BoenischyMein Leben in deiner Hand

 

„Verdammt. Wo war es?“ hektisch durchsuchte sie ihre Handtasche. „Es muss im Auto raus gefallen sein. Es darf einfach nicht weg sein“ sagte sie zu sich, als sie immer schneller den Weg hinunter rannte, raus auf die Straße und direkt auf ihren roten Golf zu. Das alte Auto, ein Überbleibsel aus ihrem früheren Leben, gehörte vor Jahren ihrer Oma. Aber sie hatte wenig Zeit, um über ihre geliebte Oma oder ihr früheres Leben nachzudenken. Es galt jetzt nur eins, nämlich ihr Heiligstes wieder zu finden. Ihre Panik und Erschrockenheit darüber, es nicht wie sonst immer in der rechten Hosentasche ihrer Jeans gefühlt zu haben und auch nach dem Auskippen des gesamten Inhaltes ihrer großen Handtasche keinen Hinweis auf den Verbleib zu finden, brachte wieder einmal diese unsäglichen Schweißausbrüche zutage. „Verdammt. Wo ist es?“ fuhr sie wieder laut aus. Die alte Dame, die gerade vorüber ging, drehte sich nach ihr um. Zehn Minuten später erkannte sie, dass es weg war. Es war einfach nicht da. Sie kroch aus dem Inneren ihres Autos, schloss die Augen und wusste, dass dies der Beginn einer weiteren Katastrophe ihres 47-jährigen Lebens war.

Zur gleichen Zeit, nur ein paar Straßen weiter, bog eine Frau mit modischem blonden kinnlangen Bob in ihrem schwarzen SUV auf den Hof ihres Reihenendhauses. Die Lehrerin, Anfang 60, war Mutter von zwei erwachsenen Kindern, die aber beide noch zu Hause wohnten. Zusammen mit ihrem Ehemann und Vater der beiden Kinder, eine junge Frau und ein junger Mann, lebte sie auf guten 160 qm auf drei Etagen. Sie führten ein Leben, dass allgemein hin als ein gutes Leben betrachtet wurde. Es rumpelte wie immer ein wenig, als die Lehrerin mit ihrem schicken Wagen, den ihr Mann ihr zum 55. Geburtstag geschenkt hatte, auf den Hof fuhr. „Ach Mensch, eine Garage wäre ja schon eine tolle Sache“, wie fast jedes Mal dachte sie daran. Eine Garage würde alles perfekt machen. Die Nachbarn hatten schließlich auch eine. Die Meyers zwei Häuser weiter hatten sogar zwei. „Naja, ich werde das Thema beim Abendessen mit Wolfgang mal wieder ansprechen. 9000 Euro sind ja nun wirklich kein Geld für uns und außerdem würde es mich wirklich glücklich machen“ Diese Gedanken verfolgten sie auch noch, als sie den kleinen Schotterweg am Haus vorbei Richtung Haustür lief. Da stieß ihr Fuß gegen etwas, was mitten auf dem Weg lag. Erstaunt sah die Lehrerin nach unten. „Oh“ entfuhr es ihr da nur. Ihr Blick fiel auf ein recht neues Samsung-Handy. Soweit sie erkennen konnte, musste es das aktuelle sein, gerade erst ein paar Monate auf dem Markt. Keiner aus ihrer Familie hatte ein Android-Gerät, sie alle waren Apple-Verfechter. Beim Hochheben sah sie, dass es noch entsperrt war und der Kamera-Modus aktiviert. Neugierig, um vielleicht auch etwas über den Besitzer herauszufinden, tippte sie auf das letzte gemachte Foto, das man am unteren Rand erkennen konnte. Ein Foto ihrer Haustür. „Okay. Vielleicht jemand, dem unser Eingangbereich gut gefällt. Der war auch wirklich teuer und sieht entsprechend aus.“ Noch froh über den Tipp ihrer Chefin am Gymnasium, diesen Anbieter von Haustüren genommen zu haben, wischte sie immer weiter, Foto um Foto. Mit jedem wurde sie blasser. „Das konnte doch nicht sein“ war einer ihrer ersten Gedanken. Aus einer Mischung von Überraschung und Erschrockenheit wurde letztlich Angst. Das letzte Foto in dieser Reihe, es waren alles welche aus diesem Monat, zeigte sie beim lustigen Abend mit den Nachbarn, als sie alle etwas zuviel getrunken hatten und sich dann über kreuz mit den jeweils anderen Partner etwas….amüsiert hatten. Was sollte das? Wo kommt das her? Wem gehörte es? Warum zum Teufel war die Lehrerin allem Anschein nach die Hauptperson dieser unendlich vielen Fotos. Ein Blick in das Fotoalbum des Handys zeigte: hier interessierte sich jemand schon seit vielen Monaten für sie. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, ihr Atem ging schneller, ihr wurde schwindelig. Ein letzter Gedanke, bevor sie auf ihrer Treppe vor der Haustür in ein schwarzes Nichts fiel, war so real wie die Pferdeäpfel vorn am Reiterhof am Kreisel der Kleinstadt, in der sie lebte: Dies war der Beginn einer Katastrophe, der ersten, in ihrem 61-jährigem perfekten Leben.

Erschöpft setzte sie sich auf den kleinen Absatz vor ihrer Wohnungstür. Sie zitterte und das Schwitzen war noch stärker geworden. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun könnte. Den Weg zurück fahren? Zum x-ten Male ihre Tasche oder ihr Auto auseinander nehmen? Nein, sie wusste genau, dass sie es verloren hatte. Im Winter, kurz nach Weihnachten, hatte sie es sich erst gekauft. Es machte einfach bessere Fotos. Schärfer, näher dran, ohne dran zu sein am Foto-Objekt. Einfach perfekt. Ein paar Monate alt erst, aber bereits so viel von ihrem Leben gespeichert. Wobei… war es ihr Leben? Nein. Das wurde ihr in diesem Moment wieder einmal klar. Wie man es drehte und wendete – es war nicht ihr Leben. Es war das Leben, welches sie hätte leben sollen. Eigentlich. Der Gedanke an ihre Oma und ihr Leben „davor“ raubte ihr den Atmen. Sie musste mehrmals schlucken, um die Tränen und den Gedanken an ein „Was wäre, wenn…“ zu verdrängen. Aus dem Inneren ihrer Wohnung, ihrer Realität, drang ein dumpfer Knall. Als sei etwas zu Boden gefallen. Schwer seufzend stand sie auf. Sie wusste, dass er es war. Immer wieder passierte es. Es war ihr Schicksal. Sie war selbst Schuld, dass sie diese Bürde nun tragen musste. Immerhin hatte sie wieder einmal versagt. Er hatte Recht behalten. Auch dabei hatte sie wieder einmal versagt. Eigentlich hätte sie es nach ihrem missglückten Versuch verdient, dass er sie wieder „zurecht rückte“. Zurechtrücken. So nannte er es immer. Doch zumindest das war nun für immer vorbei. Nie wieder würde sie jemand „zurecht rücken“. Sie schloss die Wohnungstür auf. Erdgeschoss, 3 Zimmer, Einbauküche und Terrasse – wenigstens das war etwas, was sie ein wenig strahlen lies. Ihre Wohnung, die sie „danach“ anmieten musste, gefiel ihr. ER hatte dazu nichts zu sagen. Er konnte zwar noch sprechen, aber wirklich etwas dazu sagen – nein. Nicht mehr.

Einatmen, ausatmen. Die Hand auf der Klinke zu seinem Zimmer, zählte sie bis drei- und landete in ihrem Leben.

Die Lehrerin wusste nicht, wie lange sie ohnmächtig war. Als sie die Augen aufmachte, standen ihre Kinder und ihr Mann mit besorgten Gesichtern um sie herum. Als sie sich langsam aufsetzte, dachte sie noch, sie hätte „das“ geträumt. Was für ein Traum. Jemand macht monatelang Fotos von ihr, in allen möglichen Situationen. Selbst in der Badewanne sitzend hatte sie ein Foto von sich entdeckt. Lächelnd, weil sie sich auf diesem etwas entfernter aufgenommenen Bild doch recht gut gefiel, stahl sich ein Funken Realität in ihr Bewusstsein. Es wurde ihr allmählich klar, so wie sie Schluck für Schluck das gereichte Wasser austrank, dass es kein Traum war. Sie hatte etwas gefunden. Etwas, was aus ihrem Leben berichtet. Was ihren Tagesablauf zeigt. Etwas, was Dinge zeigt, die die Nachbarn lieber nicht wissen sollten und die nur was für Erwachsene waren. Aber es zeigte auch noch etwas: ihr perfektes Leben.

Die Wut in seinen Augen war groß. Voller Hass sah er sie an. Ein Häufchen Elend, so wie er da lag. Er wollte das zurück, was er sein Leben lang hatte, vor allem über sie. Doch er musste einsehen, sprichwörtlich auf dem Boden der Tatsachen liegend, auf dem Boden ihrer Wohnung, dass er sie verloren hatte – er hatte sie nicht mehr. Nicht mehr über sie, aber auch nicht mehr über sich selbst. Er hatte die Kontrolle verloren. Seit diesem Abend, als das Miststück sich über ihn her gemacht hatte. Er kam an diesem Tag mittags zurück von seiner …. Nebenbeschäftigung. Er grinste innerlich beim Gedanken daran. Wie lange hatte er sie hinter´s Licht geführt. Waren es sechs Wochen, oder acht? Ach, es war auch egal. Es hatte ihm Spaß gemacht. Sie ahnte nichts. Und selbst wenn, hätte sie ihn nicht darauf angesprochen. Und wenn doch auf einmal etwas Hirn in ihr da gewesen wäre und sie sich gegen ihn gestellt hätte, dann hätte er sie wieder zurecht gerückt. Ab und an brauchte sie das. Auch als sie wütend wurde, als er sie anrief am Tag nach Neujahr. Er war mit seiner „Nebenbeschäftigung“ in der Stadt. Bummeln. Hatte er sich schließlich verdient. Er wollte sich neu einkleiden. So ein gut gebauter Mann wie er es war, brauchte auch was Nettes untendrunter. Nicht mehr diese ollen „Eierquetscher“, wie seine Nebenbeschäftigung seine Unterhosen nannte. Die war nämlich deutlich jünger und stand voll auf diese engen Boxershorts. Da er bisher immer sie beauftragte, seine Wäsche zu kaufen, natürlich nach seien Vorgaben, wusste er nicht, welche Größe er trug. Also rief er zu Hause an, um sie zu fragen. Eine gute Frau weiß das doch. Natürlich wollte er ihr nicht sagen, mit wem er dort in der Unterwäscheabteilung stand. Manchmal kommt es nun aber eben anders. Es rutschte ihm mehr raus, als beabsichtigt, sie verstand komischerweise sofort und wurde wütend. Obwohl sie hätte froh sein können. Er war nämlich echt scharf auf seine Nebenbeschäftigung und hatte mit dem Gedanken gespielt, sich von ihr zu trennen. Als er nach Hause kam, musste er sie deshalb erstmal wieder zurechtrücken. Wieder hatte sie ihm den Tag versaut, obwohl der Sex am Morgen mit seiner Nebenbeschäftigung schon echt gut war und das gemeinsame Bummeln danach in der Stadt die Sache abrundete.

Es lief dabei eigentlich richtig gut zwischen ihm und ihr, das muss man schon sagen. Kennengelernt hatten sie sich bei einer Freundin von ihr. Er war so begeistert, hatte sich in ihre Stimme am Telefon verliebt und die gemeinsame Freundin gebeten, sie noch dazu zu holen. Lustig war es an dem Abend. Zwei Tage später, auf dem Rummel, sind sie zusammen gekommen. Was war es schön zwischen ihnen. Sie 17, er 19. Wie jung sie damals waren. Warum fing sie nur damit an, nicht mehr auf ihn zu hören? Sie wollte unbedingt ihr Ding machen. Er war sicher, über kurz oder lang hätte sie sich von ihm getrennt. Das musste er verhindern und sie eben etwas „zurechtrücken“. Doch das waren alles Geschichten von früher. Nun, hier, Jahre später, war es vorbei mit ihm. Nicht ganz, das hatte das Miststück nicht geschafft. Sie hatte einmal mehr versagt. Nicht mal das konnte sie richtig. Aber immerhin hatte sie ihn nach wie vor am Hals. Er konnte sie nicht mehr aktiv zurechtrücken, aber er war bis an ihr Lebensende ihre Last. Ihr Schicksal. Er war ihr Leben. Er. Niemand sonst.

Er lag am Boden. Nein, sie musste auch jetzt wieder einsehen, dass er nur auf dem Boden lag. Er. Niemand sonst. Er, dessen Augen sie voller Hass ansahen. Sie atmete wieder langsam ein und aus, bückte sich zu ihm. Er war ihr Schicksal. Sie würde in diesem Leben sterben. So viel Hass kroch aus ihr heraus, als sie ihn hoch hob und in seinen Rollstuhl setzte. Ein überheblicher Blick streifte sie. Sie wusste genau, was er dachte. So wie jeden Tag, an dem sie ihn in den letzten Monaten pflegte. Er erinnerte sie daran, dass sie versagt hatte. Damals. An dem Tag, an dem alles anders werden sollte. Es gab wieder einmal Streit. Er hatte sie aus der Stadt angerufen und wollte wissen, welche Unterhosengröße er trug, was sie unglaublich fand und ihn glatt verdächtigte, eine Affäre zu haben. Sie hatte wieder einmal „nicht aufgehört“. Sie hatte gemeckert und einfach nicht aufgehört, so sagte er es immer. Sie stand wie so oft in der Tür zu seinem Büro, an den Türrahmen gelehnt. Sie wollte wieder einmal „Dinge besprechen“. Immer sagte er ihr, dass sie zu viele Monologe hielt. Nur sich selbst wolle sie reden hören. Bis er aufstand und wie so oft auf sie zu kam. Wie so oft wich sie nach hinten aus. Doch, so erinnerte sie sich an diesen Tag, da war auf einmal hinter ihr das Sofa. Sie fiel darauf, er auf sie. Er saß auf ihr, setzte sich mit seinen Beinen auf ihre Arme, die nun fest an ihren Körper gedrückt waren. Bewegen konnte sie sich nicht mehr. Egal, wie oft er sie in den vergangen Jahren ihrer Beziehung bereits zurechtgerückt hatte, erst in diesem Moment wusste sie, was Todesangst war. So schlimm auch alles seit ihrem Kennenlernen immer wieder gewesen war, solche Angst um ihr Leben hatte sie bis dahin nie. Er beugte sich über sie, seine Hände umschlossen ihren Hals – er drückte zu. Sie wehrte sich.Zappelte bis sie hoffte, er würde aufhören, würde sie sich einfach nur gefallen lassen, was er da tat. Bis er seine Hände etwas löste und sagte „Siehst du? So ist es, wenn du mir die Luft zum Leben nimmst. Nicht schön, oder?!“. In diesem Moment wurde sie mutig. Und rief das erste Mal in ihrem Leben um Hilfe. Die Terrassentür war auf. Sie hatten es doch schön. Ein hübsches Haus, auf drei Etagen. Vielleicht,irgendwann, wäre es auch möglich, ein Haus zu kaufen, nicht nur zu mieten. Diese Reihenmittelhäuser waren auf lange Sicht doch etwas beengt, vor allem, wenn man sich den schmalen Garten ansieht und Fenster an den Seiten wären auch schön. Diese Gedanken begleiteten sie verrückterweise, als sie um Hilfe rief. Laut. So laut sie konnte. Er war so überrascht, dass es ihr mehrfach gelang laut zu rufen. Bis er ihr die Hände wieder auf den Hals und auf ihren Mund presste. Gleich kommen die Nachbarn. Die sitzen ja draußen. Mit ihren beiden Kindern. Es war ihr das erste Mal egal, was die Leute über sie sagen könnten, würden sie jetzt gleich zu Hilfe kommen. Doch warum kamen sie nicht? War sie nicht laut genug? Nein, sie hatte richtig geschrien. Der Druck an ihrem Hals wurde stärker, Lichtblitze durchzuckten sie, bevor sie mit Blick zur weit geöffneten Terrassentür langsam das Bewusstsein verlor.

Sie schüttelte sich. Sie hatte ihn wieder in seinen Rollstuhl gehoben, konnte sich aber nicht daran erinnern. Zu mächtig waren die Gedanken an diesen einen Tag, der ihre Rettung sein sollte. Der Tag, der ihr endlich ihre eigene Identität wieder schenken sollte. Wer war sie denn noch, seit ihrem Kennenlernen? Sie war eine junge Frau, voller Elan und Lebensfreude. Damals. Mit 17. Sie tanzte so unglaublich gern. Ihren Abiball würde sie nie vergessen. In Erinnerung sah sie eine hübsche junge Frau in einem langen grauen Kleid. Gehäkelt. Günstig, aber man sah es ihm nicht an. Sie strahlte über das ganze Gesicht, denn mit dem Abi in Physik und Deutsch in der Tasche wollte sie die Welt erobern. Sie hatte sich immer als Frau auf der Bühne, im Rampenlicht, vielleicht als Nachrichtensprecherin oder als Stewardess gesehen. Als Schulsprecherin stand sie bereits vor 1200 Schülern und Lehrern und sprach von Ideen, Visionen, von Plänen und hatte gleichzeitig ein Ohr für alle Sorgen und Probleme – ob Schüler oder Lehrer. Ja, sie war eine starke junge Frau. Sie bemerkte die Tränen in den Augen. Das war vorbei. Sie hatte ihre Identität verkauft. An ihn. Sie war niemand mehr. Sie hatte nichts mehr. Nur noch dieses Leben. Am Tag ihres Abiballs waren nur Schüler und Schülerinnen geladen. Er gehörte nicht dazu. Während sie sich die Seele aus dem Leib tanzte, saß er vor der Sporthalle in ihrem roten Golf und wartete auf sie. Als sie nur noch mit 10 oder 12 anderen auf der Tanzfläche tanzte, kam er voller Wut hereingestürmt, machte ihr eine Szene und verlangte, dass sie mit ihm käme. Damals waren sie noch nicht allzu lang zusammen, sie dachte, er mache einen Scherz. Natürlich tanzte sie weiter, mittlerweile barfuß, so wie alle anderen. Er schrie gegen die Musik an, dass sie ihn den ganzen Abend über nicht beachtet hätte, ihn allein im Auto gelassen hätte, sich nicht um ihn gekümmert hätte. Letztlich stieg sie glücklich, gleichzeitig wütend aber auch das erste mal ängstlich mit ihm ins Auto. In dieser Nacht verlor sie ihre Identität. Verlor sie alles, was sie bisher ausmachte. Manchmal wusste sie später nicht mehr, wie sie hieß, so oft nannte er sie bei anderen Namen, weil sie ihm besser gefielen, als ihr eigener richtiger Name.

Der Tag, der alles ändern sollte, war der Tag, an dem ihr niemand zur Hilfe kam. Mittags wurde ihr der Hals zugedrückt. Abends rief sie den Notarzt. Weil sie versagt hatte. Weil ihr niemand geholfen hatte. Niemand. Dabei waren ihre Nachbarn so hoch angesehene Leute im Ort. Ein Lehrerehepaar. Zwei wohlgeratene Kinder, mittlerweile erwachsen. Beide wohnten noch zu Hause. Diese goldige Familie, saß an diesem Morgen auf der Terrasse. Sie mussten sie gehört haben, wie sie um Hilfe rief. Wie sie um ihr Leben kämpfte, um sich selbst. Irgendwann hatte er von ihr abgelassen, wahrscheinlich hatte er etwas Angst bekommen, als sie sich nicht mehr bewegte und ohnmächtig geworden war. Es war auch egal. Sie hatte diesen Moment des Angriffs überlebt. Zumindest körperlich. Aus ihrem Badezimmer heraus hatte sie einen guten Blick in den Garten ihrer Nachbarn. Dieser glücklichen tollen Familie, die alles hatte, was damals, mit 19 und dem Abi in der Tasche, auch auf ihrer Agenda gestanden hatte. Sie hatten sich immer gegrüßt, manchmal ein wenig geplaudert. Aber mehr hatte sie sich nie zugetraut. Sie war ja nicht wie diese Leute. Sie war nicht die tolle Gymnasiallehrerin. Sie hatte keine Kinder, wohlerzogen. Sie hatte nichts. Nur diese Beziehung. Und in der wurde ihr immer wieder klar gemacht, dass sie eben genau das war: ein Nichts. Das es zu nichts bringen würde. Immer, wenn es für sie gut lief, sie etwas wirklich tolles gemacht hatte, wusste er es klein zu reden. Die Jahre hatten ihr übriges gebracht. Als sie da stand, in ihrem Bad, einen kühlen Umschlag um ihren geschundenen Hals gewickelt, wusste sie, dass sie nur eine Wahl hatte. Sie sah auf ihre Narben, am rechten Fuß – eine Scherbe, damals kurz vorm Urlaub. Sie war auf der Flucht vor ihm hineingetreten. Sie hatte ihrer Fußsohle sämtliche Muskeln und Sehnen durchtrennt. Oder an ihrem Schienbein die große Narbe. Vom Kampf mit ihm, als er sie gegen den Wohnzimmertisch schmiss und sie durch die Platte krachte. Sie sah ihre blauen Flecken, manche heller weil schon etwas älter, manche dunkelblau bis grünlich – ganz frisch. Er hatte sie so oft zurechtgerückt. An diesem Tag musste sie etwas tun. Niemand würde ihr glauben, hatte er ihr so oft gesagt. Seine Mutter hatte einmal zu ihr gesagt, dass sie ihn eben nicht immer reizen solle…. Die Nachbarn mussten auch eigentlich so oft etwas gehört haben, aber da niemals jemand das Gespräch mit ihr suchte, glaubte sie ihm, dass ihr niemand zuhören geschweige denn etwas von ihrer Geschichte glauben würde. In ihr wuchs eine Kraft. Während sie den ganzen Tag den Nachbarn im Garten zuhörte, die Lehrerin wollte so gern eine Garage und versuchte, ihren Mann davon zu überzeugen, verfestigte sich in ihr der Gedanke, dass sie ihm nur entkommen könnte, wenn er tot war. Sie war einerseits erschrocken über ihre eigenen Gedanken- wann war sie zu so etwas geworden? Aber andererseits war der Gedanke an ein Leben ohne ihn so berauschend und gleichzeitig beängstigend – immerhin hatte er ihr so oft gesagt, dass sie eine Versagerin sei und ohne ihn nicht überleben könnte. Aber das würde sie schaffen. In ihr keimte langsam die Hoffnung auf ein Leben, wie es ihre Nachbarn führten. Auf ein gutes Leben.

Wie sie ihn so ansah, in seinem Rollstuhl sitzend, ohne die Möglichkeit, sie zurechtzurücken, überkam sie das Gefühl der Verzweiflung. Wie an diesem besonderen Abend, als er an der obersten Treppenstufe auf der kleinen Leiter stand und eine Glühbirne auswechselte. Sie war zu blöd dafür, sagte er ihr noch, als sie die Leiter festhielt. Ob sie wenigstens das schaffen würde? Die Leiter zu halten. Es waren seine letzten Worte, bevor die zweite Hälfte seines Lebens beginnen sollte. Sie schloss die Augen und gab der Leiter den nötigen Schubs. Er fiel und fiel und fiel.

Die Lehrerin lag noch immer auf dem Sofa, auf dass ihr Mann sie gelegt hatte. Ihre Kinder hatten den ersten Schreck überwunden und waren froh, dass ihre Mutter anscheinend nur einen Schwächeanfall erlitten hatte. Das Handy in der Hand umklammert, zitterte sie wieder. Niemand bemerkte das Telefon und so erfuhr an diesem Abend auch niemand den wahren Grund des Zusammenbruchs. Überhaupt war das das erste Mal, dass sich etwas unvorhergesehenes in ihrer Familie ereignet hatte. Die Lehrerin wollte nur in ihr Schlafzimmer, sich hinlegen, nachdenken, Fotos ansehen. Unter dem Vorwand, Ruhe zu brauchen, ging sie die drei Treppen nach oben. Wie so oft musste sie beim Hochsteigen dieser ganzen Stufen an den Abend vor vielen Monaten denken, als ihre damaligen Nachbarn den Notarzt rufen mussten. Der arme Mann war alle Treppen hinunter gestürzt. Drei Stockwerke tief. Seine Frau sollte die Leiter halten. Aber das dumme Ding hatte sie nicht richtig in der Hand. Wie so oft, dachte die Lehrerin, hatte sie es verbockt. Der arme Nachbar war nicht gerade gesegnet mit seiner Partnerin. Die machte ihm das Leben so schwer, dass er öfter mal laut wurde. Musste er ja auch. Nachdenklich lag sie nun auf ihrem Bett, wischte von einem Foto zum nächsten. Wer zum Teufel hatte all diese Fotos gemacht? Ja, sie wirkte glücklich. Sie und ihr Mann. Sie hatten ein wahrlich gutes Leben. Sie standen mit allen Beinen im Leben, wussten was sie wollten und wie man es bekommt. Bis auf die Garage, dachte sie lächelnd. Aber eigentlich hatten sie wirklich ein gutes Leben.

Nun aber war da ein unbekanntes Gefühl, etwas was sie zuerst nicht greifen konnte. Aber langsam dämmerte es ihr. Es war Angst. Es waren Fotos aus sämtlichen Bereichen ihres Lebens. Derjenige, der sie gemacht hatte, wusste, wer sie war. Wer sie wirklich war, was sie tat, was sie beruflich machte, was und wen sie liebte, was ihr wichtig war. Sogar der Besuch bei ihrer Mutter letzte Woche im Heim war abgelichtet. Ihre Mutter mit den weißen Haaren, die sie seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr gefärbt hatte. Ihr wurde übel. Ein großes Knäuel im Magen breitete sich aus. Kroch durch sämtliche Bereiche ihres Körpers und ihr Herz schlug bis zum Hals. Ihre Brust schnürte sich zu, als würden Schlingen sich um sie legen und zuziehen. Sie bekam keine Luft mehr. Es war, als würde sie sterben. Als würde ihr jemand die Luft abdrücken. Verdammt, was war nur los heute? Sie musste in diesem Moment wieder einmal daran denken, dass ihre Nachbarin damals um Hilfe gerufen hatte. Die Lehrerin hatte den Tag nie vergessen. Es war ja der gleiche Tag, an dem abends der nette Ehemann die Treppe herunter fiel. Warum dessen Frau bloß um Hilfe rief? Sie hörte das Röcheln immer noch, als würde ihre Nachbarin keine Luft bekommen. „Hätte ich doch…“, die Lehrerin ließ den Gedanken stehen und sah wieder auf die Fotos. Voller ungutem Gefühl stand sie auf, sah aus dem Fenster und war der Meinung, gegenüber etwas aufblitzen zu sehen.

Nachdem sie ihn für den Abend versorgt hatte, hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie musste es finden. Sie musste das finden, was ihr in den letzten Monaten überhaupt einen Sinn in ihrem erbärmlichen Leben beschert hatte. Immer wieder hatte sie sich die Fotos angesehen, die sie im Laufe der Zeit gemacht hatte. Die ein Leben zeigten, welches sie hätte leben sollen. Hätte leben können, wäre ER damals nicht in ihr Leben getreten. Sie wollte zumindest sehen, wie es hätte sein können. Und dafür brauchte sie dieses verdammte Handy. Sie ahnte, wo sie es verloren hatte und sie war sich sicher, dass es bereits zu spät sei. Dennoch… Sie musste es versuchen. Denn dieses Handy, ihr Handy, zeigte nicht nur das Leben einer anderen, sondern auch den gescheiterten Versuch, aus diesem alten Leben herauszufinden. Man könnte auch auf den Gedanken kommen, dass es ein…. nein, diesen Gedanken verbot sie sich, da sie merkte, wie sehr die Schweißperlen schon wieder eine Party auf ihrer Stirn feierten. Hätte diese Lehrerin ihr damals nur geholfen…. Mit diesem hämmernden Satz in ihrem Kopf stieg sie in ihren geliebten alten Golf und machte sich auf den Weg.

Was war es nur,was sie da eben gesehen hatte? War es ein Aufblitzen eines Lichtes im Gebüsch? War es nur ein Auto? Die Gedanken an die Handyfotos machten es der Lehrerin unmöglich, sachlich an diesen Moment heranzugehen. Dabei war sie doch die Mathematikerin. Die Wissenschaftlerin. Aber es gelang ihr nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Immer wieder sah sie zu dem vermeintlichen Licht dort hinten. Sie wohnten in einer ruhigen 30er-Zone, es gab zwar Autos, die die Straße regelmäßig befuhren, aber eigentlich hielt sich der Verkehr in Grenzen. Deshalb war sie sich auch so unsicher, ob es sich um ein Auto handelte oder ob sie dort nicht doch jemanden mit einer Taschenlampe gesehen hatte. Das ungute Gefühl in ihr wuchs.Die Brust schnürte sich zu, es war, als läge ein riesiger Erdklumpen auf ihr. Kein Stein, sondern ein feuchter, modriger, nasser Erdklumpen, der sich in sie hineinfraß, in ihre Lunge drang förmlich der Geruch von Friedhof ein. Was passiert nur mit mir? Sie ahnte, dass es nichts gutes war, was begonnen hatte. Längst dachte sie nicht mehr an ihre Garage, über die sie mit ihrem Mann sprechen wollte. Sie war froh, dass er sie in Ruhe ließ und ihr das Abendessen nur auf den Nachttisch gestellt hatte. Sie musste jetzt für sich sein. Ihr unruhiger Blick glitt wieder hinüber. Doch. Da. Sie hatte es gesehen. Dort saß jemand. Hinter der Hecke, direkt an der Straße. Dort standen ihre Mülltonnen.Ja, dort hatte ihr Sohn vor Jahren auch oft gesessen und verstecken gespielt. Ein Ruck fuhr durch ihren Körper, sie musste wissen, wer dort saß und ihr Haus beobachtete.Sie steckte sich das Handy in die rechte Hosentasche- dort trugen es komischerweise alle Frauen und sie fragte sich, warum das so war. Schnell schüttelte sie den Kopf, während sie sich eine Jacke überzog und die Treppen hinterging. Mit einem Blick in das offen und hell gestaltete Wohnzimmer rief sie ihrem Mann und den beiden Kindern ein „Ich gehe frische Luft schnappen. Bin gleich wieder da!“ zu und verschwand nach draußen. Ihr Haus war ein Reihenendhaus von insgesamt drei Reihenhäusern,um die man auf einem Weg herumgehen konnte. Anstatt nach rechts Richtung Parkplatz zu gehen, dort, wo sie vorhin erst das Handy gefunden hatte, ging sie nach links. Vorbei an dem Haus, in dem vor Monaten der Mann die Treppe hinunter gestürzt war. Vorbei am Haus der älteren Herrschaften, die jedes Wochenende ihre beiden Enkelmädchen zu Besuch hatten. Ja, dachte sie, so möchte ich auch sein, wenn unsere Kinder Kinder bekommen. Ein Gedanke, so schön, aber ohne jede Zukunft.

Sie saß wie immer an ihrem Platz von dem aus sie eine wunderbare Sicht auf die Rückseite des Hauses hatte. Wie damals, dachte sie. Alles nett. Nette Familie. Das sagte ER immer. Eine wirklich nette Familie. Sie hatte die Lehrerin oben am Schlafzimmerfenster gesehen. In ihrem grün gestrichenen Schlafzimmer mit dem schwarzen Eisenbett und den passenden Nachttischen. Die hatten sie und ihr wirklich netter Ehemann damals bei Ikea gekauft, als die Kinder noch klein waren. „Auf schwarz sieht man die kleinen Schokofingerchen nicht so sehr“. Das hatte die Lehrerin ihr damals erzählt, als sie ihr das Haus zeigte. Deshalb hatten sie damals diese Möbel gewählt. Sie konnte sich genau an die Geschichte erinnern und wie überaus nett die Lehrerin ihr diese erzählt hatte. Nichts hatte sie ausgelassen, wenn es darum ging, aus ihrem überaus netten Leben zu berichten. Aber nichts war nett. Dieser Abend schon gar nicht. Sie musste wissen, ob jemand das Handy gefunden hatte. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, wie so oft in den vergangenen Monaten. Nicht mehr atmend, ganz langsam, schritt sie voran. Am SUV vorbei, der noch immer ohne Garage auskommen musste. Die Vögel im Gebüsch zwitscherten wie früher. Das hatte sich also nicht verändert. Manche Dinge bleiben, manche verändern sich. Andere haben nie die Chance zur Veränderung. So schritt sie weiter, den Blick auf den Boden gerichtet. Hier musste sie es in etwa verloren haben, dachte sie. Genau dort, an der wunderschönen alten Rose, war sie gestolpert. Hier musste es ihr aus der rechten Hosentasche gefallen sein. Warum musste sie es auch heraus nehmen? Sie wollte heute keine Fotos machen. Sie wollte doch nur gucken. Wieder kam Ärger, Wut und Hass in ihr hoch. Es war wie immer eine Spirale. Abwärts. So ging es ihr Leben lang. Sie suchte panisch alles ab, immer gut geduckt, immerhin ging das Küchenfenster zum Weg hinaus. Nichts. Auch hinter dem dicken Stein, den die Kinder vor Jahren angemalt hatten, nichts. Einfach nichts. Es. War. Nicht. Da. NICHT DA!!! Also hatte es jemand gefunden. Schnappatmung setzte ein. Atme ruhiger, befahl sie sich wie damals an diesem Abend. Okay. Es war nicht da. Also zurück. Schnell. Sie atmete wieder heftiger. In diesem Moment begann es zu regnen, der Himmel hatte es bereits angekündigt. Die dunklen Wolken und der feine Geruch, der in der Luft lag, ein Gewitter war im Anmarsch. Und es erwischte sie natürlich. Und natürlich ohne das Handy. Sie rannte nun, im Prinzip war es jetzt auch egal- nass war sie eh schon und wenn man sie nun sah, würde man denken, sie wollte sich nur vor dem Unwetter in Sicherheit bringen. Sie sprang über eine Pfütze, bog rechts hinter der Gartenhecke der drei Reihenhäuser ab, dort, wo sie vor einigen Minuten noch in ihrem Versteck gekauert hatte. Sie rannte und blickte kurz nach hinten. Da passierte es.

„Was für dunkle Wolken“, dachte die Lehrerin auf ihrem Weg in die Richtung, in der sie glaubte, jemanden gesehen zu haben. „Wie ein Zeichen“. Ja, so konnte man das schon sehen. Denn die dunklen Wolken waren vor ein paar Stunden in ihr Leben eingezogen. Mit dem Finden dieses Handys um genau zu sein. Wer war das bloß, der da genau über ihr Leben Buch führte – oder Foto- Tagebuch wenn man so wollte. Wie oft hatte sie sich diese Fragen nun schon gestellt. In diesem Moment krachte es auch schon und der Regen ergoss sich nur so über die Welt. Die Welt, die nie wieder die alte sein Würde. Zumindest nicht für sie.

Die Lehrerin ging schneller, rennen wollte sie nicht, sie wollte nicht auffällig erscheinen und entdeckt werden. Von wem auch immer. Sie bog nach links ab, hinter der Gartenhecke der drei Reihenhäuser. Es ging so schnell, sie konnte nicht mehr reagieren. Sie nahm eine Gestalt wahr im Halbdunkel der mittlerweile angeschalteten Laternen und es wurde mit einem Mal dunkel um sie herum.

„Himmel, wo kommt die denn her?“ dachte sie nur, als sie erkannte, wer da im Regen um die Ecke kam. Schnellen Schrittes schritt die Lehrerin um die Hecke auf sie zu. Es blieb nur ein Moment, es musste gehandelt werden. Was sollte sie tun? Jegliche Gedanken waren weg, es war ein sehr ruhiger, stiller Moment, nur der Bruchteil einer Sekunde, als sie ihren Arm hochnahm, die Hand zur Faust ballte und gefühlt wie in Zeitlupe in Richtung Gesicht der Lehrerin ausstreckte. So gesehen könnte man auch sagen, die Lehrerin lief einfach in die Faust der Frau, die dort völlig durchnässt auf dem Bürgersteig stand. Wie es in Neubaugebieten oft so ist, wo jeder für sich sein wollte, war jedes dieser ordentlichen Grundstücke mit einer hohen Hecke oder diesen neumodischen Steinmauern umgeben. Somit bemerkte niemand, wie eine ohnmächtige Frau von einer jüngeren in ein rotes, altes Auto gehievt wurde.

„Gott, was poltert die Alte da wieder?“ dachte er, als er aus seinem süßen Träumchen mit seiner letzten „Nebenbeschäftigung“ hochschreckte. Was war das schön. Wie hatte sie ihn wieder einmal verwöhnt. Er stöhnte kurz auf bis ihn das laute Poltern wieder zurück in die Realität holte. Sie war wieder da. Das kleine Miststück. Nur kurz einkaufen wollte sie. Das hatte sie zumindest gesagt, als sie wie angestochen aus der Wohnung rannte. Oh ja. Aus der Wohnung. In der sie leben mussten, seit diesem Abend. Als er…. als sie….. Seitdem ist nichts mehr wie es war. Danach musste er mehrfach operiert werden, konnte sich nur noch in diesem verdammten Rollstuhl fortbewegen, war vom Hals abwärts…. er schluckte mehrfach. Tränen standen in seinen Augen. Das hatte er einfach nicht verdient. Da knallte es wieder, die Terrassentür flog zu. Sie rauschte an ihm vorbei mit einem Blick voller Angst. Ja, was war das denn? Sie hatte Angst. Wie oft hatte er diesen Blick schon gesehen. Was war denn hier los? Seitdem er in diesem Rollstuhl saß, hatte er das nicht mehr gesehen – sie hatte ja nun auch keine Angst mehr vor ihm. Aber er konnte ihr trotzdem das Leben zur Hölle machen. Allein durch seine Anwesenheit. Er grinste.

Schnaufend schleppte sie die Lehrerin auf den Armen in ihre Wohnung. Gott sei Dank war es eine Erdgeschosswohnung. Die Lehrerin war sehr zierlich, so konnte sie sie gut tragen. Dennoch war sie nun am Ende ihrer Kräfte. Dieser Tag hatte ihr nun alles abverlangt. Sie legte die Lehrerin auf das große Sofa, welches in ihrem Zimmer in der Ecke stand. Ein weiteres Überbleibsel aus ihrer Jugendzeit. Sie wischte den aufkeimenden Gedanken beiseite und sah auf die schwer atemende Frau unter ihr. Die Haare trug sie noch immer jugendlich, blond und als Bob geschnitten. Sie sah hübsch aus. Auch den durchtrainierten Körper, bisher immer aus der Ferne gesehen, im Garten beim Sonnen, im Bad am Fenster… Was hatte sie diesen Körper bewundert. Sie musste wieder einmal zugeben, dass sie einfach alles bewunderte an der Lehrerin. Wie gern hätte sie solch ein Leben geführt. Doch ER…. sie wollte nicht daran denken. Denn ER saß nebenan und hatte schon nach ihr gerufen. ER, der ihr jeden Rest ihres „ICHs“ genommen hatte. Schnell deckte sie die Lehrerin zu, in der Hoffnung, der Knebel in ihrem Mund würde auch wirklich halten. Ohne sie zu ersticken oder ihr einen Laut zu ermöglichen. Ihr sollte nun auch niemand zur Hilfe kommen. Wieder spürte sie dieses Gefühl, von dem sie früher nie dachte, es fühlen zu können. Sie fühlte Rache.

Ihre Zimmertür quietschte wieder wie eine alte Oma beim Aufstehen. Bei diesem Vergleich musste sie lachen, leise, schelmisch, wie ein junges Mädchen. Es erstarb sofort, als sie ihn sah.

Er wollte wieder essen. Sie musste ihn füttern wie ein Baby. Das war ihre kurze Genugtuung, denn er war auf sie angewiesen. Die innere Stimme, die oft zu ihr sprach seit diesem Abend im Haus, verriet ihr aber, dass es keinen Grund zur Freude geben konnte. Denn sie war nun bis zu seinem Tode seine Gefangene. An dem Tag damals, als er sie anrief wegen seiner Unterhosengröße dachte sie schon, er würde sich nun endlich von ihr trennen. Das war jahrelang ihre große Hoffnung. Die einzige, die sie noch hatte, nachdem er ihr Stück für Stück, ganz langsam, alles genommen hatte. Als sie irgendwann gar nicht mehr wusste, welche Wünsche und Hoffnungen sie denn hatte. Sie wusste ja: sie würde von ihm geliebt werden, er würde mit ihr zufrieden sein, wenn sie war, wie es ihm gefiel. Somit gab sie nach und nach ihre eigene Identität auf und wurde zu einem formbaren Wesen ohne eigene Interessen und Sehnsüchte. Sie schüttelte den Kopf. Warum versank sie heute ständig in diese komischen Gedanken? Sie musste nun einen klaren Kopf behalten. Zu tief war sie nun schon in einem Tunnel, aus dem sie langsam nicht mehr heraus fand. Langsam wurde es ihr auch irgendwie egal. Was sollte es jetzt noch? Sie würde nie mehr eine andere Chance erhalten.

Nachdem sie ihn bedient hatte, rollte sie ihn wieder an die Terrassentür. Mehr Frischluft war heute nicht mehr drin, es war mittlerweile stockdunkel, es schüttete noch immer. Die Terrasse war überdacht, so dass nichts nass wurde und er ruhig noch ein wenig raus sehen konnte. So hatte sie also Zeit, wieder schnell in ihr eigenes Zimmer zurück zu gehen, wo die Lehrerin noch immer benommen lag.

Beim Blick auf ihr hübsches Gesicht, das nun leicht verkrustet war durch die blutende Nase und die kleine Wunde an der Schläfe, bemerkte sie, das etwas vor dem Sofa lag. Das gab es doch nicht. Da lag ihr Handy. Das war also vorhin aus der Hosentasche der Lehrerin gefallen, als sie sie rücklings aufs Sofa legte. Sie hatte ganz vergessen, danach zu sehen, weil sie IHN wieder gehört hatte. Die Lehrerin hatte es also gefunden. Ob sie deshalb vorhin auf der Straße auftauchte?Dann musste sie sie in ihrem Versteck gesehen haben. Komisch eigentlich, dass das nicht schon früher passiert ist. Egal. Sie waren jetzt alle drei da. An diesem einen Ort. Wie wundervoll eigentlich, oder? Alle drei waren vereint. Und doch jeder für sich. Da war es wieder. Dieses Gefühl. Sie spürte es langsam in ihr hoch kriechen. Ganz langsam, von den Füßen über die Beine,hoch in den Bauch, sogar im Hintern meinte sie es zu spüren, über die Brust, die Arme, den Hals – Hallo, da bin ich also. Ja. Da war es. Rache. Sie wusste es genau. DAS war ihre Rache. Sie konnte nicht anders. Es gab kein anderes Gefühl mehr in ihr. Sie ballte die rechte Hand zu einer Faust, drückte so fest es ging. Da rührte sich die blonde Frau vor ihr und schlug die Augen auf. Entsetzt stellt sie fest, dass ihre Hände und Füße zusammengebunden waren. Der Knebel in ihrem Mund nahm ihr fast die Luft. Zufrieden blickte sie die Lehrerin an.

Entsetzt blickte sie die Frau vor ihr an. Die braunen Haare hingen wirr durcheinander, sie war komplett verschwitzt und starrte die Lehrerin hasserfüllt an. Was war passiert? Da donnerte es wieder und ein Blitz zuckte auf. Himmelherrjeh. Es fiel ihr wieder ein. Das Handy vor ihrem Haus, die Fotos, all die Fotos auf diesem Handy. Ihr Zusammenbruch, die Person hinter der Hecke. Verdammt. Sie hatte einen Schlag kassiert. Den ersten in ihrem Leben. Niemand hatte sie bisher geschlagen und nun ging sie direkt zu Boden und wurde ohnmächtig. Aber wo war sie denn jetzt?

Als sie die Frau vor ihr genauer betrachtete, erkannte sie sie wieder. Ihr wurde schlecht und sie röchelte. Sie hatte nun wirklich Angst zu ersticken. Sie bekam immer schlechter Luft.

Sie sah die Lehrerin an, wie sie dort hing, ganz quer und immer schwerer atmen konnte. „Wie ich an dem Tag, als du mir nicht geholfen hast – weißt du noch?!“ Diese Worte zischten nur aus ihrem Mund, der früher immer so gern gelächelt hatte. Der so gern geküsst hatte. Weg mit diesen scheinheiligen Gedanken. Die Augen der Lehrerin wurden riesig. Sie wusste es, durchfuhr es sie. Verdammt. DIE. LEHRERIN. WUSSTE. ES. Sie erinnerte sich also an diesen Tag vor einigen Monaten. Diese Erkenntnis machte nun alles noch schlimmer. Denn es stachelte ihren Hass noch mehr an. Er setzte sich immer weiter und weiter in ihr fest. Die Fingernägel ihrer rechten Hand bohrten sich immer mehr in die Handfläche, doch sie spürte diesen Schmerz nicht mehr. Da war einfach diese Erkenntnis, dass sie es wusste. Die Lehrerin hatte sie damals gehört. An diesem Tag, als sie dachte, sie würde ihn nicht überleben. Warum hast du mir nicht geholfen? Du in deiner heilen Welt? Sie wollte sie anschreien, alles herausbrüllen. Halt nein. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen, die Nachbarn hier sind sehr sehr aufmerksam. Doch diese Erkenntnis hatte schon begonnen, das Schicksal dieser falschen Schlange zu besiegeln. Was war sie doch für eine Heuchlerin? Führte ein wahrhaft schönes Leben und hätte es in der Hand gehabt, sie, die 47jährige, seit Jahren klein gehaltene Nachbarin, zu retten. Was war das nur für eine Frau?

Sie setzte sich auf sie. Das Gesicht ihr zugewandt und lächelte. Wie einfach das doch ging in dieser Situation noch zu lächeln. So saß sie also auf der Lehrerin wie ER damals. Und genau so wie damals beugte sie sich tiefer zur Lehrerin, sah ihr in die Augen und legte ihr die Hände an den Hals. Die Lehrerin zappelte, fing an mit den Füßen zu strampeln wie ein Baby in der Wiege. Die Haut war weich und zart, sie hatte sich wirklich gut gehalten. Warm war sie, ihre Adern pulsierten unter der leicht gebräunten Haut. Oh ja, Madame hatte wirklich Angst. Der Schweiß auf ihrer Stirn tropfte mittlerweile in die blonden Haare. In Sekundenbruchteilen liefen alle Situationen der letzten Monate, dieser entscheidenden Monate vor ihrem inneren Auge wie ein Film im Schnelldurchlauf ab. Und dann….ging ein Ruck durch ihren mit Narben gespickten Körper, die rechte Handfläche von den Fingernägeln malträtiert, festigte sie ihren Griff um den Hals der sich noch immer wehrenden Frau unter ihr. Und dann…. drückte sie zu. Immer fester. Als würden alle schrecklichen Momente der letzten 30 Jahre aus ihr herausströmen. Wie sie diese Frau hasste. Sie hätte ihr helfen können. Sie stand stellvertretend für alle anderen Nachbarn, die sie jemals gehabt hatte. Auch vorher schon, in ihrer Eigentumswohnung, in der sie vorher wohnten, gab es Situationen, in denen sie gehofft hatte,dass Nachbarn endlich Hilfe holten oder selbst zur Hilfe kamen. Doch nie passierte etwas in der Art. Auch dadurch verlor sie sich immer mehr selbst. Verlor sie ihre eigene Identität. Bis heute. Heute würde sie sich eine neue aufbauen. Eigentlich hatte sie den Grundstein dafür schon vor Monaten gelegt. Und eigentlich sollte es anders laufen. Aber egal. Sie war jetzt hier. Und drückte den Hals der Lehrerin immer weiter zu. Sie hob den Kopf, denn diesen Kampf wollte sie nicht sehen. Da fiel ihr Blick auf das Foto an der Wand. Ein roter, alter Golf darauf. Und sie selbst. Als 17jährige. Mit ihrer geliebten Oma im Arm, am Tag, als ihre Oma ihr den Golf überraschend schenkte. Sie sah es noch genau vor sich, unter ihr zappelte unterdessen die Lehrerin weiter. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne brannte das erste Mal in diesem Frühjahr mit Kraft auf die Erde und sie selbst war ein fröhliches Mädchen mit vielen Hobbies. Sie ging reiten, tanzte für ihr Leben gern, machte gerade ein Praktikum in einer Apotheke und ging mit großen Schritten auf das Abitur zu. Sie hatte große Träume. Sie sah sich als Stewardess, als Nachrichtensprecherin, als Architektin. Irgendwas großes wollte sie bewegen, mit hübschen Kleidern, eine Aktentasche vielleicht unter dem Arm. Tränen liefen ihr mittlerweile über die Wangen und tropften auf den nun nur noch leicht zuckenden Körper unter ihr. Auf dem blauen Shirt einer noblen Marke bildete sich ein nasser Fleck aus ihren Tränen. Es war nicht ihr Shirt.

Sie holte tief Luft und weinte bittere Tränen, noch mehr als eben schon. Und drückte immer fester zu. Die Schmerzen der letzten Jahre, die Bitterkeit darüber, was sie alles verloren hatte bevor ihr Leben überhaupt so richtig begonnen hatte, gaben ihr eine Kraft, die sie nur noch heftiger drücken ließ. Später würde sie sagen, dass sie gar nicht mehr bemerkt hatte, wo und was sie zudrückte. Es hätte in dem Moment auch eine einfache Plastikflasche sein können. Tief in ihrem Innern wollte sie nie, dass so etwas passiert. Aber dieses Innere hatte keine Kraft mehr über sie. Dieses Innere war nicht mehr vorhanden. Die lächelnde 17jährige junge Frau, damals im Arm ihrer Oma, die gab es nicht mehr. Dieser Teil von ihr war längst gestorben. Und nicht erst damals, als man ihr den Hals zudrückte. Dieser Teil starb einen langen, langsamen Tod von dem Tag an, an dem sie IHN kennengelernt hatte.

Sie röchelte immer heftiger, die Angst wurde übermenschlich. Sie zitterte am ganzen Körper und merkte, wie ihr die Schweißperlen wie damals in den Wechseljahren förmlich in die Haare liefen. Die Lehrerin wusste, warum das hier passierte. Es war nicht richtig, DASS es ihr passierte. Aber sie wusste, warum. Sie wusste auch, dass es nun vorbei sein würde. Das erkannte sie an den Augen ihrer Nachbarin. Sie erkannte all den Schmerz, den sie immer durch die Wand rüber zu ihr und ihrem Mann gehört hatte. Wie oft hatte sie es poltern hören. Wie oft hatte sie es krachen hören, wenn sie wieder stürzte, wie in den Wohnzimmertisch aus Glas. Oder als das Sofa damals in die Terrassentür zufällig beim Staubsaugen gerutscht war. Sie hatte das alles gehört. Und sie wusste, warum ihre Nachbarin einen riesigen Verband an ihrem rechten Fuß hatte. Aber sie selbst wollte es nicht wahr haben. Ihr Nachbar war einfach zu nett. Ein gut aussehender Mann. Einer, dem die Frau die Hölle auf Erden bereitete. Zumindest hatte sie sich das lange eingeredet. Denn ein so sympathischer junger Mann in der Blüte seinen Lebens, vielleicht auch irgendwann ein wunderbarer Vater, hilfsbereit, immer lachend, so einer konnte einfach nicht ein schlechter Mensch sein. Sie hatte einmal gehört, wie er schrie, dass seine Frau ihn raus lassen sollte, ihn vorbei lassen sollte, dass er das nicht wollte. Er hätte Angst vor ihr. Und dann schrie sie. Um Hilfe. Ja, doch, ihre Stimme war voller Angst, so als würde sie um ihr Leben betteln. Später sah sie sie, wie sie auf der Terrasse stand und sich den Bauch hielt. An ihrem Mund noch einen Rest getrocknetes Blut. Aber er war doch so sympathisch.

Jetzt hier, wo sie einsah, dass ihr eigenes Leben nun sehr wahrscheinlich ein schlimmes Ende nehmen würde, wollte sie sich bei ihrer Nachbarin entschuldigen. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben, dass dieser nette Mensch solch abscheulichen Dinge tat. Aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war das nur eine Ausrede. Um nicht handeln zu müssen. Und eine Entschuldigung würde ihr jetzt auch nicht mehr helfen. Die Nachbarin über ihr schien kurz abwesend zu sein. Sie hatte auf einmal einen liebevollen, dankbaren Blick, der sofort wieder von bloßem Hass verdrängt wurde. Und wieder verstärkte die Frau über ihr den Druck auf ihren Hals. Es würde nicht mehr lange dauern, ihre Kräfte schwanden. Sie sah schon die Lichtblitze, hörte ihr eigenes Blut in ihren Ohren rauschen. Es war furchtbar. Sie hatte sich immer einen schnellen Tod gewünscht. Ein schnelles zack und weg an einem anderen Ort. Ihr Mann, ihre Kinder, ihr Leben, alles schien auf einmal sehr sehr weit weg, löste sich langsam vor ihrem inneren Auge in Luft auf. War es jemals real? Wer war sie eigentlich? Langsam wurde es dunkel um sie herum, die Geräusche verstummten ganz langsam. Auf wiedersehen Welt.

„Was treibt dieses Miststück da in ihrem Zimmer bloß?“ Er hasste es, wenn er Dinge nicht erfuhr. Schon immer. Unwissenheit bedeutete Kontrollverlust. Er wollte immer alles wissen. So konnte er die Macht behalten. Über sie, über alle, mit denen er Kontakt hatte. Früher auch über seine Mutter. Er hatte auch immer das Gefühl, dass man ihn belog.Warum sonst hätte sich das Miststück damals neue Unterwäsche gekauft? Für ihn? Für ein angebliches Fotoshooting? Damals waren sie gerade ein paar Monate zusammen. Sie hatte eine hammergeile Figur. So schlank und schmal. Eigentlich ein Wunder, bei den Mengen an Schokolade die sie allein während der Abitur-Phase in sich hineinfraß.

Damals behauptete sie, aber auch erst, als er sie mehrmals darauf ansprach, dass die neue Wäsche für Fotos gedacht gewesen seien. Ja, nee, klar doch. Gerade sie wollte sich vor einer anderen Person in Unterwäsche oder vielleicht auch ohne räkeln? Das glaubte er nicht. Er kannte es von seiner Mutter, wie die Frauen aussahen, wenn sie ihre Männer anlogen. Er hatte das oft genug bei seiner Mutter gesehen, wenn sie seinen Vater belog. Er wusste, dass sie einen anderen haben musste. Denn es konnte nicht anders sein, als dass sie ihn belogen hatte. Von daher waren sie also schon quitt, als er dann Jahre später seine „Nebenbeschäftigung“ fand. Fast hätte er sich von ihr getrennt. Sie machte ihm das Leben einfach zur Hölle. Hörte nicht mehr auf ihn, stellte Fragen und er hatte das Gefühl, als regte sich da was in ihr. Sie wollte wieder Tanzen gehen und beim Pferdehof hatte sie auch schon angerufen. Sie hätten ja schließlich keine Kinder und nur zu Hause sitzen wollte sie auch nicht. Nach ihrem Studium, scheiße, was hatte sie denn gleich nochmal studiert? Naja, egal, sie hatte es nicht gebraucht, denn er war der Mann und Ernährer. Sie blieb also zu Hause . Er hatte ihr alles ermöglicht. Erst eine Eigentumswohnung, die war dann nicht mehr genug. Ein Haus sollte her. Auch das hatte er organisiert – sie selbst legte das in seine Hände und irgendwann beschwerte sie sich darüber, dass er sie nicht mitgenommen hatte zu den Besichtigungen. Dabei wusste sie doch, dass sie keine Ahnung von solchen Dingen hatte. Er hatte es ihr schon von Anfang an immer wieder gesagt und gezeigt, dass sie einfach unwissend war. Aber irgendwann, nachdem sie in das Haus neben diese Snobs von Lehrerfamilie gezogen waren,hatte sie begonnen, sich zu verändern. Oft hat sie am Fenster im Badezimmer gestanden und runter auf die Terrasse der Nachbarn gestiert. Als hätte sie nicht alles gehabt, gaffte sie immer wieder dort rüber. Dieses Miststück fing irgendwann damit an, dass sie ja auch arbeiten gehen könne wie ihre Nachbarin, diese scharfe Lehrerin. Die hätte er gern mal vernascht. Egal. Jetzt ging so etwas eh nicht mehr. Nie wieder würde er richtig scharfen Sex haben, so wie früher. Die Frauen waren einfach nur verrückt nach ihm. Und das Miststück dachte seit Monaten gar nicht mehr daran, sich mal für ihn auszuziehen. Ach, was tat sie denn nun eigentlich? Das Poltern hatte irgendwann nachgelassen, manchmal hörte er ein dumpfes Geräusch, welches er aber nicht zuordnen konnte. Sonst hörte er nichts. Er konnte nicht mal hinüber fahren mit seinem Rollstuhl. Er konnte gar nichts seit diesem Abend. Er rief nach ihr. Nichts. Früher kam sie immer direkt angelaufen, sie wollte ja, dass es ihm gut ging. Heute nicht mehr. Heute hasste sie ihn. Er wusste, dass sie ihn hörte und wie so oft ignorierte. Sein Hass wurde wieder größer, er war zum Warten verdammt. Er war abhängig von ihr. Er musste warten, bis sie sich bequemte, mal nach ihrem Mann zu sehen.

Nebenan saß sie noch immer auf der leblosen Lehrerin, hatte die Augen geschlossen und zitterte überall. Komischerweise dachte sie seit einigen Minuten an eine blühende Blumenwiese, direkt an einem schillernden, klaren Bergsee gelegen. Das Wasser war so klar, dass man die Fische sehen konnte. Viele bunte Schwärme schwammen durcheinander. So herrlich frisch duftete die Luft und alles drum herum. Sie konnte es direkt riechen. Sie spürte die Sonne auf ihrem Körper. Sie spürte den fremden Körper an ihren Beinen. Die Augen langsam öffnend mit Blick hinunter auf ….die tote Lehrerin. Sie war wirklich tot. Was hatte sie getan? Kurz spürte sie Bedauern aufkommen. Immerhin hatte sie die Lehrerin immer bewundert. Und beneidet. Und gehasst. Sie hatte es verdient. Gerne hätte sie noch die Gelegenheit gehabt, einmal zu fragen, warum sie ihr nie geholfen hatte, obwohl die Nachbarn eigentlich jeden Streit mitbekommen haben müssen. Immerhin konnte sie oftmals hören, welch phantastischen Sex die Lehrerin gehabt hatte…. Sie lachte. Etwas überraschend war es ja schon, als sie feststellte, dass die Lehrerin und ihr Mann ab und an auch mal kleinere Spielchen und Treffen mit einem anderen Pärchen abhielt. Die Fotos von einem dieser Treffen befanden sich auf ihrem Handy. Das Handy. Die Lehrerin hatte es in der rechten Hosentasche. Ob sie wohl alle Fotos darauf gesehen hatte? Es war immerhin noch entsperrt, als sie es vorhin vom Boden vor dem Sofa aufhob. Wie schade, dass alles so gekommen war. Zumindest hatte sie hier nun nicht versagt. Er sagte so oft, dass sie die Dinge nicht richtig machte, sich zu blöd anstellte, es allein nie hinbekommen würde und froh sein sollte, dass sie ihn hatte, der ihr das Leben erklärte und zeigte. Sie stieg von der Lehrerin herunter, bettete ihre Beine auf das Sofa und legte ihr eine Decke über den Körper, fast ein wenig so, wie es ihre Oma abends im Bett immer bei ihr machte, als sie noch ein Kind war.

Da saß er also, blickte noch immer nach draußen in den Regen. So, wie sie ihn vorhin dorthin gestellt hatte. Sie grinste wieder. Der große Herr war nicht mehr in der Lage, sich selbst irgendwohin zu bewegen. Das einzige, was er wirklich noch allein konnte, war sprechen. Und das tat er. Vornehmlich beschimpfte er sie, zeigte ihr auf, wie inkompetent sie doch war, hatte sie doch auch bei ihm versagt. Damals an diesem Tag. Er hätte sie fast umgebracht. So, wie sie eben die Lehrerin umgebracht hatte. Nur bei ihm hatte sie versagt. Sie hätte damals nie gedacht, dass er diesen Sturz überleben würde. Niemals. Aber er war schon immer ein harter Brocken, ein starker Kerl. Eigentlich war es klar, dass es so lief. Dass er überlebte. Seit diesem Tag war sie nicht mehr nur ein Opfer, sondern auch eine Täterin. Sie hatte versucht, ihren eigenen Mann zu töten. Sie fühlte sich so schuldig, dass sie wütend wurde. Der Hass entbrannte wieder in ihr. Mehr noch fast, als vor wenigen Minuten, als nebenan ein Leben durch sie beendet wurde. Das Gewitter lieferte noch immer ein ordentliches Schauspiel ab, scheinbar waren mehrere Gewitterzellen aufeinander getroffen, es war erstaunlich, wie lange es schon durchgehend draußen stürmte und wütete.

Sie schrie gegen den Donner an, wie sehr sie ihn hasste. Lustigerweise verstand er sie gar nicht, da ausgerechnet in diesem Moment ein Donner über sie hinweg rollte. Fragend sah er sie an. „Möchtest du etwas trinken?“ die freundliche Frage erschreckte sie selbst am meisten. Auch er war irritiert, das sah sie ihm deutlich an. Er nickte nur stumm und sie verschwand in die Küche. Als sie zurückkam, hatte sie ein Glas Gin Tonic in der Hand. Sie wusste, wie gern er diesen Drink abends entspannt auf dem Sofa getrunken hatte. Sie wollte ihm an diesem letzten Abend noch einmal etwas Gutes tun. Sie hatte diese Grenze bereits überschritten, sie hatte sich selbst verloren, sie gab es nicht mehr. Sie würde es ebenso nicht ertragen können, mit der Last zu leben, ihn in diesem Rollstuhl zu sehen. Denn eigentlich war sie doch gar nicht so. Sie war kein böser Mensch. Das dachte sie noch, als sie ihm das Glas reichte. Er lachte schelmisch und wenn man es nicht besser gewusst hätte, hätte man denken können, hier war ein nettes Pärchen an einem Gewitterabend, dass es sich nett machte und ein schönes Leben trotz des Rollstuhls hatte. Sie lächelte zurück in der Gewissheit, dass sie bald wirklich frei war. Es sollte nicht lange dauern. Oma sagte immer „Wenn Opa mich zu viel nervt, gebe ich ihm einen Streifen meiner Schlaftabletten und schon bin ich ihn los“. Mit dem Unterschied, dass Oma und Opa ein Herz und eine Seele waren. Solch eine große, bedingungslose Liebe gibt es ihres Wissens nach nur sehr sehr selten. Sie selbst war nicht mit einer solchen Liebe gesegnet. Oma sagte es immer lachend, während Opa ihr einen Klaps auf den Hintern gab. Auch mit 89 noch. Und schon wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Wenn die beiden wüssten, welche Wendung das Leben ihrer einzigen Enkelin genommen hatte.

Er hatte unterdessen das gesamte Glas ausgetrunken. Sie ging auf ihn zu und fragte ihn, ob sie sich nicht gemeinsam aufs Sofa setzen wollten. Sie würde ihm auch eine hübsche Überraschung bereiten. Nach diesem merkwürdigen Tag überraschte sie ihn das nächste Mal innerhalb weniger Minuten. Aber vielleicht kam sie ja zur Besinnung. Das war früher ja auch oft so. Erst musste sie mucken, dann zeigte er ihr, dass sie ohne ihn einfach nicht lebensfähig war und ihn brauchte und dann lief es wieder einige Zeit rund. Gut, diese Zeiten wurden mit den Jahren immer weniger. Aber egal. Bis zu seinem Sturz von dem er bis heute im tiefsten Inneren glaubte, sie hätte das mit Absicht gemacht obwohl er sie gleichzeitig für unfähig hielt, so etwas zu tun, lief es so. Ein auf und ab, wie in jeder ordentlichen Beziehung. Das war schon bei seinen Eltern und Großeltern so.

Mit gekonnten Griffen schwang sie ihn aufs Sofa und schob den Rollstuhl beiseite. Sie bettete ihn bequem in seine Lieblingsposition, halb liegend, und setzte sich neben ihn. Sie legte ihr Hand auf sein Bein, wohl wissend, dass er sie nicht spürte. Sie wanderte höher, zwischen seine Beine. Sein Blick wanderte nach unten. Sie lächelte. Beide wussten genau, was der andere dachte. Dass es da nichts mehr gab, was sich rühren könnte. Ihre Blicke trafen sich, wobei seiner langsam immer fahriger wurde. Sie stand auf, setzte sich auf ihn mit dem Gesicht zu ihm gewandt. Es gab kein zurück mehr. Es würde sonst niemals enden. Sie war schon zu weit gegangen. Viel zu weit. Sie war kein Opfer mehr.

Warum tat sie das? Er wunderte sich, gleichzeitig verschaffte ihm ihre demütige Halten an diesem Abend so etwas wie Stolz und Genugtuung – er hatte sie noch immer in der Hand. Die Kontrolle wurde ihm entrissen, aber wenn man sie sich nun hier betrachtete, sah man ja, was seine jahrelange strenge Hand bewirkt hatte. Sie war bei ihm und nach einem Tief, in dem sie sich nur aus schlechtem Gewissen heraus um ihn kümmerte, schien nun ein Hoch zu kommen. Der Gin Tonic war hervorragend. Gott sei Dank hatte er seine Geschmacksnerven nicht verloren. Er bekam zwar keinen mehr hoch und von gutem Sex war er so weit entfernt wie der Mond von der Erde, aber immerhin konnte er sich ab und noch einen genehmigen. Und ihr Gin Tonic war immer der beste. Das musste man ihr lassen, das konnte sie echt gut.

Als sie sich auf ihn setzte wurde er schon leicht heiß, das musste er zugeben. Wenn er doch nur… Ja, er war schon immer scharf auf sie gewesen, selbst als er damals seine „Nebenbeschäftigung“ begonnen hatte, schlief er noch mit ihr. Insgeheim stellte er sich auch vor, es einmal mit beiden gleichzeitig zu machen. Aber er wusste, dass sie da nicht mitmachen würde. Er grinste beim Gedanken daran, dass sie ihn einfach nicht teilen wollte. Er sah zu ihr hoch und bemerkte, dass sich ihr Blick mit einem Mal veränderte. Irgendwas passierte mit ihr. Bevor er überhaupt eine Ahnung davon bekommen konnte, was es war, presste sie das Kissen auf sein Gesicht. Selbst wenn er hätte reagieren können, rein körperlich gesehen, war er zu müde, um etwas zu tun. Seine Augen wurden nicht nur zugedrückt durch grüne Samtkissen ihrer Oma, dieser alten Schrulle, die ihn nie ausstehen konnte. Er hatte sie auch kurz vorher schon kaum noch aufhalten können. Sie drückte immer weiter und fester und ihn beschlich das ungute Gefühl, als würde das hier nicht gut ausgehen.

Er hörte ihre dumpfe Stimme, als sie sagte „Na, wie ist das, wenn man jemandem die Luft zum Atmen nimmt?! Du hast damals zugedrückt und mich am Leben gelassen. Das werde ich dir ersparen. Du darfst endlich sterben“ Was sagte sie? Dieses Miststück. Er hätte sie damals wirklich…. seine letzten Gedanken und Atemzüge verschwammen miteinander, die Lichtblitze vor seinen Augen waren schön und bunt und es war vorbei.

Sie war nun kein Opfer mehr. Sie hatte es getan. Sie wusste schon an diesem Abend, als sie der Leiter noch einen kleinen zusätzlichen Schubser gab, dass ihr Leben eine Wendung genommen hatte, die sie nicht mehr aufhalten konnte und wollte. Eigentlich hatte sie gar nicht vor, die Lehrerin umzubringen, zumindest jetzt noch nicht. Nicht, bevor sie eine Antwort bekam, warum sie ihr nie geholfen hatte. Und auch dann wäre sie sich nicht ganz sicher gewesen, ob sie es getan hätte. Sie war eigentlich kein böser Mensch. Er hatte sie dazu gebracht. Er hatte ihr alles genommen, was sie jemals gewesen war oder im Begriff war, zu werden. Sie erhob sich, ließ das Kissen ihrer Oma auf seinem Kopf liegen und drehte sich noch immer leicht zitternd und schwitzend um.

Mitten im Raum stand die Lehrerin.

 

One thought on “Mein Leben in deiner Hand

  1. hi, ein wirklich gutes Thema sprichst du da mit deiner Geschichte an. habe bis zum Schluss gespannt gelesen. was deinen Schreibstil betrifft war ich angenehm überrascht. an Kreativität mangelt es dir auf jeden Fall schon mal nicht! mein Like hast du und ich hoffe es kommen noch ein paar dazu! wenn du magst lass mir doch auch ein Feedback und bei Gefallen ein Like da. Beste Grüße, Patricia.

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/hinter-den-kulissen

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