Jenny SchröderKalter Schnee

„Kalter Schnee“

Jonathan Feld hatte keine einfache Kindheit. Die Mutter schwer drogenabhängig, früh verstorben und der Vater ein Säufer, Hurenbock und äußerst gewalttätig – kurz gesagt, ein Psychopath. Jonathan erinnerte sich immer wieder an die Schläge seines Vaters auf seiner Haut, die Tritte in den Bauch oder die kalten dunklen Nächte im Keller des Elternhauses, die er nackt auf dem Boden verbringen musste. Aber am meisten tat die Narbe an Jonathans rechten Handgelenk weh, die ihm sein Vater mit einem heißen Bügeleisen zugeführt hatte, weil er mal wieder besoffen war und einen seiner heftigen Ausraster hatte. Jonathans Misshandlungen hörten erst im Alter von neun Jahren auf, nachdem sein Vater an den Folgen des exzessiven Trinkens verstorben war. Von da an musste er in ein Kinderheim ziehen, da keiner seiner verstorbenen Eltern, lebende Verwandte hatte. Jonathan hörte die Worte der Heimleitung immer noch in seinen Ohren klingeln: „Du bist schwer vermittelbar – aufbrausend – sonderbar – aus dir wird nie was werden“. Ja, die Vergangenheit hinterließ Spuren auf seiner Seele und ab und an bemerkte er, wie die Dämonen versuchten, aus der Unterwelt empor zu klettern, um erneut von ihm Besitz zu ergreifen. Aber, seit knapp einem Jahr war es ruhig in seinem Kopf, dank der hilfreichen Sitzungen mit seinem Psychiater Dr. Tauber, die er seit 2014 regelmäßig besuchte. Damals fiel es ihm sichtlich schwer, die Therapie anzunehmen, aber Dr. Tauber sah in dem kleinen, schmächtigen Jungen Potenzial, sich von den schrecklichen Ereignissen in seinem jungen Leben erholen zu können. So führten die Gespräche dazu, dass er sich immer mehr öffnete und bereit war, seine Vergangenheit Schritt für Schritt aufzuarbeiten, um ein besonderes schreckliches Kapitel in seinem Leben endlich zu verarbeiten. Er wusste, dass da noch etwas lauerte. Etwas, von dem er Dr. Tauber noch nichts erzählt hatte, denn zu groß war die Sorge, der Arzt könne es Missverstehen. Jonathan war kein Freund von diversen Medikamenten, aber die Pillen, die er täglich schlucken musste, sorgten dafür, dass er sich so richtig wohl in seiner Haut fühlte. So merkte keiner in seinem Umfeld, dass ihn ein dunkles Geheimnis umgab.

Mit achtundzwanzig Jahren, war er nun mit seinem Leben zufrieden. Nach dem er sich mit einigen Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, gehörte er nun, seit Frühling 2018 zu einem netten Team einer kleinen Buchhandlung in Hamburg – Eilbeck und wohnte in einer Zweizimmerwohnung in der Papenstraße in der Nähe vom Jacobipark. Jonathan verschwendete nur noch sehr selten einen Gedanken an seine Vergangenheit, besonders an jene Nacht im Winter 2008, die wie ein schwarzer Fleck auf seiner Seele lastete. Jonathan brauchte zusätzlich den Sport, um seine inneren Dämonen im Zaum zu halten, die tief in ihm schlummerten. So ging er auch an diesem kalten Winterabend, gewohnt zur selben Zeit, ins Fitnessstudio, um ein paar zwanzig Kilo Hanteln zu stemmen. Nach seinem ausgiebigen Workout war eine heiße Dusche das beste Mittel gegen aufkommenden Muskelkater. Es war ungewohnt ruhig in der Umkleidekabine, normalerweise hielten sich hier ein paar mehr Männer auf, die sich untereinander zur Show stellten, wer denn den besseren durchtrainierten Körper hatte oder einen größeren Schwanz. Heute war nur die Frau vom Reinigungsdienst da und putzte die Sanitäranlagen. Jonathan beachtete die junge Frau gar nicht, er hatte so seine Defizite im Umgang mit Frauen. Ihm fiel es sichtlich schwer, in der Nähe einer hübschen Frau entspannt zu wirken, außer bei seiner fünfundzwanzig jährigen Arbeitskollegin Sina. Die seit sechs Monaten zum Team dazu gehörte, funktionierte es, irgendwie. So ganz in Gedanken versunken bemerkte Jonathan erst beim zweiten Klingeln ein Handy im Spind gegenüber von ihm. Anfangs dachte er sich nichts dabei: „Wird wahrscheinlich das Handy von einem Trainierenden hier sein“, doch beim näheren Hinsehen bemerkte er, dass der Spind offen stand. Da die Neugierde größer war als die Vernunft, nahm er das Handy an sich und stellte erstaunt fest, dass es ein älteres Model aus dem Jahr 2012 sein musste und schon ziemlich demoliert aussah. In seiner Hand hörte es nun auf zu vibrieren und er wischte mit dem Zeigefinger über den Bildschirm. “ Ahja, keine Tastensperre, wundert mich jetzt nicht”, stellte Jonathan fest. Irgendwie faszinierte ihn das Handy und so machte er sich im Menü unter den Kontaktdaten auf die Suche nach dem Besitzer. “Null Einträge – komisch”. “Wer hat denn heutzutage keine Kontaktdaten im Handy”, fragte er sich selbst. Auch im Ordner “Anrufe” oder “Nachrichten”, keine Einträge. Nur im Ordner “Album”, befand sich eine einzige Videodatei. “Na Super, wahrscheinlich so ein dämliches Katzenvideo”, dachte Jonathan. Er drückte auf “Play” und spielte das zweiminütige Video ab. Doch bereits nach einer halben Minute fing sein Herz an wie wild zu hämmern. Konnte es wahr sein, was er gerade gesehen hatte? Eiskalt lief es ihm den Rücken runter. Er schüttelte sich und er hatte das Gefühl, das Blut in seinen Adern würde gefrieren. Jonathan Feld verlor fast das Gleichgewicht und er musste sich setzen. Eine Million Gedanken kreisten in seinem Kopf, er versuchte klar zu denken, doch es gelang ihm nicht. Zu geschockt war er von dem, was er gerade gesehen hatte. „Das kann nicht sein“, dachte Jonathan. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, schmiss er das Handy in seine Sporttasche und verschwand eilig aus der Umkleidekabine. Dabei rannte er fast die Reinigungskraft um, die seinen weg kreuzte. “ T´schuldigung”, nuschelte er ganz verstört und rannte aus dem Studio. Nur der Geruch von einem süß duftenden Parfüm, stieg ihm dabei sanft in die Nase… Völlig aus der Puste, kam Jonathan fünfzehn Minuten später zu Hause in seiner Wohnung an. Er warf die Jacke und die Schuhe unachtsam in die Ecke und holte sofort das Handy aus seiner Sportasche. Panik überkam ihn. „Nein, nein, das darf nicht sein, das ist unmöglich”, stammelte er laut. Er hatte das Gefühl, jemand drücke ihm die Luft ab, sein Brustkorb bebte und Schweißperlen zeichneten sich auf seiner Stirn ab. Er spielte das Video erneut ab, diesmal bis zum Ende. Nach quälenden zwei Minuten, war der Horror vorbei und Jonathan fühlte sich mit einem Schlag in seine schreckliche Vergangenheit zurückversetzt. Er wusste wer der Mann in dem Video war, der Dämon, der ihn schreckliche Dinge tun ließ. Jonathan stand auf und ging ins Badezimmer um seine Pillen mit einem kräftigen Schluck Wodka hinunter zu spülen, und als er in den Spiegel blickte und der Wodka seine trockene Kehle umspülte, wusste er, der Dämon war bereit erneut aus der Hölle empor zu steigen.

Am nächsten Morgen in der Buchhandlung sahen die Kollegen ihm die unruhige Nacht im Gesicht an. Der müde Blick, die zerzausten Haare und die dunklen Augenringe waren deutlich zu erkennen. Jonathan sah wie ausgekotzt aus, als hätte ihn ein Fünfzehntonner überrollt. „Schlecht geschlafen ?“ , fragte Sina, seine Kollegin, und reichte ihm einen frisch gebrühten Kaffee. „Danke, sehr nett von dir.“, erwiderte Jonathan etwas nüchtern. Sina schenkte ihm ein Lächeln, das so viel sagte wie „Der Kaffee wird dir helfen“ und verschwand in Richtung Damentoilette. Dabei wehte ihm der sanfte Duft von Jasmin und Orchideen ins Gesicht, er mochte Sinas Parfüm. Und dabei glaubte er den Duft auch gestern in der Umkleidekabine wahrgenommen zu haben. Aber wahrscheinlich trägt jede Frau in Hamburg ein nach Frühlingsblumen duftendes Parfüm. Seine Gedanken schweiften wieder ab. Jonathan fiel es heute sichtlich schwer sich auf seinen Job zu konzentrieren, zu sehr beschäftigte ihn das Video auf dem fremden Handy. Er musste mit jemandem darüber reden. Zu sehr hatte er Angst davor, dass die Dämonen in seinem Kopf erneut begannen, schlimme Dinge zu ihm zu sagen, und ihn die Tat von damals Wiederholen ließen. Er hatte keine andere Wahl, als mit seinem Psychiater Dr. Tauber darüber zu sprechen. Er hatte sonst niemanden, den er Vertrauen konnte. „Jetzt oder Nie“, schoss es ihm dabei durch den Kopf. Die Sekretärin in der Praxis von Dr. Gerald Tauber teilte ihm mit, dass Dr. Tauber derzeit nur telefonisch zu erreichen war und aus persönlichen Gründen, leider zurzeit keine Patienten empfängt. Jonathan war dies ziemlich egal, Hauptsache er konnte mit ihm darüber sprechen, also vereinbarte er mit ihr einen Telefontermin für morgen um zehn Uhr. Denn er merkte schon, wie sehr ihn das Geschehene belastete. Das Video kratzte den schwarzen Fleck auf seiner Seele wieder auf, wie eine Made, die versuchte sich aus einer verwesten Leiche zu fressen. Jonathan entschied sich daher, den Buchladen heute früher zu verlassen und wurde dabei von Sina begleitet, die noch schnell in den Supermarkt, bei ihm um die Ecke wollte. „Irgendetwas scheint dich zu bedrücken, oder?“, fragte sie einfach drauf los. „Du warst den ganzen Tag so seltsam drauf, du wirktest fast apathisch, als wärst du gar nicht da. Was ist los, Jonathan? Du kannst mit mir über alles reden“, lächelte sie ihn an. Jonathan sah in ihre großen blauen Augen und er fühlte eine gewisse Sicherheit bei ihr, schließlich kannten sich die beiden nun schon ein paar Monate und sie hatten auch mal hin und wieder privaten Kontakt durch Verabredungen, von Kinobesuchen,Spaziergängen an der Elbe, oder zum Eis essen in dem kleinen Cafè gegenüber vom Stadtpark. Aber mehr als eine Freundschaft war zwischen Sina und ihm nicht entstanden. Eigentlich schade, wenn man bedenkt, dass die beiden doch einiges mehr gemeinsam hatten, wie man anfangs vielleicht hätte vermuten können. Schließlich war Sina auch ein Heimkind, aber anders als bei Jonathan hatte sie Glück und wurde von einer lieben Familie adoptiert. Naja, bis auf das mysteriöse Verschwinden ihrer kleinen Adoptivschwester. Das war eine ganz schwere Zeit für die Familie, besonders als die Kleine nach zehn Jahren endgültig für Tod erklärt worden war. Sina wollte aber näheres nie dazu erwähnen, und er hatte auch nicht weiter nachgebohrt. Er fühlte sich sicher und geborgen bei ihr, er mochte ihre direkte, unverblümte Art und ihren attraktiven Po, ja Sina hatte eine außerordentliche sportliche Figur, obwohl sie immer wieder betonte , sie mache gar keinen Sport. Und als er so neben ihr her ging, entschied er sich ihre Frage endlich zu beantworten. „Ich habe gestern ein fremdes Handy in der Umkleidekabine im Fitnessstudio gefunden“, antwortete Jonathan etwas zögerlich und schaute dabei in den nahegelegenen Park. „Und das macht dich so fertig„? kicherte Sina zurück. „Nein, nicht das Handy, sondern der Inhalt eines Videos, von dem ich dachte, es existiert überhaupt nicht“. Jonathan sah die Fragezeichen in Sinas Gesicht, ihr Blick veränderte sich schlagartig und er fragte sich wirklich, ob es so eine gute Idee gewesen war, ihr davon zu erzählen. „Wie meinst du das, das Video existiert eigentlich gar nicht?“, fragte Sina etwas verdutzt . „Super, wie kommst du nun aus dieser Nummer wieder raus?“ – Denk nach Jonathan, denk nach, aber es half nichts, er spürte auf einmal diese starke Anziehungskraft von Sina, ihre langen blonden Haare wehten im Abendwind und ihr Schal versprühte einen angenehmen Duft von Frühlingsblumen im Winter. Jonathan fragte sich warum er das nicht schon eher so intensiv wahrgenommen hatte, nun kam ihm das so vor, als würde er sie schon Jahre kennen. Also entschied er sich kurzerhand dazu, die Katze aus dem Sack zu lassen und Sina einen weiteren Teil seiner Vergangenheit zu offenbaren. Sie wusste bereits aus seinen vorherigen Erzählungen, dass er keine einfache Kindheit hatte, doch wenn er ihr jetzt diese Geschichte nahe brachte, das würde ihr wahrscheinlich eine große Angst einjagen. Sie setzten sich auf eine Bank an einer verlassenen Ecke im Park und Jonathan nahm all seinen Mut zusammen und erzählte ihr von den Dämonen, ihn seinem Kopf, die stets lauerten, um Besitz von ihm zu ergreifen und ihn dann, grausame Dinge tun ließen. Eine komische Stille umgab die beiden. Schweigen. Der kalte Wind ließ Jonathan frösteln, und er traute sich nicht, Sina anzusehen, zu gespannt wartete er auf eine Reaktion von ihr. „Du hast was getan?“ schrie sie plötzlich entsetzt auf. Panik machte sich auf Jonathans Gesicht breit. „ Scheiße“ dachte er, am liebsten hätte er fluchtartig den Park verlassen, doch Sina stand abrupt auf und kramte wie wild in ihrer Handtasche, und holte hastig einen Flachmann heraus, und drückte in Jonathan fest in die Hand. „Gott sei Dank“, schoss es ihm durch den Kopf. Alkohol konnte er in der Tat jetzt gut gebrauchen, sein Mund war nämlich Staub trocken. Jonathan war zwar etwas verdutzt über ihre Reaktion, dachte sich aber nichts dabei und setzte den Flachmann an, um zu trinken. „Trink“, befahl sie ihm schroff. „Und damit vergessen wir diese ganze Scheiße jetzt hier. Du hast mir, nie davon erzählt“, sagte sie weiter und nahm Jonathan in den Arm. „Oh Sina“, dachte Jonathan. Er hätte mit so einer Antwort ihrerseits nicht gerechnet. Dabei schämte er sich so sehr dafür was er damals getan hatte. Er setzte erneut den Flachmann an und der Wodka verströmte einen angenehmen Duft, direkt in seine Nase. Der Alkohol spülte den dicken Kloß in seinem Hals runter. Er merkte sofort die Wärme in seiner Magengegend, den Duft ihrer Haare, ihre wohltuende Umarmung, aber auch den stark auftretenden Schwindel in seinem Kopf. Er merkte wie ihm komisch wurde, Übelkeit kam dazu und er hatte das Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren. „W-w-as, h-a-a-st du mir ge-ge-geben ?“, stammelte Jonathan. Hilflosigkeit überkam ihn, er blickte noch verschwommen in Sinas Augen, die nur so funkelten, wie die Eiskristalle an der Frontscheibe eines Autos, dabei erkannte er noch ihr plötzlich auftretendes diabolisches Grinsen und dann wurde es schwarz um Jonathan Feld, und es begann ein weiteres dunkles Kapitel in seinem Leben. Wie von einem Zug überfahren erwachte Jonathan, auf einem Stuhl in einem altem Container. „Was zum Teufel“?, stammelte er und schaute sich verdutzt um. Es war bitter kalt, es roch nach Unrat, modrig; und irgendwo tropfte Wasser von der Decke. Der Container hatte an einigen Wänden kleine Löcher, die vom Rosten stammen mussten. Er musste in der Nähe eines Hafens sein, er hörte in der Ferne einige Möwen kreischen und er glaubte ansatzweise den Geruch von Salz und Fisch wahrzunehmen. Seine Fußknöchel und Hände waren stramm am Stuhl zusammengebunden und er saß nur noch mit seiner Boxershorts bekleidet in der eisigen Kälte. „Hallo, ist da jemand?“ – „Sina ?“ – „Was wird hier für ein Spiel gespielt ?“, rief er in den dunklen Container hinein. Er merkte wie sein Schädel brummte, und er hatte das Gefühl, jeden Moment kotzen zu müssen, als plötzlich ein harter Gegenstand an seinen Kopf prallte. Der fürchterliche Schmerz schoss wie ein elektrischer Stromschlag durch seinen Körper, und Blut floss über seine Schläfe hinunter. Er musste sich zusammenreißen, nicht ohnmächtig zu werden. „Halts Maul,“, hörte er eine Frauenstimme sagen. Sie klang etwas höher und viel energischer als zuvor. „Sina ?“, stammelte Jonathan hervor, „was tust du hier ?“ , fragte er sie, und starrte sie dabei völlig entsetzt an. Jonathans und Sinas Blicke trafen sich, er sah in ihre Augen, die wie Feuer brodelten, dieser feste Blick, voller Entschlossenheit und Kampfeslust. Ihre ganze Mimik und Gestik waren eine andere und sie versprühte eine Art von maskuliner Aura, so was hatte er noch nie zuvor bei ihr gesehen. Ihre offenen Haare waren stramm zu einem Zopf nach hinten gebunden und sie war mit einem schwarzen Overall gekleidet. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Brechstange fest umklammert und sie sah Jonathan dabei direkt in die Augen, voller Wut und Hass. „Wie schön, dass ich doch noch die Gelegenheit bekomme, dir endlich mein wahres Gesicht zeigen zu können!“, begann Sina in ihrer schrillen Stimme an zu sprechen. Jonathan versuchte sich zu konzentrieren, um eine Erklärung für all das hier zu finden. Er wollte gerade antworten, da traf ihn ein weiterer Schlag mitten ins Gesicht und er schmeckte sofort den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund. Der stichartige Schmerz, der seinen Körper durchfuhr, konnte nur bedeuten, dass sein Kiefer und seine Nase gebrochen waren. Blut quoll aus Mund und Nase und machten das Atmen deutlich schwerer. „Bist du von allen guten Geistern verlassen ?!“ röchelte Jonathan zurück. „Was zum Henker habe ich DIR getan ?“. Er spuckte einen Schwall Blut auf den Boden und als er den Kopf wieder anhob, war Sinas Gesicht ganz dicht vor seinen Augen und zum ersten Mal seit langem, spürte er wieder unheimliche Angst. „Ja, was hast DU mir nur angetan, was nur ?. Das ist hier die große Preisfrage , hmm?“, antwortete Sina etwas süffisant und spuckte Jonathan dabei mitten ins Gesicht. Er spürte ihren warmen Atem auf seiner Haut. „Lass mich deinem kranken Hirn etwas auf die Sprünge helfen, da du dich ja gerade, angeblich, an nichts erinnern kannst!?“ Jonathan versuchte sich verzweifelt einen Reim darauf zu machen, was Sina im Schilde führte, da überkam ihm ein schrecklicher Gedanke….„ Erinnerst du dich an die kleine Hanna…, an die Nacht im Winter 2008, die alte, verkommende Hütte am Stadtrand, wo die Junkies sich trafen, um sich den letzten Schuss zu spritzen ?“ begann Sina weiter. Jonathan betrachtete Sina von oben bis unten, Nein, dies war unmöglich, sie konnte nicht Hanna sein, oder war sie es doch ?! Bei diesem Gedanken schauderte es ihn vor Entsetzen. Sina zog den Stuhl näher zu sich heran und beugte sich zu seinem rechten Ohr runter und flüsterte: „Ich… bin…. Hanna…!“ Jonathan spürte, wie die Kälte in ihm aufstieg, sein Herz raste, sein Brustkorb wurde schwer und als er wieder in Sinas alias Hannas Gesicht blickte, traf es ihn wie ein Blitz. In seinem Kopf begann es wie eine Maschine zu rattern, Erinnerungen schossen, wie kleine Insekten, um eine Lampe in seinem Kopf hin und her. Plötzlich sah er sich wieder, damals in der Hütte, an dem kalten Winterabend, mit dem jungen Mädchen, …Hanna…, an seiner Hand – die Dämonen in ihm, die damals noch sein Leben bestimmten. Ihm wurde schlecht und er übergab sich direkt vor ihren Füßen. „Du hast mich vergewaltigt!“, schrie Hanna voller Zorn ihm entgegen. Jonathan hauchte nur ein klägliches „Es tut mir Leid“, so sehr schämte er sich für das was er ihr damals angetan hatte. Aber Hanna lachte schallend und zertrümmerte Jonathan mit voller Wucht beide Kniescheiben. Jonathan schrie vor Schmerzen und wandte sich auf dem Stuhl hin und her. „Bitte, hör auf, flehte er sie an, bitte!“ Doch Hanna wollte nicht aufhören. „Ich habe dir vertraut, …komm ich zeig dir mal eine coole Hütte.., äffte sie Jonathan dabei nach, „du dachtest wohl mich würde eh keiner vermissen was? „keine Eltern, lebt im Heim und haut ständig ab?!“ Jonathan starrte sie ungläubig an, wie war dies Möglich? Er war sich so sicher gewesen, dass sie damals in der Hütte nicht überlebt hatte. Er hatte keinen Puls mehr bei ihr gefühlt, sie lag da, auf dem dreckigen Boden, und rührte sich nicht mehr. „Weißt du wie es ist,im Winter, wenn der kalte Schnee auf deine geschundene, mit Wunden übersäten Haut fällt, wie schmerzhaft das ist ?“ , fragte Hanna ihn zynisch. Doch Jonathan hatte eh keine Gelegenheit zu antworten, denn Hanna war ganz in ihrem Element: Sie erzählte ihm, dass einer der Junkies sie fanden und den Krankenwagen riefen, wo die Rettungssanitäter ihr nach zweimaliger Wiederbelebung, sie schließlich doch noch retten konnten und sie ins Klinikum Eppendorf brachten. Jonathan war völlig schockiert von dem was er da gerade hörte. Aber nun stand sie hier und jetzt vor ihm, wahnsinnig und rachsüchtig zugleich, und mit voller Überzeugung ihn töten zu wollen. Jonathan wusste, dass er ihr ausgeliefert war, er sah kaum eine Möglichkeit sich aus dieser Lage zu befreien. „Hanna“, wimmerte Jonathan und versuchte dabei so reumütig wie möglich zu klingen: „ Ich war damals nicht ich selbst, ich kämpfte innerlich gegen meine Dämonen, die mich immer wieder abscheuliche Dinge tun ließen !“. Jonathan sah sie an, er wusste seine Erklärung für all das war lächerlich und würde Hanna nicht annähernd besänftigten. Wie konnte er nur Mitleid von ihr Erwarten, für das was er ihr angetan hatte. Jonathan erinnerte sich noch genau an die Tat in der schäbigen Hütte. So sehr er auch versuchte sie zu Verdrängen. Damals hatte er sie unter einem Vorwand hier hergelockt, und als der richtige Moment kam, war er wie ein Tier über sie hergefallen. Bei dem Gedanken rannten die Tränen über sein Gesicht. Er hasste sich so sehr dafür, und am liebsten wäre er an jenem Abend gestorben. Hanna stand nun etwas entfernt von ihm, und zog den Reißverschluss ihres Overalls Stückchen für Stückchen hinunter. Dabei trat sie wieder näher zu ihm heran, und da erblickte er die Narben an ihrer Brust, auf ihrem Bauch und die entsetzliche Brandwunde auf ihrem Venushügel. Jonathan weinte nun bitterlich, er brachte kein einziges Wort heraus. Er erinnerte sich nur an die Schmerzen, die er ihr zu geführt hatte, die Gewalt die er an ihr ausließ und sie jederzeit spüren ließ, sie könne jeden Moment sterben. Und als das Martyrium zu Ende war, ließ er sie einfach in der Hütte zum Sterben zurück. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden Hilfe zu holen. Nein, Jonathan hatte Angst, Angst davor, was danach kommen könnte, wenn er sich gestellt hätte. Er geriet in Panik, die Situation überforderte ihn, er wollte das doch alles nicht, aber die Dämonen in seinem Kopf waren an jenem Abend geistesgegenwärtig, sie waren viel stärker als er, und mit einem Schlag waren sie bereit gewesen, dass Leben von Hanna zu zerstören. Jonathan hatte sich danach geschworen, nicht wie sein Vater werden zu wollen. Also rannte er weg, wie ein räudiger Hund verschwand er in die dunkle, eisige Nacht hinein auf der Suche nach sich selbst. Und nach mehrfach gescheiterten Selbstmordversuchen, wurde er in eine Spezialklinik für dissoziative Störungen eingeliefert, wo ihm schließlich Dr. Tauber begegnete und ihm versprach, seine Vergangenheit aufzuarbeiten, um endlich ein vernünftiges Leben führen zu können. Hanna stand mit bebendem Körper vor ihm, ihre Atmung war schwer und ihr Herz raste in ihrer Brust. „Fragst du dich nicht wie ich dich gefunden habe ?“, hauchte sie ihm höhnisch entgegen, und verzog das Gesicht dabei zu einer Grimasse. Für Jonathan war all dies immer noch nicht greifbar, er fühlte sich wie in einer Blase gefangen, wo er nur dumpf die Worte Hannas hörte. „ Ich befand mich, seit jener Nacht, bis vor circa acht Monaten, in der Klinik für irgendwelche Vollidioten, aber da mein Vater, Naja, wie soll man sagen, einen guten Draht zum Direktor der Klinik pflegte, durfte ich endlich diese beschissene Anstalt verlassen!“ Jonathan blickte ungläubig in Hannas Gesicht. Sagte sie gerade Vater ?! Klinik ? Was zum Teufel…Jonathans Kopf drohte fast zu explodieren, so sehr versuchte er gerade das Geschehene zu begreifen. Einen wahr gewordenen Alptraum erlebte er hier gerade. Warum hatte er nur Sina alias Hanna nicht früher erkannt? Diese Frage, und noch einiges mehr beschäftigte ihn, doch er ahnte , dass er nie eine Antwort darauf kriegen würde. Hanna hatte sich bereits den Reißverschluss ihres Overalls wieder hochgezogen und kam erneut auf Jonathan zu. Sie bückte sich ein letztes Mal runter zu ihm und zerriss Jonathan mit einem Ruck die Boxershorts, zündete sich dann eine Zigarette mit den Worten an: „Wie du mir so ich dir“,und drückte die Zigarette direkt auf Jonathans Penis aus. Ein gellender Schrei hallte durch den Container. Der Schmerz war noch unerträglicher als vorher. Hanna trat mit voller Wucht gegen den Stuhl, so, dass dieser umfiel und Jonathan seitlich auf dem Boden lag. „ Hanna, es reicht jetzt!“, raunte eine, aus dem hinteren Bereich des Containers, tiefe Männerstimme ihr entgegen. „Was zum Henker…“, dachte Jonathan. Wer war auf einmal der fremde Mann? Die Stimme kam ihm seltsam vertraut vor. Er sah im Augenwinkel noch die Brechstange in Hannas Hand, bevor sie ihm ein weiteres Mal damit kräftig ins Gesicht schlug. „Verreck du Arschloch“, hörte er Hanna ein letztes mal sagen. Jonathan hustete, Blut quoll aus Mund und Nase, ihm war eisig kalt, sein Körper schmerzte, er zitterte wie Espenlaub und sein Herz stolperte unaufhörlich in seiner Brust. Jonathan kämpfte dagegen an nicht ohnmächtig zu werden, und als der fremde Mann näher ins Licht trat, um sich von Jonathan augenscheinlich zu verabschieden, blickte er in die kalten Augen, seines Psychiaters Dr. Gerald Tauber. Blankes Entsetzten überfuhr ihn, er war wie gelähmt, bis auf ein Krächzen verebbte seine Stimme in der trockenen Kehle. Dr. Tauber sah ihn direkt in die Augen, lächelte süffisant, und kehrte ihm anschließend den Rücken zu. Stille trat ein, und als er nur noch das verriegeln der Türen hörte, wusste er, die Hölle war wieder über ihn gekommen und es gab diesmal kein Entkommen.

6 thoughts on “Kalter Schnee

  1. Hi Jenny,
    ziemlich krasses Thema in der Geschichte, aber auch eine ziemliche Wendung dass Sina so eine Psychopathin sein kann.
    Fand es ziemlich spannend.
    Es wäre nur schön, wenn du Absätze eingebaut hättest, würde das Lesen einfacher machen 🙂

    VG
    Anne

  2. Moin Jenny,

    krasses Ding! 😱

    Lies sich super flüssig lesen und die Worte die du benutzt hast, starteten das Kopfkino.

    Hamburg hat tolle Geschichten zu erzählen.

    Bei der Erwähnung des Katzenvideos musste ich schmunzeln.

    Insgesamt ein richtig guter Plot und der Twist bzw. die Verwandlung von Sina kommt unerwartet. Gut erzählt.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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