MonikAnnaNachhall

Wenn ich mich heute zurück erinnere, kann ich erstaunlicherweise noch ziemlich genau sagen, was an diesem Tag passierte. Erstaunlicherweise deshalb, weil es ein ganz gewöhnlicher Tag war. Ich hatte mich, wie so oft in letzter Zeit,  müde aus dem Bett gequält, mit wenig Lust auf den bevorstehenden Tag. Mein Job als Ärztin in einer Rehaklinik stellte mich schon lange nicht mehr vor medizinische Herausforderungen,  zunehmend ging es nur noch um die wachsende Anspruchshaltung der Patienten und natürlich das Finanzielle. Ich drückte also lustlos auf die Kaffeemaschine, das übrige Frühstück ließ ich wie meistens ausfallen und hetzte zur Wohnungstür. Beim Hinausgehen fiel mein Blick auf den Briefumschlag auf der Kommode, am Wochenende hatte ich es endlich mal geschafft, die Arztrechnungen des letzten Jahres für die Krankenkasse fertig zu machen.  Zum Briefkasten hatte es der Brief bis jetzt allerdings noch nicht geschafft. Ich packte ihn schnell mit in meine Tasche.

Die circa 20minütige Autofahrt zu meiner Arbeitsstelle unterbrach ich also, um kurz in der Busbucht vor dem Briefkasten anzuhalten. Wie viele andere Menschen das wohl auch taten,  zu faul um nach der Arbeit noch 5 Minuten zu Fuß zu gehen… Ich sprang kurz aus dem Auto, warf den Brief ein und da sah ich es, auf dem Briefkasten lag es, ein schwarzes Smartphone, nicht besonders teuer und ohne besondere Kennzeichen.  Möglicherweise hatte es bereits jemand auf den Briefkasten gelegt, damit man es schneller findet. Gut möglich, dass es jemand verloren hatte, der in den Bus eingestiegen war. Ich überlegte kurz, eigentlich mischte ich mich ungern in die Angelegenheiten anderer. Andererseits stellte ich mir vor, wie es wäre mein Telefon zu verlieren, und allein bei dem Gedanken wurde mir anders. Was tun? Ich schaute zum Himmel… lang würde das Smartphone auf seinem jetzigen Platz nicht überleben, der Himmel war grau und die Region, in der ich lebte war bekannt für ihre hohe Regenwahrscheinlichkeit. Ich könnte es zum nahe gelegenen Supermarkt bringen, aber das würde mich mindestens weitere 5 Minuten Zeit kosten und ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass ich die nicht hatte. Entgegen meiner Prinzipien griff ich das Smartphone, platzierte es auf dem Beifahrersitz und nahm mir fest vor, es nach der Arbeit zum Fundbüro oder zur Polizei zu bringen.

Der Arbeitstag war nicht anders als sonst. Träge ging ich meiner üblichen Beschäftigung nach. Routiniert machte ich meine morgendliche Visite,  sichtete Patientenakten und diskutierte mit meinen Assistenzärzten, von denen ich einen besonders auf dem Kieker hatte. Unverschämt jung und in seiner Motivation alles andere als meinem gegenwärtigen Zustand entsprechend. Das war einmal anders gewesen. Aber diesem Gedanken wollte ich nicht nachhängen. Viel zu lange schien es her und bis der ambitionierte Kollege vor ein paar Monaten in der Klinik aufgetaucht war, hatte ich selten an meine Zeit als junge Ärztin gedacht, als ich selbst noch voller Ideale war. Diese Naivität konnte ich mir jetzt nicht mehr leisten… Ich erklärte also zum wiederholten Mal, dass ich meine Meinung zur Behandlung von Patient XY nicht ändern würde und er das wohl so hinzunehmen hatte, da ich am Ende die Verantwortung tragen würde. An manchen Tagen verschaffte mir die Tatsache am längeren Hebel zu sitzen ein kleines bisschen Genugtuung, das musste ich gestehen, aber der jetzt tatsächlich einsetzende Regen schwemmte mein letztes bisschen Energie davon und verhagelte mir die Laune endgültig.

Ich schleppte mich Kaffee trinkend (mit viel Zucker) durch den Tag und war erleichtert, als ich endlich Schluss machen und die Klinik hinter mir lassen konnte. Auf dem Parkplatz begann sich meine Laune deutlich zu heben. Feierabend! Ich stieg ins Auto und freute mich auf ein paar gemütliche Netflixstunden mit Pasta von Toni’s Lieferservice und meinem Liebsten, als ich das Handy auf meinem Beifahrersitz sah.

An das hatte ich gar nicht mehr gedacht. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass Fundbüros wohl schon geschlossen hatten. Außerdem war mein Bedürfnis nach einem ruhigen, erholsamen Abend so groß, dass ich beschloss, dass sich der Handybesitzer oder die Besitzerin auch noch einen Tag gedulden konnte.

Das Handy in der Hand sperrte ich die Wohnungstür auf und wurde direkt von Phil begrüßt. Mein Verlobter lehnte mit zwei vollen Gläsern Wein in der Hand in der Küchentür und lächelte mir verheißungsvoll zu. Gott, wie ich diesen Mann liebte! Phil war als Sozialpädagoge in einem Wohnheim für Jugendliche mit körperlichen Beeinträchtigungen tätig und so hatten wir uns vor einem guten dreiviertel Jahr doch tatsächlich über die Arbeit kennengelernt. Und wow – war seitdem alles schnell gegangen! Aber es fühlte sich genau richtig an. Ich hängte schnell meine nasse Jacke an die Garderobe, legte Tasche, Schlüssel und das Handy im Flur ab und begrüßte Phil indem ich ihm auf Zehenspitzen durch sein blondes Haar strich und ihm einen Kuss auf die Lippen drückte. Dann nahm ich ihm eines der Gläser aus der Hand, wir prosteten einander zu und gingen nach drinnen.

“Na nen harten Tag gehabt?” Phil zwinkerte mir zu, er wusste nur zu gut, dass ich ungern am Abend noch über die Arbeit sprach. Trotzdem gab er mir immer die Möglichkeit dazu und zeigte Interesse. Ein weiterer Grund, warum ich ihn so liebte. “Ach was, immer das gleiche” winkte ich ab und nahm erst einmal einen großen Schluck Wein. Phil schaute mich erwartungsvoll an. “Und was sagst du?” Ich kramte in meinem Gehirn auf der Suche nach etwas, das ich vergessen haben könnte. Worüber hatten wir gestern gesprochen? Oder vorgestern…. “Äh..” mehr bekam ich auf die Schnelle nicht zustande.  Phil grinste frech, ihm war es anscheinend völlig bewusst, dass ich auf dem Schlauch stand und nicht weiter wusste,  und er schien es zu genießen.  “Der Wein? Juan Carlos? Soll ich uns ein paar Kisten sichern? Du weißt, die Lieferung ist sozusagen schon auf dem Weg.” Jetzt fiel es mir wieder ein. Phils spanischer Arbeitskollege hatte gute Beziehungen zu einem kleinen spanischen Weingut, seine Empfehlungen hatten uns schon so oft den Feierabend versüßt. Ich konnte mich nun auch vage erinnern, dass Phil vor einigen Tagen euphorisch von einer neuen Sorte gesprochen hatte und aus dem Schwärmen nicht mehr herausgekommen war. Parallel hatten wir zwei andere Flaschen aus Juan Carlos’ Kollektion geleert. Kein Wunder also,  dass mein Gehirn mit der Zuordnung dieses Gesprächs einige Schwierigkeiten hatte. Ich nahm einen weiteren Schluck, nun aber nicht so hastig und tat als wäre ich auf einer Weinprobe – ohne das obligatorische Ausspucken natürlich . Phil hatte nicht übertrieben, ich sah uns schon im Sommer auf unserem Balkon Weißwein trinken, die anerkennenden Worte unserer Freunde und meinen stolzen Mann mittendrin… Die Klingel riss mich aus meinen Tagträumen. ” Das muss die Pasta sein” sagte Phil ” ich hatte schon mal angerufen, Bolognese passt doch oder?” Ich nickte nur und machte mich mit meinem Glas auf in Richtung Wohnzimmer. Mittlerweile war es schon fast dunkel draußen,  wieder einmal ermahnte ich mich, mich doch in Zukunft konsequenter an meine Feierabendzeiten zu halten. Phil kam mit zwei dampfenden Tellern ins Wohnzimmer. Bevor ich Phil kennen lernte, war ich  bereits ein sehr treuer Kunde von Toni gewesen. Meistens wanderte die Pasta jedoch direkt aus der Aluschale in meinem Mund. Nicht bei Phil, er war überzeugt, dass Essen aus einem Teller immer noch besser schmeckte als aus einer Aluschale, somit waren Aluschalen bei uns jetzt ein No-Go. Zum Glück konnte ich Phil von der Gemütlichkeit unseres Sofas als Abendessenort überzeugen. Phil startete den Smart-TV und schon begann die Titelmelodie unserer Lieblingsserie. Wir verspeisten unsere Pasta, leerten die Weinflasche und verfolgten die verwobene Handlung der Serie. Ich genoss die schweigsamen Abende mit Phil genauso wie die Tatsache, an anderen Tagen bis spät in die Nacht mit ihm diskutieren zu können.

Ein Geräusch störte unsere Ruhe. ” Na wieder nen neuen Klingelton?” Phil grinste mich an. Ich schüttelte den Kopf. ” Das ist nicht meins.” Da fiel mir das Smartphone von heute morgen wieder ein. Ich hatte mir noch nicht mal die Mühe gemacht,  nachzusehen, ob es eingeschaltet war. Irgendwie war es für mich ein Fremdkörper in unserer Wohnung und gerade ärgerte ich mich, dass ich es mitgenommen hatte. Phil sah mich fragend an, ich schilderte ihm meinen Fund. “Na dann lass uns doch mal nachsehen,  das war bestimmt ne Nachricht ” Phil erhob sich vom Sofa und lief Richtung Flur. “Phil warte….” Ich zögerte. ” Ach Schatz, das ist doch das Praktische an so einem Teil, in Null-Komma-Nix wissen wir wem es gehört und ich kümmere mich morgen darum” Phil schien zu verstehen, dass mir diese Sache eher lästig war. Er dagegen schien darin ein Abenteuer zu sehen. “Das ist ja interessant ” hörte ich Phil aus dem Flur murmeln “tatsächlich eine Nachricht….” Sich am Kopf kratzend kam Phil zurück ins Wohnzimmer. “Ist aber nur ein Foto, wer schickt denn ein Foto auf sein verlorenes Telefon?” Er reichte mir das Smartphone. Ich musste das verwackelte Bild noch nicht einmal vergrößern, schon begann sich in meinem Kopf alles zu drehen. Und das lag definitiv nicht am Weißwein.

“Schatz, ist alles in Ordnung?”, Phil sah mich besorgt an. Ich schreckte hoch, versuchte meine Gedanken zu ordnen. Was hatte er von dem Foto gesehen? “Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen.” In seiner Aussage schwang eine Frage mit, die ins Leere lief. Einen Geist gesehen- ja, das konnte man wohl so sagen. Ich musste raus. “Nein, nein, alles in Ordnung”, sagte ich schnell und wahrscheinlich wenig überzeugend, “Ich glaube nur der Wein… Ich brauche ein bisschen frische Luft.”. Ich hastete zur Garderobe. Phils Fragen oder Kommentare ignorierend nahm ich meine Jacke und flüchtete nach draußen. Ich lief mit schnellen Schritten die Straße entlang und immer weiter, bis ich mir sicher war, dass Phil mir nicht folgte. Wie würde ich mich da nur wieder heraus manövrieren? Wie nur konnte ich meinem Verlobten meinen panischen Abgang erklären? Und wichtiger noch: Wie um alles in der Welt, konnte ich das erklären, was ich da in der Hand hielt? Mit zitternden Händen schaltete ich das Display des Smartphones ein, auf dem so gleich jenes Foto erschien. Jenes Foto, das so weit weg war, das in eine andere Welt gehörte, eine andere Zeit, das unmöglich hier und jetzt – und doch war es das, aufgetaucht aus dem Nichts und hineingeplatzt in meine kleine, heile Welt.

Ich schaute das verwackelte Bild an. Verwackelt deshalb, weil es an einem feucht-fröhlichen Abend entstanden war, als die Stimmung nach den langen Reden anlässlich unseres Studienabschlusses endlich ausgelassener wurde, wir erfolgssicher in unsere soeben begonnene Zukunft lachten – und ein Typ mit Gin Tonic in der Hand Marlene anrempelte, die gerade den Auslöser betätigte. Das Foto – ein Selfie aus der Zeit vor Selfiesticks und übertriebenem Beauty Mode – zeigte vier Personen, zwei junge Männer, zwei Frauen, frisch gebackene Mediziner, wie beste Freunde, mit von Longdrinks und Freude geröteten Wangen. Die glücklich strahlenden Gesichter sprachen von großen Zielen, Selbstvertrauen und Enthusiasmus, und waren dabei so ahnungslos, nicht wissend was die Zukunft tatsächlich bringen sollte. Ich betrachtete den jungen Mann, der auf dem Bild zwischen Marlene und mir stand und konnte nicht glauben, dass er wieder da war. Ein Toter, der als digitaler Geist zurück gekommen war, um mir den Boden unter den Füßen wegzureißen.

Wie konnte das sein? Ich versuchte mich zu sammeln. Sicher gab es für alles eine logische Erklärung, die gab es am Ende doch immer. Ich setzte mich auf die Gartenmauer eines der Nachbarhäuser und umklammerte das Telefon mit beiden Händen. Klar, der Wein und meine Müdigkeit hatten mir einen Streich gespielt, das war alles nicht real. Ich verspürte den Drang, das Telefon einfach auszuschalten. Was ich nicht sehen konnte war auch nicht da. Dann würde ich einfach zurück zu Phil gehen,  eine Erklärung für mein Verhalten finden, wir würden schlafen gehen und alles würde so weitergehen wie bisher. Ich starrte das Telefon an… Nein, das konnte ich nicht. Ich öffnete erneut die Nachricht und natürlich war das Foto weiterhin auf dem Display. Das war aber auch schon alles,  ich fand keine weiteren Nachrichten, keine Fotos und auch in den Kontakten war keine Telefonnummer gespeichert. Ich sollte dieses Telefon finden, dies war eine Nachricht für mich, das wurde mir nun zunehmend klar. Einzelne Regentropfen holten mich zurück in die Realität. Hier würde ich mir über kurz oder lang nur eine Lungenentzündung holen, außerdem musste ich früher oder später zurück in die Wohnung,  wenn ich Phil nicht gänzlich beunruhigen wollte. Ich steckte das Corpus delicti in meine Jackentasche und eilte durch den Regen zurück nach Hause.

“Alles gut bei dir?” Phils Stimme kam mir aus dem Schlafzimmer entgegen. “Ja ja” entgegnete ich schnell  ” der Wein…. mir war voll schwindelig plötzlich….” Ich hoffte Phil würde nicht näher nachfragen. ” Vielleicht sollten wir uns das mit den Kisten dann doch nochmal überlegen” kam seine Antwort und ich war dankbar, vorerst nicht nach neuen Ausreden suchen zu müssen. “Ist es okay, wenn ich schlafen gehe,  ich bin hundemüde und morgen kommen die Heinis vom Jugendamt…” Phil unterdrückte ein Gähnen. Ich war erleichtert, gab Phil einen Gute-Nacht-Kuss und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich setzte mich ins Dunkle und meine Gedanken fuhren erneut Achterbahn.  Was hatte all das zu bedeuten? Ich dachte an den Morgen zurück, versuchte mich krampfhaft zu erinnern, ob ich in der Busbucht alleine war. Natürlich hatte ich in meinem Alltagstrott nicht auf mein Umfeld geachtet. Hatte mich jemand beobachtet? Hatte jemand just in dem Moment als ich dort ankam, das Telefon auf den Briefkasten gelegt? Das würde jedoch bedeuten, dass dieser jemand mich, mein Auto und meine Lebensumstände kannte und das war unmöglich. Ein erneuter Ton unterbrach die Stille, ich fuhr zusammen, der Ton kam ohne Zweifel aus dem Flur, aus meiner Jacke. Ich überlegte kurz Phil zu wecken, das erneute Lebenszeichen des Telefons machte mir eine Heidenangst, jedoch verwarf ich den Gedanken schnell wieder. Ich musste mir erst selbst über den Sinn klar werden.  Zitternd lief ich in den Flur und zog das Smartphone aus der Tasche. Das Nachrichtensymbol blinkte. Ich hielt die Luft an und drückte den Knopf zum Öffnen. Diesmal zeigte die Nachricht kein Foto. Ein kurzer Satz stand da geschrieben, mein Herz fing sofort wieder an zu rasen.

Ich konnte nicht schlafen, nicht zur Ruhe kommen. Also tat ich, was mir für gewöhnlich half, um den Kopf frei zu kriegen. Ich zog meine Laufschuhe an und begann die Straße hinab zu joggen. Ich spürte den Regen auf der Haut. Die Tropfen kühlten mein glühendes Gesicht. “Kein Vergehen ohne Reue”. Das war der einzige in der Nachricht enthaltene Text. Und er ließ keinen Zweifel mehr daran, dass er an mich gerichtet war. Dass ich dieses Handy finden sollte. Und daran, dass mich die Vergangenheit einholen würde, wenn ich nichts unternahm. Auf einmal war ich hellwach. Wie löste man Probleme am schnellsten? Durch Konfrontation. Das pflegte Phil zu sagen und er belegte seine Theorie stets mit erfolgreichen Beispielen aus seinem Arbeitsalltag. Konfrontation also. Meine Hände zitterten, aber ich war fest entschlossen, als ich die Nachricht öffnete und das Hörer-Symbol neben der Nummer drückte. Innerhalb von Millisekunden schossen mir Bilder in den Kopf: die Party, der Kongress in Paris, Mikes lebloser Körper auf Intensiv. Mein Herzschlag schien zu pausieren, als ich plötzlich eine Frauenstimme hörte. Es war die Stimme einer automatischen Ansage, die mitteilte, dass die gewählte Nummer nicht erreichbar war. Als mir das – irgendwie ziemlich spät – bewusst wurde, fiel mit einem Schlag alle Anspannung von mir ab. Meine Schultern sackten in sich zusammen, ich warf das Handy in eine Hecke am Gehwegsrand, kauerte mich daneben zusammen, und ließ die Tränen zu, die sich Bahn brachen. Mein ganzer Körper zuckte, als das einzige, das im Dunkeln der Nacht zu hören war, mein eigenes Schluchzen war. Mein Schluchzen im Einklang mit dem Regen.

Ich weiß nicht wie lange ich so da saß. Irgendwann versiegten meine Tränen und ich begann zu frieren. Meine Kleidung war völlig durchnässt und ich wollte nur noch nach Hause und ins Bett. Ich begann mich zu ärgern, über das blöde Handy, die Person die dahintersteckte und dafür gesorgt hatte, dass ich mitten in der Nacht heulend und nass auf einem Gehweg hockte, und über mich selbst, weil ich so hysterisch war. Was passiert war, war passiert, aber ich war ja nicht die Einzige mit einer schwierigen Vergangenheit. Ich war bloß die Einzige, die begann durchzudrehen und sich von ein paar dummen Nachrichten in Panik versetzen ließ. Wenn der mysteriöse Texter etwas von mir wollte, dann wäre er oder sie doch rangegangen, als ich angerufen hatte. So wurde mir das ganze echt zu blöd. Ich wühlte das Handy aus der Hecke hervor und tat endlich das einzig Richtige. Ich lief zu den  nahegelegenen Müllcontainern. Dort löschte ich das Foto vom Handy, schaltete das Handy aus und warf es in den Container für Plastik. Da gehörte es hin! Erleichtert und zufrieden mit meiner Entscheidung machte ich mich auf den Heimweg und dachte an Phil, der bestimmt friedlich schlummernd in unserem Bett lag.

Trotz meiner ausgeprägten Müdigkeit brauchte ich einige Zeit bis ich in einen unruhigen Schlaf fand. In meinen Träumen tauchten immer wieder Bruchstücke von Erinnerungen auf die ich eigentlich längst hinter mir gelassen hatte. Als mich der Wecker zurück in die Realität holte war ich dementsprechend nicht wirklich ausgeruht. Wie an den meisten Tagen war Phil schon unterwegs zu seiner Arbeit. Ich schleppte mich unter die Dusche, kippte den Kaffee hinunter und fuhr zur Arbeit. Zum Glück war heute Freitag. Ein ereignisreicher Arbeitstag rückte die Vorkommnisse tatsächlich etwas in den Hintergrund und ich kam relativ pünktlich zum Feierabend in unserer Wohnung an.

Phil war noch nicht zu Hause, da ich freitags jedoch einen kurzen Arbeitstag hatte war dies nicht ungewöhnlich. Ich wollte die Gedanken an die Vergangenheit so lange wie möglich aus meinem Kopf fern halten, also startete ich mein Ablenkprogramm bestehend aus der Hausarbeit für die während der Woche keine Zeit war. Ich fing damit an, das Bad zu putzen, eine Aufgabe die eigentlich immer an mir hängenblieb. Im Anschluss befüllte ich die Waschmaschine, und begann die saubere Wäsche, die seit geraumer Zeit im Wäschekorb lag zu bügeln. Als ich nach einiger Zeit endlich das letzte Hemd adrett gefaltet in den Schrank geräumt hatte, blickte ich zur Uhr. Phil war spät dran heute. Möglicherweise gab es mal wieder Chaos im öffentlichen Verkehr, dies war eigentlich die einzige Erklärung, warum Phil nicht längst bei mir zu Hause war. Überstunden an einem Freitag waren ausgeschlossen. Ich holte mein Telefon hervor auf der Suche nach einer Nachricht von meinem Liebsten. Nichts. Ich dachte nach, normalerweise meldete sich Phil zuverlässig wenn sich seine Pläne spontan änderten. Jetzt dreh nicht gleich durch, meldete sich meine innere Stimme. Wahrscheinlich hat er sich mit Juan Carlos verquatscht. Ich dachte an unsere kleine Weinprobe und das Gespräch. War das wirklich erst gestern gewesen? Ich drängte die zweifelnden Gedanken beiseite und ging in die Küche.  Gut, so könnte ich Phil wenigstens mit einem gekochten Abendessen überraschen.  Für das Wochenende hatten wir bisher nur lose Pläne, daher bot es sich an, beim Abendessen über die genaue Planung zu sprechen. Ich durchstöberte den Kühlschrank nach Zutaten, verwarf den Gedanken an Pasta und startete schließlich das Risotto-Rezept des Thermomix. Somit war ich einige Zeit beschäftigt, die angegebenen Zutaten in den Mixtopf zu werfen. Nebenbei schielte ich immer wieder in die Richtung meines Mobiltelefons, dieses regte sich jedoch nicht. Ich tippte schließlich selbst eine kurze Nachricht und fügte ein Foto des Abendessen bei. Phil sollte schließlich wissen, was er womöglich verpasste. Das Telefon blieb jedoch weiterhin stumm.

Ich verzog mich ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an, es fiel mir nun zunehmend schwer, mir keine Sorgen zu machen. Allerdings wollte ich auch nicht die hysterische Freundin sein, und gerade nach dem gestrigen Tag befand ich mich genau auf dem Weg dorthin. Also versuchte ich mich auf die Vorabendserie zu konzentrieren und redete mir ein, dass aufgewärmtes Risotto auch schmeckte.

Das aufgewärmte Risotto schmeckte nicht. Allein schmeckte es nicht. Allerdings war mein Hunger nach einer weiteren Stunde des Wartens so groß gewesen, dass ich mir eine Portion davon genehmigte und nun darin herum stocherte. Ich hatte mehrmals bei Phil angerufen, aber das Handy schien abgeschaltet zu sein. Ich hörte nur immer die selbe automatische Ansage wie am Vorabend, die mir jedes Mal eine Gänsehaut verursachte. Ich verstaute das restliche Risotto im Kühlschrank und holte die angebrochene Flasche Wein heraus. Ich brauchte Entspannung – jetzt! Mit einem randvollen Glas ging ich zurück ins Wohnzimmer. “Salud, Juan Carlos! Auf dein Wohl!” Juan Carlos… vielleicht sollte ich es doch einmal bei ihm probieren. Ich nahm einen großen Schluck und wählte seine Nummer. Es ertönte schon mal ein Freizeichen. Ein weiteres. Ich trank noch einen Schluck Wein, dann nach einer Weile meldete sich Juan. Seine anfängliche Verwunderung über meinen späten Anruf wich, als ich ihm erklärte, was los war. Dabei kam ich mir schon etwas vor, wie die hypernervöse zukünftige Ehefrau, die ihren Verlobten in anderen Betten vermutet. Ob das auch Juan von mir dachte? Mann, so konnte das nicht weitergehen! Juan Carlos ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Er hatte nichts von Phil gehört und stellte ein paar Vermutungen an, die mich beruhigen sollten: Akku leer, Handy verlegt, Notfall in der Arbeit – “Erinnerst du dich an den einen Vorfall mit diesem Jungen, der uns den Grillabend versaut hat?”. Ja, irgendetwas war da gewesen. Ich erinnerte mich mehr an meine Enttäuschung darüber, dass der Abend mit Phil und seinen Freunden ins Wasser gefallen war, als an den Grund dafür. Und ich muss gestehen, dass ich mich auch kurz gefragt hatte, ob der Hinderungsgrund nicht vielleicht eher kalte Füße waren und meinem damals noch ganz neuen Freund vielleicht doch alles etwas zu schnell gegangen war… Offenbar war diese Paranoia ein Wesenszug von mir. “Antonia?”, Juans Stimme. “Ja, ja, du hast sicher Recht. Ich warte einfach noch ein bisschen. Guter Wein übrigens.”, reagierte ich dankbar über das Gesprächsthema, das mir mit Blick auf mein Glas zugeflogen war. Juan nahm das Thema freudig an und seine Euphorie als er über den Wein sprach, begann mich zu entspannen. Ich erschmeckte Aromen und schnupperte Birne oder Apfel und beendete das Telefonat mit deutlich gehobener Laune. Ich sprach einen weiteren Toast auf Juan Carlos und leerte das Glas.

Eine Stunde und zwei Gläser Wein später war mir zum Heulen zu Mute. Phil war immer noch nicht da und inzwischen malte ich mir nur noch die schlimmsten Szenarien aus. Vor meinem geistigen Auge sah ich Bilder eines Autounfalls, Phil als schwerverletztes Unfallopfer. Bilder, die sich mit anderen vermischten. Plötzlich war da Mike, der mir einmal genauso vertraut hatte wie Phil, im Krankenhausbett immer blasser und dünner werdend, der den Blick starr auf mich heftete, meine Hand nahm und etwas flüsterte. Ich musste mich nah zu ihm beugen, um seine mühsam hervorgebrachten Worte verstehen zu können, sein geflüstertes “kein Vergehen ohne Reue”.

Ich schreckte auf. Außer Atem schaute ich mich um. Ich war in meinem Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand ein leeres Weinglas. Juan Carlos. Phil! War er zu Hause? Ich stand auf, meine Gedanken bei Mike und den Bildern dieses höllischen Alptraums. Benommen ging ich ins Schlafzimmer und schaltete das Licht an. Natürlich war das Zimmer leer. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte die Zeit an, 1:36 Uhr. Das ergab doch alles keinen Sinn. Der Traum, die Tatsache, dass Phil nicht zu Hause war, dieses blöde Handy! Was sollte das alles bedeuten? Ich ließ mich aufs Bett sinken und stütze den Kopf in die Hände als ich glaubte den Schlüssel in der Wohnungstür zu hören. Ich stand auf und ging Richtung Flur, von wo aus mir ein gebeutelt aussehender Phil entgegenkam. “Horror auf der Arbeit”, seufzte er als er seine Jacke an die Garderobe hängte. Als er mich ansah, wurde sein Blick sorgenvoll, “Hey, es tut mir Leid, dass ich mich nicht gemeldet habe! Mein Akku war leer, ich war mit Quint in der Notaufnahme und konnte dich nicht kontaktieren. Ist alles okay bei dir?” Ehe mein Verlobter sehen konnte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten, fiel ich ihm endlich in die Arme.

Trotz meiner Erschöpfung benötigte ich noch einige Zeit bis ich einschlafen konnte. Die Ereignisse der letzten Tage spukten in meinem Kopf herum und ließen mir keine Ruhe. Gerade nach dem Fund des ominösen Telefons und dessen Inhalt hatte ich mir wirklich große Sorgen um Phil gemacht. Jetzt, mit etwas Abstand betrachtet, löste sich meine Anspannung zunehmend. Möglicherweise waren die letzten Wochen bei der Arbeit doch härter gewesen als ich mir eingestehen wollte. Und unser letzter Urlaub lag auch schon Monate zurück. Ich hatte den Stress der letzten Wochen ignoriert und jetzt rächte sich meine Psyche, das musste es gewesen sein. Ich begann mich zu entspannen, Phil lag neben mir, das Telefon war entsorgt, mit Gedanken an unseren letzten Sommerurlaub auf Mallorca schlief ich schließlich ein.

Die Klingel riss mich aus meinen Träumen. Phil drehte sich geräuschvoll auf die andere Seite, sein Zeichen dafür, dass er den Lärm sehr wohl mitbekommen hatte, er aber nicht vorhatte, deswegen das Bett zu verlassen.  Ich stand mit Mühe aus dem Bett auf, zog mir meine Sweatjacke über und ging zur Haustür. Ich öffnete die Tür und sah niemanden. Ich spürte Ärger in mir aufkommen. Wegen eines blöden Klingelstreichs hatte ich das Bett verlassen. Ich hatte die Tür bereits fast wieder geschlossen als mein Ärger in schiere Panik umschlug. Da lag es wieder, auf der Fußmatte vor unserer Wohnung, als wäre es nie woanders gewesen – das Mobiltelefon.

One thought on “Nachhall

  1. Zack! Ein weiterer Favorit in meiner bisherigen Liste! Wahnsinn! Was ein gelungenes Werk!
    Dein Einstieg war sehr einladend und anregend geschrieben. Deine Absätze haben für einen angenehmen Leseflow gesorgt. Dein Schreibstil hat mich persönlich hundertprozentig überzeugt! Somit habe ich mich auch total in deine HP verliebt oder mich vielleicht sogar etwas mit ihr identifizieren können…
    Auch deine Kunst, Beziehungen/Gefühle oder Situationen zu be/umschreiben ist einfach grandios!
    Wahnsinn! Du hast es sowas von ins EBook verdient!
    Meine Stimme hast du!:)

    Wenn du Lust hast, lese doch auch mal meine Geschichte „was sich liebt das hackt sich!“ würde mich freuen!;)

    Herzlich – Lia 🌿

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