wird der Schmerz schlimmer, doch ich zwinge mich dazu die Lage zu sondieren. Warme Flüssigkeit läuft mir die Schläfe herunter. Ich fasse es an und sehe Blut. Nur verschwommen kann ich meine Umgebung ausmachen, was vielleicht auch besser ist. Ich liege an einer Wand, der Mann hängt immer noch an der Decke, auf der anderen Seite des Raumes. Als ich zur Seite blicke, Richtung Bett, erkenne ich die Umrisse einer Person, die dort zu sitzen scheint. Scheinbar hat sie gemerkt, dass ich aufgewacht bin, denn sie steht auf und kommt in meine Richtung. Schnell setze ich mich auf und drücke mich gegen die Wand. Die abrupte Bewegung zieht eine Schwindelattacke und noch schlimmere Schmerzen mit sich, doch ich versuche mein Unwohlsein so gut es geht zu verbergen. „Na, auch schon wach? Ich hab wohl härter zugeschlagen als ich dachte.“ Eine Frauenstimme. Mein Angreifer ist gar kein Mann, von dem ich zuerst ausgegangen bin. „Wer sind Sie?“, lalle ich vor mich hin und muss mich dabei stark konzentrieren um die Worte formen zu können. „Es spielt keine Rolle wie ich heisse. Das hat dich auch vorher nie interessiert.“ Bei diesen Worten muss ich stutzen. Ich kenne sie also, obwohl mir die Stimme überhaupt nicht bekannt vorkommt. „Wieso tun Sie das? Wo ist mein Sohn?“ „Oh, Leo geht es gut. Ich würde ihm nie etwas antun. Was ich leider von dir nicht behaupten kann. Wow, ich habe so lange auf diesen Moment gewartet. Die nächsten paar Minuten will ich geniessen und ich rate dir, dass auch zu tun, denn danach wirst du niemals mehr einen Menschen zu Gesicht bekommen.“ Ihre Stimme ist so fröhlich und gleichzeitig voller Hass, dass sich alles in mir zusammenzieht. „Was wollen Sie von mir?“ Ich höre sie leise lachen und sehe wie sie ein paar weitere Schritte auf mich zukommt und dann unmittelbar vor mir in die Hocke geht, damit wir auf Augenhöhe sind. „Ich will das, was du mir weggenommen hast. Ich will was mir zusteht.“ „Wovon reden Sie? Was soll ich Ihnen genommen haben?“ Mittlerweile schreie ich fast, so verzweifelt bin ich. Sie steht auf und geht nervös im Zimmer auf und ab und wirft dabei die Hände in die Luft als wüsste die Decke mehr als ich. „Du hast mir mein Leben gestohlen. Meine Familie…“, mitten im Satz hält sie inne und sagt dann zähneknirschend „Meinen Mann“. Wie bitte? Ihren Mann? Nun bin ich endgültig verwirrt. „Tu nicht so unschuldig. Ich spreche natürlich von David.“ Da verstehe ich das erste Mal an diesem Tag worum es überhaupt geht. „Du bist Sophie“. Es ist keine Frage, sondern eine Realisation. „Bingo!“, sagt sie matt und packt meinen linken Arm, zerrt mich hoch und drückt mich an die Wand. „Wir waren so glücklich bis du aufgetaucht bist. Wir wollten eine Familie gründen, doch genau an dem Tag, an dem wir erfuhren, dass ich keine Kinder bekommen kann, hat er dich kennengelernt und dich auch gleich geschwängert. Wir hätten adoptieren können oder sonst was, aber du hast ihn mir gestohlen und du wusstest genau was du tust!“ Sie ist mir so nah, dass sie mich beim Schreien anspuckt. Mittlerweile sehe ich auch wieder klar und ihre weit aufgerissenen Augen heissen nichts Gutes. „Es, es tut mir leid“, ist alles was ich herausbringe. Auf diese Worte gibt sie mir eine schallende Ohrfeige und mein Kopf scheint nun endgültig explodieren zu wollen. Sie hat Recht. Ich wusste von ihr und es war mir egal. Ich war so verliebt in David und als ich dann schwanger wurde, war unser Glück perfekt. Es war mir egal, dass ich ihn jemandem ausspannte. Ich hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen gehabt. „Schenk dir deine müde Entschuldigung. Wie war’s denn in einem grossen Haus zu wohnen? Mit einem tollen Mann, einem süssen Kind und deinem verlogenen Heiligenschein. Ich habe dich über Jahre beobachtet. Nach aussen hin bist du die perfekte Frau, aber in Wirklichkeit bist du nicht mehr als eine elende Schlampe!“ Nun schreit sie, lässt aber wenigstens von mir ab. „Du hast Recht. Das war dir gegenüber nicht fair“, sage ich kleinlaut, was sie nur umso wütender macht. „Denkst du es interessiert mich wie du dich fühlst? Ich habe jahrelang in deinem Schatten gelebt. Musste zusehen, wie du mein Leben lebst. Es war dir sogar egal, als David plötzlich verschwunden war. Den lahmen Abschiedsbrief hast du mir ohne Weiteres abgekauft. Du hast ihn nicht mehr gebraucht, du hattest ja schon alles.“ Bei diesen Worten werde ich stutzig. „Wie meinst du das: Dein lahmer Abschiedsbrief?“ Eine böse Vorahnung lässt mich erschauern. Sie läuft zu dem erhängten Mann und da sehe ich das erste Mal das Klappmesser aufblitzen, welches sie vorher wahrscheinlich in ihrer Hosentasche hatte. „Willst du mir etwa sagen du erkennst ihn nicht?“, sie tippt mit dem Messer an das rechte Bein der Leiche. Mir wird schlecht. Ich halte mir die Hand vor meinen Mund, damit ich nicht schreie. Tränen laufen mir die Wangen hinunter. Nein, das kann nicht wahr sein. „Jap, das ist der gute David. Er hat schon bessere Tage gesehen, aber hat sich lange gut gehalten. Fünf Jahre hat er hier drinnen verbracht bevor er es nicht mehr aushielt. Tja, eine Schande nicht wahr?“ Sie lacht höhnisch und ergötzt sich an meinem Leid. „Oh wie gut dass das tut, dich so zu sehen. Ich muss dir aber ein Kompliment machen. Du hast Leo wunderbar erzogen. In der Schule ist er immer der Fleissigste und ein Charmeur, genau wie sein Vater.“ Wieder habe ich das Gefühl, dass sich mir der Magen dreht. Ich sehe sie fragend an und versuche das Rätsel zu lösen, welches sie mir gerade gestellt hat. „Hat er dir nie von seiner Lieblingslehrerin erzählt? Frau Sophie Schneider? Seit ein paar Monaten unterrichte ich den lieben Jungen und wir haben uns auf Anhieb wunderbar verstanden. Wir beide haben sogar einmal miteinander telefoniert. Weisst du noch? Es war vor ein paar Wochen, als Leo diese schlimme Grippe hatte.“ Die Worte kommen so zuckersüss aus ihrem Mund, was mich noch mehr verstört als die Schreierei von vorhin. Die Erkenntnis jahrelang beobachtet zu werden und es nicht zu merken, ekelt und erschreckt mich zugleich. Doch vor allem frisst mich das schlechte Gewissen David gegenüber innerlich auf. Wie eiskalt muss man sein? Es ist in der Zeit, bevor er verschwunden ist nicht gerade gut zwischen uns gelaufen und er konnte nicht wirklich mit Leo umgehen, wirkte oftmals überfordert und war mir überhaupt keine Hilfe. Deswegen dachte ich immer, dass er sich einfach der Verantwortung nicht stellen wollte und deswegen abgehauen ist. Dabei war er die ganze Zeit in diesem Zimmer eingesperrt gewesen. Ich bin nicht nur eine schreckliche Freundin, sondern auch eine miserable Mutter. „Kann ich bitte meinen Jungen sehen? Ich will nur wissen ob es ihm wirklich gutgeht. Bitte.“ Sophie sieht mich misstrauisch an, zuckt dann aber gleichgültig mit den Schultern. „Von mir aus. Dein gequälter Gesichtsausdruck sollte Belohnung genug sein, wenn du ihn zum allerletzten Mal sehen wirst.“ Sie zieht mich hoch und schubst mich vor sich her. Schnell versuche ich mir einen Fluchtplan auszudenken, aber bevor ich nicht weiss wo sie Leo gefangen hält, kann ich nicht abhauen. Sie stösst mich die Treppe hinauf, aus dem Keller heraus ins Erdgeschoss. Da bemerken wir beide, dass die Tür offensteht. „Was zum…“ weiter kommt sie nicht. Ich höre nur das Knacken von Knochen und dann fällt Sophie bewusstlos zu Boden. Als ich aufblicke, sehe ich Susanne vor mir stehen. Sichtlich entgeistert darüber, was sie gerade getan hat, aber auch erleichtert mich zu sehen. „Gott sei Dank. Du lebst.“, sagt sie und nimmt mich in den Arm. „Susanne, woher?“, ist das einzige dass ich in diesem Moment herausbekomme. „Komm mit. Ich habe Leo gefunden. Ich habe ihn bereits ins Auto gebracht. Er schläft. Es geht ihm gut.“ Erleichtert sehe ich sie an und renne zum Ausgang. Die Tür jedoch, ist verschlossen. Ich rüttle nochmal daran, um absolut sicher zu sein, dass ich mich nicht irre. „Na mach sie schon auf“, sagt Susanne ungeduldig. „Ich versuche es ja“, sage ich nervös. Panisch rennen wir durch das Haus und versuchen jede Tür und jedes Fenster aufzubekommen, doch es erweist sich als ein gescheitertes Unterfangen. Angstschweiss rinnt mir die Stirn hinunter und dann kommt mir plötzlich ein Gedanke. „Woher wusstest du eigentlich wo ich bin?“, frage ich Susanne, während ich mich ihr zudrehe. „Als du nicht aufgetaucht bist, bin ich zu dir gefahren und habe die Notiz und das Foto gesehen. Auch ich war als Kind viel hier und habe das Haus sofort erkannt.“, sagt sie schulterzuckend. Ein weiteres Mal ergreift mich Panik. Langsam stecke ich meine Hand in die Jackentasche und ziehe den Zettel und das Foto hervor. „Du meinst das?“, frage ich sie und sehe die Veränderung in ihrem Gesicht. „Verdammt!“, sagt sie mehr zu sich selbst als zu mir. „Hättest du dir keine bessere Ausrede einfallen lassen können Schwesterchen? Alles muss man hier alleine machen.“, höre ich Sophie plötzlich sagen und schrecke auf. «Du hast mich ziemlich hart erwischt. So fest hättest du nicht zuschlagen müssen.“ Nun sehe ich sie. Sie steht hinter dem Küchentresen und reibt sich den Hinterkopf. „Es musste echt aussehen.“, sagt Susanne mit einem Lächeln im Gesicht. Ich schaue mich hilfesuchend um, doch leider sehe ich keinen Weg hier raus. Die beiden stehen nun nebeneinander und laufen langsam und entspannt auf mich zu. „Ich muss schon sagen Lena, das war nicht nett meiner Schwester denn Mann auszuspannen. Ich hätte dich ja auf der Stelle in Stücke gerissen, aber meine Schwester liebt eine lange und gut durchdachte Rache.“ Nun lachen beide höhnisch. Ich drücke mich fest an die Tür. So als könnte ich durch sie hindurch gehen, wenn ich mich denn nur fest genug an sie drücke. Es ist Susanne, die mich brutal am Arm packt und mir etwas Hartes in den Rücken drückt. Eine Pistole, vermute ich. Wieder werde ich in den Keller geführt, in das Zimmer mit Davids Leiche. Susanne wirft mich beinahe auf das Bett in der Ecke. Von meiner Freundin ist nichts mehr übriggeblieben. Es kommt mir vor, als hätte sich ein böser Schatten über sie gelegt. „Wieso die gefakte Rettungsaktion, wenn ihr mich doch schon hier unten hattet?“, ist alles was ich fragen kann. „Ein bisschen Spass muss sein. Der Hoffnungsschimmer in deinen Augen war es total wert, von meiner Schwester eins übergebraten bekommen zu haben.“ Stolz und liebevoll sehen sich die beiden an. Sie sehen aus wie ganz normale Schwestern, die sich gegenseitig gerade ein Kompliment gemacht haben. Nach einer halben Ewigkeit der Stille klatscht Sophie plötzlich laut in die Hände, was mich auf der Liege heftig zusammenzucken lässt und verkündet dann mit kraftvoller Stimme: „Nun gut. Ich denke wir sind jetzt quitt.“ Ich verschlucke fast meine eigene Zunge vor Überraschung. „Was?“, frage ich verblüfft. „Du hast mir mein Leben gestohlen und ich stehle dir nun deins. Quid pro quo. Oder eigentlich hole ich mir ja nur zurück was mir zusteht. Aber keine Angst: Ich werde Leo eine gute Mama sein und deinen wunderschönen Garten auch immer regelmässig giessen.“ Als sie das sagt klingt sie so glücklich, dass ich am liebsten schreien würde. „Bitte, tu meinem Jungen nichts“, weine ich eher als ich es sage. „Wie bereits erwähnt: Ich würde Leo nie etwas tun. Er ist mein Sohn und wir werden glücklich bis ans Ende unserer Tage leben und weil ich ein so grosszügiger Mensch bin, lasse ich dir sogar etwas von deinem alten Leben hier. Eine Grosszügigkeit, die du mir nie entgegengebracht hast», sagt sie nun wieder mit hasserfüllter Stimme, schaut zu Davids Leiche und läuft aus dem Zimmer. „Nein, bitte, warte!“, schreie ich ihr hinterher. Nun sind nur noch Susanne und ich hier, doch auch sie wendet sich zum Gehen. Bevor sie das Zimmer verlässt sagt sie: „Ach ja, nur das du’s weisst. Das Waldhaus gehört mir. Ich habe es vor Jahren für meine Schwester gekauft. Es wird dich also niemand finden.“ Dann tippt sie mit der Pistole auf Davids Leiche und gibt ihr einen Schups, sodass sie nun leicht hin und her schwingt. Das Geräusch, das sie dabei macht ist unbeschreiblich. „Ich wünsche euch viel Spass zusammen. Ihr habt einander verdient.“ Sind ihre letzten Worte an mich bevor sie das Licht ausmacht, den Raum verlässt und die schwere Tür quietschend hinter sich zuzieht. Ich renne ihr hinterher und hämmere wie wild an die Tür. „Lasst mich raus! Bitte, es tut mir leid. Es tut mir so leid! Bitte!“ Doch da ist nichts mehr. Nur eine alles verschlingende Dunkelheit, mein Herzrasen und das Geräusch von Davids verwester Leiche.

2 thoughts on “Im Schatten lebt die Rache

  1. Genauso müssen Geschichten geschrieben werden, um mir meine Herz zu rauben. Mein Herz hast du somit unweigerlich! Wirklich – Hut ab : die Geschichte ist dir wirklich gut gelungen, vom Anfang bis zum Schluss!
    Es war spannend, eklig, und böse. Kurz und knackig wurde jedes Wort ausgezeichnet ausgewählt. Bitte schreibe mehr solche Geschichten, du hast wirklich Talent!
    Herzlich – Lia

    1. Liebe Lia

      Wow, deine Worte bedeuten mir sehr viel. Du weisst sicher auch nur allzu gut, dass man sehr selten ein Feedback zu seinem Schreiben bekommt und es daher schwer einzuschätzen ist, ob man wirklich Talent hat. Aber wenn ich auch nur einen Menschen mit meiner Story wirklich erreicht haben sollte, gibt mir das erst recht den Willen weiterzumachen. Ich danke dir! <3

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