Ralf3107Nein

Prolog

Kennen Sie diese Schublade?
Selten geöffnet und doch glaubt man genau zu wissen, was sich darin befindet: Die obsolete Kommunikationstechnik der letzten Jahre – Handys und „Smartphones“, Ladekabel und verbunden damit jede Menge Erinnerungen in Form von gespeicherten Filmchen, Nachrichten und eben Fotos.

Wahrscheinlich hat heute jeder so eine Schublade.

Ich zumindest habe eine.

Vom alten, unzerstörbaren Tastentelefon, bis hin zum 3 Jahre alten Smartphone. Und genau dieses brauche ich jetzt.

Denn zu stark beschleunigt auf den Boden gelegt, überlebt selbst das beste, neue Handy in den seltensten Fällen.

Zum Glück startet für mich in wenigen Stunden das wohlverdiente Wochenende – „Quality time“ wie man heute so schön sagt. Mein Disponent lässt mich schon seit geraumer Zeit in Ruhe. Er kennt meine Geschichte. Und jetzt ist die Zeit gekommen, sie zu erzählen.

Aber vorher muss ich dieses Handy holen.

Mein Sohn hat es hoffentlich schon bereit gelegt und, für den anstehenden Wochenendausflug, seine Sachen gepackt.Wobei. Er ist vierzehn Jahre alt. Wirklich schon vierzehn? Na, was soll´s. Wer in diesem Alter anders war, werfe bitte den ersten Stein oder frage sich wenigstens, was da eigentlich schief gelaufen ist.

Aber er ist ein toller Junge und hat sich anständig entwickelt. Seine Noten sind gut und es ist ihm freigestellt, was er damit anfangen möchte.

Man sieht nur noch manchmal den Schmerz in seinen Augen.

Er war dabei.

Ich hatte es mir im Laufe der Zeit zur Aufgabe gemacht, sämtliche, bisher geschossenen Handyfotos zu sichern. Normalerweise landen alle Bilder, ohne Vorauswahl, auf meiner externen Festplatte. Später sortiere ich aus, beschrifte und katalogisiere alle übrig gebliebenen Fotos. Ich möchte so viele, wie nur irgendwie möglich, behalten. Weniger, um in Erinnerung zu schwelgen, sondern vielmehr, um die Geschichten, die dahinter stehen, so detailreich wie sie nun einmal waren, zu erhalten.

Beim letzten Handy, meinem Ersatztelefon, habe ich das nicht getan. Ich weiß auch noch nicht, ob ich das irgendwann tun werde. Vielleicht sollte diese eine, spezielle Geschichte nur noch dieses eine Mal erzählt werden. Aber diese Entscheidung ist noch nicht getroffen worden. Wir werden sehen.

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9.30 Uhr

Marinestützpunkt Olpenitz, Minenjagdboot Überherrn

Ständiger NATO- Verband MCMFORSOUTH 2004/1

Auslaufen

Es ist kalt – zu kalt – Es ist Winter. Ich ziehe meinen blauen Parka mit den Rangabzeichen eines Hauptgefreiten und der deutschen Flagge auf beiden Ärmeln etwas enger um mich. Das raue Gewebe fühlt sich inzwischen so vertraut an wie eine zweite Haut. Ich ziehe noch ein letztes Mal an meiner Zigarette und schnippe sie in das Hafenbecken. Ein leises Zischen der ausgehenden Glut geht im Donnern der beiden Schiffsdiesel unter.

Mit steif gefrorenen Fingern drücke ich den Sendeknopf der Gegensprechanlage.

„Brücke von Achteraus!“

„Brücke hört!“

„Achterdeck meldet alle Leinen los und an Deck, Fender in Position. Achteraus meldet achtern freie Fahrt bis zur Hafenmole!“

Ich kann das Augenrollen förmlich hören.

„Verstanden Achteraus!“

Oha? Keine Rüge diesmal? Na, vermutlich wollen die da vorne auf der Brücke auch einfach nur noch weg und raus auf die raue Ostsee.

Mir solls recht sein. Grinsend zünde ich mir eine neue Zigarette an. Der erste Zug schmeckt würzig und warm. In den nächsten Monaten werden dieser noch tausende folgen.

Im normalen Transit beginnt die erste Seewache mit dem Auslaufen. Bei uns an Bord beginnt an geraden Kalendertagen die Steuerbordwache. Wir laufen 9.30 Uhr aus. Der erste Wechsel wird bereits in einer halben Stunde sein, schließlich herrscht hier Ordnung. Dann übernimmt für zwei Stunden die Backbordwache, während wir dem Smut für das anstehende Mittagessen zuarbeiten, Müßiggang betreiben, lesen, rauchen oder Reinschiff machen, je nach Dienstrang. Wie üblich, werde ich mich wieder zum Kartoffeln schälen melden. Ich kann das glibbrige Gefühl schon jetzt wieder spüren, das sich nach gefühlten 100 Kartoffeln an den unwilligen Händen einstellt.

Im Anschluss heißt es dann „Aaaa, für die Steuerbordwache backen und banken!“.

Danach geht es dann für 2 Stunden zurück auf Wache, die Backbordwache erhält den Befehl zum Mittagessen. Um 14 Uhr findet der nächste Wechsel statt, ab jetzt, bis zum nächsten Tag mittags, im 4- Stunden- Takt. Die normale Seewache eben. Wir sind daran gewöhnt.

Während der Seewache sind verschiedene Posten zu besetzen, abhängig vom Dienstgrad, von der Verwendungsreihe, von Befehlen und von geduldeten Absprachen untereinander.

Als einer der dienstältesten Mannschaftsdienstgrade an Bord genieße ich gewisse Privilegien. Ich habe, schon lange vor dem Auslaufen aus dem Heimathafen, für mich beschlossen, so wenig wie möglich an dem Platz meiner eigentlichen Verwendungsreihe zu verweilen, und stattdessen den Posten zu begleiten, an dem ich mich derzeit befinde. Ich stehe im Achterausguck, kann dabei ungestört rauchen, pinkeln, wenn nötig und nachts auch mal ein kleines Nickerchen halten. Ich bin gern an der frischen Luft hoch über den Wellen. Hier schmeckt man das Wasser auf der Zunge und der Wind bläst die Gedanken frei. Ich arbeite für mein Leben gern auf dem Oberdeck und genieße dabei den Blick auf die unendliche Weite des Meeres. Ich liebe diesen Platz hier einfach.

Langsam, mit etwa 4 Knoten, tuckern wir aus der Hafeneinfahrt auf die Ostsee zu. Die Gebäude werden langsam kleiner, wir nähern uns den beiden Molenköpfen.

Ich zücke mein Handy und versuche mit klammen Fingern und einem brennenden Auge, vom beißenden Qualm der, in meinem Mundwinkel baumelnden Zigarette, ein schnelles Foto zu erhaschen.

Die beiden Schiffsschrauben verwirbeln das Wasser am Heck zu einer hektisch wallenden, weiß- grünen Masse. Die Wellen, die daraus entstehen, bewegen sich träge auf die Molenköpfe zu.

Zu meiner linken sehe ich noch den SAR- Hubschrauber stehen. Davor der Funkmast des Stützpunktes und das dazugehörige, mit den typischen, roten Ziegeln ummantelte Wirtschaftsgebäude. Zwei kleine, schwarze Punkte schwenken ihre weißen Uniformmützen. Sie bilden die Nachhut des üblichen Ehrengeleites, welches jedes Schiff erhält, das zu so einer Mission aufbricht, wie der unseren.

Mein Blick geht nach oben, während am wolkenlosen, strahlend blauen Himmel ein paar Möwen lautlos Richtung Kappeln segeln. Vermutlich erhoffen sie sich, ein wenig vom Beifang der immer seltener anlegenden Fischerboote zu erhaschen.

Die Navigationsmarkierungen an Land, zwei sich mit den spitzen Enden zugewandten Dreiecke, treffen sich erst, überkreuzen sich dann und entschwinden schließlich am Horizont.

So entsteht am 2.1.2004 um 9.45 Uhr das Bild Nummer 1.

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21.23 Uhr

54°58´02.25´´ N 10°07´47.59´´ E Ostsee, etwa 1 Seemeile vor der Küste Damps

Ankerplatz Minenjagdboot Überherrn

Ankerwache

Wir sind zurück. Vier Monate, weit, weit weg von zuhause, endlich vorüber.

Unterwegs gab es meterhohe Wellen im Atlantik, bei denen wir uns sicher waren, dass wir nicht mehr lebend davon kommen würden.

Ich weiss nicht genau, ob es diese viel beschworenen „Monsterwellen“ waren oder nur die normale Wellenhöhe. Gefährlich war es aber so oder so.

Am 11. März des selben Jahres fanden in Madrid Zuganschläge statt – Es war überall in den Nachrichten. Wohl deshalb empfing uns, als wir ein paar Tage später im spanischen Barcelona einliefen, die Mittelmeerflotte der US- Navy und diverse andere Kriegsschiffe der NATO. Ein beeindruckender Anblick – beängstigend. Wirklich sicher fühlten wir uns nicht. Diese Art der Truppenpräsenz stieß bei uns eher auf eine Art Unverständnis.

In Casablanca – Marokko haben wir festgemacht und uns den riesigen Markt von Rabbat angeschaut. Für die Preisverhandlung, über den kleinen, handgeknüpften Gebetsteppich, der mittlerweile im Flur liegt, musste ich weit über meinen deutschen Schatten springen. Ein hartes Stück stundenlanger, gegenseitiger Offerten – aber voller gegenseitigem Respekt.

Dazu wurde der obligatorische, orientalische Tee serviert. Ein Geschmack – so vielfältig und tief wie die Sitten des Landes – ein Gedicht. Der aromatische Duft erfüllte mich noch lange danach.

Wir bewunderten die Stadt aus Sandstein, La Valetta auf Malta, durchfuhren die Straße von Medina Richtung Norden und sahen einen Ausbruch des Stromboli bei Nacht. Ein Naturschauspiel, welches an Kraft und Intensität kaum zu übertreffen ist. Eigentlich sind unsere menschengemachten Problemchen doch so klein.

Wir verbrachten das Wochenende in Palermo, auf Sizilien und bestiegen den Ätna.

Auf Mallorca liehen wir uns Motorräder aus – Bei Gott, es waren originale Harley-Davidson mit glänzendem Chrom und einem Sound, der die Erde erbeben ließ. Wir erkundeten den wilden Nordwesten der Insel.

Natürlich war es kein bezahlter Urlaub mit Y- Tours, sondern ein echter NATO- Einsatz. Die scharfe Minensprengung vor der Küste Frankreichs werde ich niemals vergessen. Aber kein Vergleich zum Ausbruch des Stromboli.

Unfassbar, welche unglaublichen Mengen an Minen und anderer Waffen noch auf dem Grund der Meere ruhen.

Jetzt, einige Wochen später, nach 8 Stunden Transit durch den Nord- Ostsee- Kanal, liegen wir im Übungsgebiet der Bundesmarine, vor den Toren Damps.

Ich habe gerade meine Ankerwache angetreten. Laut Wetterbericht, den ich vor Beginn noch auf der Brücke eingesehen habe, soll es ruhig bleiben. Wolkenlos, maximal 2 Knoten Wind aus 260 bis 290, also von Land aus, keine Wellen und naturgemäß keine nennenswerte Strömung versprechen eine ruhige Schicht.

Zeit also, ein weiteres Foto zu schießen. Schnell zücke ich mein Handy.

Ich schaue Richtung Damp, sehe die Lichter des Ostseeresorts, der Rehaklinik und der Ostseeklinik, in der auch die Krankenhausszenen für die TV- Serie „Der Landarzt“ gedreht wurden, wie man hier stolz erzählt. Am Strand lodern 2 Lagerfeuer, manchmal, wenn der Wind günstig steht, weht er ein paar Musikfetzen in meine Richtung – Gitarre, sanfte Stimmen – Ich summe mit. Ich meine sogar, den Duft von Bratwürsten in der Nase zu haben.

Im gleichen Moment, als ich auf den Auslöser drücke, beginnt an der Promenade ein Feuerwerk. Ein wunderbares Motiv für Bild Nummer 2.

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0.11 Uhr

Zwickau, Diskothek Fun

Sie

Mit etwas Abstand betrachtet, war das wohl dieser eine verhängnisvolle Abend, an dem diese Geschichte ihren eigentlichen Anfang nehmen sollte.

Zwei Tage nach dem Einlaufen in den Heimathafen, während der Zugfahrt Richtung Heimat, entschieden mein bester Freund und ich, dass wir meine Rückkehr, entsprechend unseres Alters, vernünftig feiern müssen. Wir waren damals schon gestandene Männer, so schnell warf uns nichts um und von den Freuden des Lebens hatten wir beide schon ausgiebig kosten können. Mit Anfang 20 hat man aber noch das Gefühl viel zu verpassen, wenn man nicht regelmäßig die Angebote der einschlägigen Nachtclubs wahrnimmt.

Wir einigten uns auf die Discothek Fun in Zwickau. Vorteil der Lokalität, neben der Nähe zu unserem Wohnort, waren unbestreitbar die billigen Getränkepreise.

Schulterlange, schwarze Haare, etwa 1,70m groß, eisblaue Augen, ein vielversprechendes Lächeln auf den schmalen Lippen. So steht SIE am Nebentisch. Sie ist keine Frau, der man klassische Schönheit attestieren würde. Aber sie hat das gewisse Etwas – Das ist sicher.

Die beträchtliche Menge Alkohol an diesem Abend tut ihr übriges.

Dass ich sie, von diesem Abend an, für einen wirklich langen Zeitraum nicht mehr loswerden würde, ist mir selbstverständlich nicht bewusst.

Jetzt, es wird bereits hell, die Vögel zwitschern bereits putzmunter vor sich hin, liegt sie neben mir und ich lasse die letzten Tage Revue passieren.

Ich hatte noch nie so viel Sex. Noch nie so ausgefallen und auch noch nie so hingebungsvoll. Ich gebe es zu, ich bin ein wenig stolz auf mich.

Geplant war ursprünglich ein Kinobesuch, essen gehen,, Zeit zusammen verbringen, kennenlernen. Naja, zumindest anatomisch betrachtet, waren diese Tage wirklich sehr lehrreich.

Es ist tatsächlich unglaublich schwierig, die Geschichte zu erzählen, ohne die gewonnen Erkenntnisse der letzten Jahre einfließen zu lassen.

Rückwirkend betrachtet war es leider so, dass ich mich vom körperlichen und wahrhaftig intimen Aspekt wirklich habe blenden lassen.

Mir war damals nicht bewusst, wie manipulativ, wie herrisch und psychisch labil sie war.

Nein, zu diesem Zeitpunkt, als Bild Nummer 3 entstand, hatte ich fürwahr die rosarote Brille auf.

Es zeigt die DVD von Shrek 1, den wir uns ansehen wollten, bevor wir ins Kino zu Shrek 2 gehen wollten. Dazu ist es dann nur eben nicht mehr gekommen…

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18.34 Uhr

Bernsbach, Gaststätte Bahnschlößchen

Hochzeitstag

Ich bin so unfassbar aufgeregt.

Die Nacht vorher hatte ich kaum geschlafen, nach einem völlig desaströsen Junggesellenabschied, bei dem sich mein Trauzeuge in mein Auto, dass ich selbst chauffierte, erbrochen hatte.

Unsere letzte Nacht in Freiheit verbrachten wir nicht, wie normalerweise üblich, getrennt voneinander, sondern gemeinsam, ohne Freunde und nur mit unseren Trauzeugen, die wir etwa ein Jahr vorher kennenlernten, zusammen in jener Diskothek in Zwickau, in der wir uns das erste Mal sahen.

Nach diesem ersten Abend ging alles sehr schnell. Sie, gerade arbeitslos geworden, brach ungefähr ein halbes Jahr später, alle Brücken hinter sich ab und zog zu mir nach Schleswig- Holstein. Schließlich hatte ich ein gutes Einkommen und durch meinen Job bei der Bundesmarine, gewisse finanzielle Vorzüge.

Sie fand relativ zügig eine neue Anstellung in der vorher erwähnten Ostseeklinik in Damp und übernahm die Kontrolle in jedem Bereich meines Lebens, in dem ihr das möglich war. Letztenendes ging dies so weit, dass mir ein Taschengeld zugestanden wurde und ich keinen Zugriff mehr auf meinen Sold und meine Konten hatte.

In dieser Zeit lernten wir auch unsere Nachbarn kennen. Ein Ehepaar, bei dem ein Partner ebenfalls bei der Marine beschäftigt und oftmals nicht zuhause war.

Die Bekanntschaft intensivierte sich und es entstand eine Freundschaft. Ob vielleicht noch mehr, zumindest bei den zuhause verbliebenen Partnern, konnte ich damals noch nicht einschätzen.

Fakt ist aber, dass sie unsere Trauzeugen wurden.

Ich fühlte mich sicher, hatte ein geregeltes Einkommen, eine, mich liebende, Freundin zuhause und war glücklich. Ich genoß die Zeit, den Sex, die Spaziergänge am Strand und die ländliche Umgebung in der Nähe der Ostsee.

Ein halbes Jahr nach dem Einzug in die erste gemeinsame Wohnung, machte sie mir, vor mir kniend, während ich auf dem Sofa saß, einen Antrag. Natürlich kam mein Ja wie aus der Pistole geschossen. Mit keiner Wimper dachte ich über die Konsequenzen nach. Mir kam nicht in den Sinn, wie schwer dieses Ja wiegen würde. Ich liebte sie.

Dass sie mir zu diesem Zeitpunkt bereits diktierte, mit wem ich Kontakt haben durfte, wann ich wie lange mit dem Auto in Kappeln sein sollte, von der zugeteilten, täglichen Bierration ganz abgesehen, hatte ich zu diesem Zeitpunkt völlig vergessen.

Fortan übernahm sie die komplette Plaung, von der Auswahl der Ringe, über das Lokal, bis hin zum Standesamt. Ich war nicht allzu enttäuscht, von allen Aufgaben, außer den Pflichten, wie dem Antrag vom Einwohnermeldeamt und dem persönlichen Gespräch beim Pfarrer, befreit zu sein. Es war ihr großer Tag und den sollte sie sich auch so gestalten.

Dass dahinter ein lange vorher beschlossener Plan stand, wusste ich zu diesem Zeitpunkt, natürlich, wieder einmal nicht.

Jetzt sitze ich hier, im Wohnzimmer ihrer griesgrämigen Großmutter, halte zitternd meine Tasse Kaffee und versuche krampfhaft, den Würgereiz zu unterdrücken. Selbstverständlich gelingt mir das nur ein einziges Mal, bei drei Versuchen.

Inzwischen am Schwarzenberger Schloß angekommen, erwarte ich sie, wie verlangt, am Torbogen. Es schüttet wie aus Eimer. Dann rollt sie, um einige Minuten verspätet, in einer weißen Limousine, chauffiert von meinem Trauzeugen, vor. Sie steigt aus dem Auto aus, kommt lächelnd auf mich zu und es hört schlagartig auf zu regnen. Ja, sogar die Sonne lugt hervor. Ein gutes Zeichen, oder?

Die anschließende standesamtliche Trauung lasse ich über mich ergehen, in meinem Kopf völlige Leere, mit einem milchigen Schleier vor den Augen. Ich sage, nein ich krächze mit belegter Stimme mein „Ja, ich will“ auf, küsse sie, steige mit ihr ins Auto. Wir fahren zurück in ihr Heimatdorf, vorbei am Haus ihrer verhassten und mit ihr in stetigem Wettbewerb stehenden Schwester. In dem Moment gibt die Hupe des Autos den Geist auf. Ein Zeichen, oder?

Nach einer endlos erscheinenden Rundfahrt, schliesslich muss ja Jeder die Braut und ihren Erfolg sehen, kommen wir an der Kirche an. Wir gehen hinein, nehmen Platz, sie betet. Ich nicht. Der Pfarrer spricht seine Worte, ich höre nicht zu, bin in Gedanken bereits beim Vollzug der Ehe. Sie betet. Ich nicht. Wir verlassen die Kirche. Man erwartet uns mit allerlei Tamtam, wie dem traditionellen Holzstamm durchsägen, was der arme Bräutigam, in dem Fall dummerweise ich, was ich mir in diesem Moment erst einmal wieder ins Gedächtnis rufen muss, mit einem stumpfen Miniaturtaschenmesser beginnen wird. Die Braut muss mir im weiteren Verlauf besseres Werkzeug, durch den Konsum alkoholischer Getränke, mehr oder weniger teuer erkaufen. Schlussfolgernd daraus ist das vermutlich der Anfang vom Ende dieses Tages.

Natürlich hat sie gehörig die Lampen an, als ich, schweissgebadet und am Ende meiner Kräfte, endlich den Stamm bezwungen habe.

Der weitere Abend plätschert mehr oder weniger stimmungsvoll dahin. Die obligatorischen Spiele folgen, wir beschmieren uns mit Essen, beim Versuch, uns gegenseitig zu füttern. Ich versage kläglich beim Hochzeitstanz und trete nicht nur ihr, sondern auch mir, mehr als nur einmal auf die Füße.

Und dann entsteht dieses Foto, Bild Nummer 4. Die Trauzeugen und das Ehepaar. Ihre Trauzeugin zu meiner linken, die Hände vor ihrem Schoß gefaltet, daneben ich, den Arm auf dem Rücken meiner Braut, ihr linker Arm übergeht mich und liegt auf der Schulter ihrer Trauzeugin, leicht nach rechts geneigt, in Richtung meines Trauzeugen, der seine linke Hand um die Hüfte meiner Frau geschlungen hat.

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17.49 Uhr

Kappeln, unsere Wohnung

Sofakissen

Die zurückliegenden Wochen waren hart. Nach unserer Hochzeit blieb nicht viel Zeit. Ein paar Tage danach liefen wir aus und verbrachten drei Wochen in litauischen Gewässern, auf der Suche nach den gefährlichen Hinterlassenschaften des zweiten Weltkrieges. Wir fanden zahlreiche Minen, Torpedos und allerlei andere Munition. Jede Sprengung, jedes manuelle Entschärfen eine eigene Geschichte für sich. Mein Posten während der Minensuch- und Schleichfahrt war in der stets dunklen, nur von schwacher, roter Alarmbeleuchtung unzureichend erhellten und immer eiskalten Operationszentrale am Überwasserradar. Da wir in Fischereizonen operierten, lag die ständige Aufmerksamkeit auf kleinen, auf dem Bildschirm kaum wahrnehmbaren Signalbojen der Netzbegrenzungen. Die Fischerboote selbst waren kein Problem. Meine Radaranzeige leuchtete wie ein Christbaum auf, sobald sie unsere Erfassungsgrenze erreichten.

Wir schliefen während dieser Zeit auch nicht unter der Wasserlinie, aufgrund der permanent bestehenden Gefahr explodierender Minen. In dem Fall hätten wir keine Überlebenschance gehabt. So suchten wir uns in unseren Gemeinschaftsräumen, den Messen, irgendwo einen Platz für ein kurzes Nickerchen. An tiefen Schlaf war sowieso nicht zu denken, aufgrund der erwähnten Situation. Als Brandtruppführer war ich vom Beginn bis zum Ende der Minenfahrt im silbernen Flammschutzanzug, liebevoll „Gary Glitter“ genannt, gekleidet. Ich aß und wusch mich im Anzug und ich schlief auch darin, notdürftig auf dem Boden, unterm Tisch, in Embryonalhaltung zusammengerollt, mit einem Feuerlöschlauch als Kopfkissenersatz.

Aber all das nahm ich gerne in Kauf, wusste ich doch, beziehungsweise glaubte ich zu diesem Zeitpunkt noch zu wissen, was mich danach erwartete.

Während dieser Zeit hatte die gesamte Besatzung selten die Gelegenheit, den Kontakt zu den Angehörigen zuhause zu pflegen. Es herrschte ausnahmslos Funkstille. Ich konnte vielleicht fünfmal meine Frau anrufen, wobei wir lediglich einmal wirklich Zeit zum reden hatten. Die anderen Male war sie kurz angebunden oder gar nicht zu erreichen.

Kurz nach Beendigung unserer Mission holte ich mir die notwendigen Unterschriften und Empfehlungen meiner Vorgesetzten ein. Mein Ziel, mein ausdrücklicher Wunsch, war es von vornherein, meine Zeit bei der Bundesmarine zu verlängern, die Laufbahn in einem höheren Dienstgrad fortzusetzen und, im besten Fall, als Berufssoldat in Rente zu gehen. Wie es aber nun mal so ist, fällt irgendwo das Schicksal lachend vom Stuhl, sobald man längerfristige Pläne schmiedet. Wie auch in meinem Fall.

Endlich habe ich Dienstschluss. Das erste Mal nach unerträglich langen drei Wochen. Ich will nur noch nach Hause, zu meiner Frau. Lächelnd drehe ich den schweren, goldenen, mit einem glänzenden, schmalen Wellenband aus Weißgold umrandeten Ehering mit meinem Daumen am Ringfinger und schalte einen Gang hoch. Der Ring sitzt mittlerweile etwas lockerer. Der permante Druck, die allgegenwärtige Gefahr und der dadurch entstandene Stress, haben mich einige Kilos gekostet.

Ich verlasse den Stützpunkt, winke der Hauptwache freundlich zu und gebe Gas. Heim, nur noch heim. Die Kreuzung, rechts nach Olpenitz, links zum Strand und das an der Ecke stehende, kleine Häusschen mit immer frischen Eiern und anderen Produkten eines hiesigen Bauers, mit Vertrauenskasse, fliegt an mir vorbei. Den nächsten Kilometer geht es nur gerade aus. Ich beschleunige auf 120. 130. 140. Bis dieses lebensmüde Rebhuhn plötzlich auf die Straße, direkt vor mein Auto, springt. Für eine Vollbremsung reicht es nicht mehr. Also Lenkrad fest in beide Hände und darauf zu. Ich merke den Aufprall nicht einmal. Allerdings ist der Anblick völlig surreal und ähnelt einem Sofakissen, gefüllt mit braunen Federn, das explodiert. Mein Sichtfeld füllt sich mit einer Wolke aus unzähligen Federn, kleinen Fleischklümpchen und hellrotem Blut. Es macht lediglich „PUFF“. Ich weiss nicht, ob ich es mir nur einbilde oder ob es tatsächlich ein Geräusch ist. Aber mehr ist da nicht.

Ich entscheide mich gegen Anhalten und brettere weiter Richtung Zuhause. Wieso auch nicht? Wiederbelebt bekomme ich das arme Tier ja doch nicht mehr.

Endlich zuhause angekommen, sehe ich nur noch den Schatten des Nachbarn, meines Trauzeugen, wie er eilig in seiner Wohnung verschwindet.

Ich schließe die Tür auf und sehe meine Frau vor mir. Im Schlabberlook, ungeschminkt, die Haare offen und ein wenig wirr, sieht sie mich etwas entgeistert an, sagt aber erstmal nichts. Ich freu mich sehr, sie endlich wiederzusehen. Den Nachbar habe ich bereits vergessen. Ich ziehe sie an mich, spüre ihren Herzschlag, ihre Brüste, rieche ihr Haar und küsse sie. Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals, erwidert meinen Kuss leidenschaftlich und zieht mich lächelnd Richtung Schlafzimmer.

Danach, irgendwie endete es im Wohnzimmer, geht sie wie üblich ins Bad, duscht sich. Ich, beseelt aufgrund der zurückliegenden Höhepunkte, nehme den Antrag auf Verlängerung meiner Dienstzeit um 12 Jahre und betrachte ihn lächelnd. Das Leben ist schön.

Ich stehe auf, noch immer lächelnd und gehe mit dem Antrag in der Hand Richtung Bad. Sie steht nachdenklich im Türrahmen, einen kleinen Ausdruck mit einem schwarz- weißen, undefinierbaren Bild in der Hand, ihr Blick durchdringt mich und ich spüre, wie sich meine Nackenhaare aufstellen. Mein Lächeln verschwindet genauso schnell, wie vor ungefähr zwei Stunden mein erster Höhepunkt kam. Ich halte den Antrag hoch, setze an, um ihr die freudige Nachricht mitzuteilen.

„Schatz, ich bin schwanger. Lass uns wieder nach Hause ziehen.“

Bild Nummer 5 zeigt mich, mit dem Ultraschallbild in den verkrampften Händen, tapfer lächelnd, während ich auf den zerissenen Antrag, der vor mir auf dem Tisch liegt, starre.

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15.31 Uhr

Aue, Amtsgericht

Leere

Nichts ist mehr, wie es einmal war.

Die Nachricht, die vor einem Jahr auf meinem Bildschirm im Büro erschien, hat sich tief in mein Gedächtnis gebrannt.

„Ich kann das nicht mehr. Es ist aus. Ich will die Scheidung. Es tut mir leid.“

Kurz nachdem sie mir eröffnete, sie sei schwanger, forcierte sie den Umzug zurück ins heimatliche Erzgebirge. Im September des selben Jahres endete mein Dienstverhältnis endgültig und es erging mir wie so vielen Kameraden vor und nach mir. Ich fiel in ein mentales Loch. Mein Tagwerk bestand in den ersten Wochen danach aus Bier trinken, Computerspielen und Selbstmitleid. Dass jegliche Intimität zwischen uns wie weggefegt war, trug sein übriges zu meinem Gemütszustand bei. Der Arbeitsmarkt in Schleswig- Holstein war zu jener Zeit völlig am Boden, was ich Woche für Woche schmerzhaft mit der Post undd in Telefonaten zu spüren bekam. Ich hatte jeglichen Halt verloren und fand ihn in Kappeln auch nicht wieder.

Sie arbeitete weiter, schmiss den Haushalt, brachte mich vom Alkohol weg, hatte aber immer seltener Zeit für mich, für uns. Oft kam sie lange nach Feierabend nach Hause, war mürrisch, abwesend, ja oftmals sogar kalt und abweisend.

Als endlich die passende Wohnung gefunden war, kündigte sie ihren Job und managte ab da unser komplettes Leben. Sie trieb mich an, behandelte mich teilweise wie ein kleines Kind. Sehr viel später, als alles vorüber war, meinte sie, sie hätte in der Zeit nach meinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst jeglichen Respekt vor mir verloren, was sich bis zum Ende auch nicht mehr ändern sollte. Sie ertrug mich nur noch.

Der Umzug fand kurz vor dem angestzen Entbindungstermin statt. Es lief alles schief. Geschirr zerbrach, Pflanzen gingen ein, Kleidung zerriss.

Die Geburt selbst hat sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Es war, mit großem Abstand, der bewegenste Moment meines Lebens. Er war kurz, blutig, hektisch und äußerst schmerzhaft. Ich musste mir viele Beleidigungen anhören, von der angebrochenen Hand ganz zu schweigen.

Nichtsdestotrotz war es ein unbeschreibliches Gefühl, dieses neue Leben in den Händen zu halten, die kraftvollen Schreie zu hören, die kleinen Bewegungen zu spüren. Alles Negative verschwand ganz plötzlich, als ich in dieses kleine, runde engelsgleiche Gesicht sah.

Dieses kleine Geschöpf sollte ich für den Rest meines Lebens also lieben, beschützen und aufwachsen sehen. Nur zu gerne stelle ich mich dieser ehrenvollen Aufgabe.

Später am Abend saß ich, noch immer völlig überwältigt, auf unserem Balkon und war erfüllt von Stolz und Dankbarkeit.

Es fühlt sich so gut an, Vater zu sein.

Viel zu spät wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr war, als genau das. Der Vater. Der Ehemann war ich nur noch auf dem Papier, kein bester Freund und schon gar kein Liebhaber mehr.

Ich war nur noch Vater, wir waren lediglich noch Eltern. Der endgültige Todestoß für unsere Ehe.

Ich begann, mehr durch Zufall, als durch konsequentes Bewerben, eine Ausbildung zum Programmierer. Viel Geld brachte das natürlich nicht ein. Wir kamen gerade so über die Runden.

Unser Verhätnis verschlechterte sich rapide und beinahe täglich. Nur dem Kind zuliebe, so ihre spätere Aussage, blieb sie noch bei mir.

Bis zu jener, alles vernichtenden und doch zu erwartenden Nachricht, die, nebenbei bemerkt, zwei Tage vor meiner Abschlussprüfung kam. Wie zu erwarten, schaffte ich den Abscluss nicht und versagte kläglich.

Über Wochen hinweg sorgfältig vorbereitet und bis ins letzte Detail geplant, zog sie ein paar Tage später in eine kleine Wohnung in der Nachbarstadt und ließ mich nur mit dem Nötigsten zurück. Schlafzimmer, Küche, Bad, Wohnzimmer, alles war leergeräumt. Ein paar Kartons standen unordentlich in den Zimmern verteilt herum. All meine Sachen, mein ganzes Leben in einigen wenigen Kartons.

Allerdings war das nur noch Makulatur. Mein schlimmster Alptraum war Wirklichkeit geworden. Ich betrat das leere Kinderzimmer. Sofort gaben meine Beine kraftlos nach, ich sackte zu Boden und verlor augenblicklich jeglichen Lebensmut.

Bis heute weiß ich nicht, wie ich es geschafft habe und woher ich die Kraft nahm, mich aufzuraffen und weiter zu machen.

Recht schnell fand ich eine Anstellung als moderner Sklave, als Zeitarbeiter und wurde von Firma zu Firma gereicht. Nirgendwo wollte man mich lange. Meine Freizeit während des Trennungsjahres verbrachte ich entweder am Computer, in den Fantasiewelten eines Onlinespiels oder jedes zweite Wochenende mit meinem Sohn, manchmal auch länger, beispielsweise, wenn ich sie zum Zug brachte, damit sie zu ihrem neuen Freund, meinem Trauzeugen, fahren konnte. Die meiste Zeit aber saß ich teilnahmslos, ja fast apathisch auf meinem, vom Sperrmüll geholten Sofa und starrte einfach nur die Wand an.

Am Tag des verabredeten Scheidungstermines trafen wir uns vor den großen und respekteinflößenden Toren des Amtsgerichtes. Ich ließ alles über mich ergehen, nur körperlich anwesend, unterschrieb geistesabwesend die Scheidungspapiere und verließ das Gericht, welches ich in Zukunft öfter betreten sollte, als mir lieb war.

Sie kam mir hinterher und zog freudestrahlend eine Flasche Sekt aus ihrer Handtasche.

„Lass uns die Freiheit feiern.“

Bild Nummer 6 zeigt im Vordergrund zwei anstoßende Sektgläser, gefüllt mit dieser widerlich gelben, prickelnden Flüssigkeit und im Hintergrund den grauen Moloch von Aue.

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13.18 Uhr

Markersbach, Pumpspeicherwerk, Staumauer Oberbecken

Eis

Wir hatten uns versprochen, wir sind auch weiterhin Eltern und für unser Kind da. Er ist immer noch unser Mittelpunkt. Wir unternehmen nach wie vor noch recht viel zusammen und das auch ziemlich regelmäßig. Aus diesem Grund auch der Besuch des Pumpspeicherwerkes in Markersbach.

Von der Staumauer des Oberbeckens aus hat man, bei schönem Wetter, eine einmalige Aussicht über das ganze Erzgebirge. Getoppt wird selbige lediglich vom Blick vom Fichtelberg hinab.

Als gebürtiger Erzgebirger ist ein Muss, beide Orte zu besuchen.

Wie auch auf dem Fichtelberg gibt es hier Auskunftstafeln, die die, in der Ferne gerade noch zu erahnenden Sehenswürdigkeiten, Berge und Städte markieren. Von dieser Bronzetafel aus sieht man beispielsweise Schneeeberg oder die Kirche zu Sankt Anna in Annaberg- Buchholz und auch den rotierende Radarspiegel des Auersberges.

Glücklicherweise haben wir heute wirklich gutes Wetter erwischt. Strahlend blauer Himmel, leider bei eisigen Temperaturen. Der Schnee glitzert und es war eine fantastische Fahrt aus dem Tal, durch den Wald hier hoch. Der Winter im Erzgebirge sucht einfach seinesgleichen.

Die letzten Vorbereitungen für den Spaziergang werden getroffen, Sohnemann mag keine Schuhe anziehen und aus seinem Sitz befreit werden möchte er auch nicht. Ob er etwas ahnt?

Trotz Protesten seinerseits gelingt es uns, mit vereinten Kräften, den Bengel ausgehfertig zu machen. Dick eingemummelt, es ist wirklich kalt hier oben, stapft er neugierig und mit großen Kulleraugen, den anfänglichen Unwillen bereits vergessen, ums Auto.

Wir sind allein, kein anderes Auto, kein Wanderer oder Langlaufsportler ist zu sehen. Das Oberbecken gehört vollkommen uns.

Ich stehe vor dieser imposanten Staumauer aus grau- braunen Beton, hier und da mit Strichen weißer Dichtmasse durchzogen, die für die Ausbesserungen der schon sehr betagten Mauer benutzt wurde. Die Höhe bis zur Krone schätze ich auf etwa 20 Meter, plus- minus 5. Am Fuß der Mauer verläuft ein Entwässerungsgraben aus grauen Rasengitterplatten mit ihren typischen sechseckigen Löchern. Ich versuche im Hinterkopf zu behalten, nachher beim Ausparken darauf zu achten. Bei etwa einem halben Meter Tiefe und einem Meter Breite würde ich mir nur unnötige und teure Kaltverformungen am Auto zuziehen.

Das Schild „Betreten auf eigene Gefahr! Kein Winterdienst!“ ignorieren wir geflissentlich.

Wir müssen eben vorsichtig sein. Den steilen, schmalen Weg vom Parkplatz hinauf zur Krone der Staumauer geht alles gut. Ich trage meinen Sohn. Es fühlt sich toll an, wenn er die kleinen Ärmchen um meinen Hals legt, sein Gesicht an meines lehnt und völlig gedankenverloren in die Ferne schaut.

Oben angekommen nehmen wir den Zwerg, wie immer, in unsere Mitte, jeder hält eine der kleinen Patschehändchen, dick in Fäustlinge verpackt, die ungewöhnlich fest zupacken. Aber er ist in Sicherheit. Wir achten auf ihn, beschützen ihn und versuchen, seine kleine Beinchen sicher über die zahlreichen, zugefrorenen Pfützen zu leiten.

Wir steuern auf die Auskunftstafel zu, positionieren den Kleinen darunter und bringen uns für das perfekte Foto in Stellung.

Mit großen, strahlenden blauen Augen und einem kindlich- unschuldigen Lächeln im Gesicht, beobachtet er uns. Er wird gern fotografiert und sein lautes, aus dem tiefsten Inneren kommendes, unschuldiges Lachen, ist jedes Foto, jede Sekunde und jeder Augenblick wert.

Ich zeige ihm mein Foto und freue mich über dieses, aus voller Kehle kommende, Gelächter.

Leider wird es nach diesem Tag nie wieder erklingen.

Dann geht alles unfassbar schnell. Im Nachinein betrachtet, werden aus diesen wenigen Augenblicken Minuten, die immer und immer wieder, bis zum heutigen Tag, vor meinem inneren Auge ablaufen.

Im Augenwinkel sehe ich meine Ex- Frau, wie sie panisch versucht, Halt zu finden. Es ist spiegelglatt, ihr Unterfangen völlig aussichtslos. Wild mit den Armen rudernd sehe ich sie auf das Geländer zum Parkplatz hin zuschlittern. Sie prallt mit so immenser Wucht gegen die etwa 1,50 Meter hohe Absperrung, dass ihr sämtliche Luft aus den Lungen gepresst wird. Im nächsten Augenblick kippt sie vornüber und stürzt.

Ich reagiere wie in Trance, mein Körper gehorcht meinem Gehirn nicht mehr, beide sind vollkommen voneinander getrennt, das Adrenalin durchströmt mich. Während mir mein Handy aus der Hand fällt und ich versuche, festen Halt unter den Füßen zu finden, haste ich auf sie zu. Ich höre mein Herz in der Kehle pumpen. BUMM. BUMM. Ich bin da. Greife nach ihrer rechten Hand, die ohne Kontrolle und wie in Zeitlupe durch die eiskalte Luft wischt und panisch nach Halt sucht. BUMM. BUMM. Erreiche sie. Packe zu. Habe sie. Halte sie fest. BUMM. BUMM. Ihr Blick wandert nach oben, sucht meinen Blick. BUMM. BUMM. Voller Dankbarkeit schaut sie mir, mit weit aufgerissenen Augen und noch immer atemlos, ins Gesicht. Mein Schultergelenk knackt fürchterlich und ein beissender Schmerz bahnt sich aus der Tiefe den Weg nach oben an die Oberfläche. Mehr als ein Keuchen bekomme ich aber nicht heraus. BUMM. BUMM. „Hilf mir!“ BUMM. BUMM. Ich schaue ihr in die Augen. Mein Blick verschwimmt und unsere gemeinsame Zeit rast mir durch den Kopf. BUMM. BUMM. Ich schaue zu unserem Sohn. Ob er versteht, was seiner Mama hier gerade passiert? BUMM. BUMM. Ich schaue wieder nach unten. BUMM. BUMM. „Nein!“ BUMM. BUMM. Und lasse sie los. BUMM. BUMM. Ihr Körper dreht sich in der Luft. Sie fällt kopfüber dem Entwässerungsgraben entgegen. BUMM. BUMM.

Nachtrag

Liebe Conny.
Ohne Dich wäre ich nie auf #wirschreibenzuhause aufmerksam geworden. Du hast mich bestärkt, mein, vermeintliches, Talent zum schreiben erkannt, warst mein Antrieb.

Als ich am Boden lag, hast du mir wieder Flügel verliehen und in den zurückliegenden, schweren Zeiten vorbehaltlos an meiner Seite gestanden. Ohne dich hätte ich niemals den Mut gefunden, diese, meine Geschichte zu erzählen.

Danke. Ich liebe Dich

Lieber Falk.
Du hast meinen Mut wiedergefunden, diese Geschichte, vor der ich so sehr Angst hatte, weiterzuschreiben. Du hast meine Beweggründe und meinen roten Faden verstanden und du hast sie wieder auf den richtigen Weg zurückgebracht. Durch dich hat diese Geschichte die fehlende Tiefe erreicht.

Und ich stehe zu meinem Wort. Memphis und Nashville, du weißt, was ich meine und hast es jetzt schwarz auf weiß.

Danke

One thought on “Nein

  1. Hallo Ralf

    Also, wer das Wort Bengel noch kennt, hat bei mir eh schon gewonnen 🙂

    Nun denn.
    Nun zum Wichtigsten:

    Du hast eine großartige Geschichte geschrieben.

    Komplett genial.
    Meinen Respekt.

    Dein Schreibstil ist ambitioniert und voller Schreiblust.
    Klar, strukturiert und ohne zu viel drumherum.
    Ohne zu viel Schnickschnack.

    Und deine Grundidee ist einfach nur toll.
    Sehr genial.
    Die gesamte Geschichte liest sich wie von einem Profi.
    Sie hat mich gefesselt und berührt.

    Man spürt nicht nur, dass du viel Erfahrung in diesem Bereich hast, sondern auch, dass du das Schreiben liebst.
    Und das überträgt sich auf den Leser.
    Das ist eine Gabe.

    Deine Protagonisten sind hervorragend angelegt, und das Finale ist glamourös und überraschend zugleich.

    Du hast ein ausgeprägtes Erzähltalent.

    Beneidenswert.
    Kommt nicht mehr oft vor.

    Bitte schreib weiter. Und du wirst noch viele bezaubernde Geschichten schreiben und viele bezaubernde Leser erreichen.

    Ich ärgere mich nur darüber, dass du erst so wenige Herzen hast.

    Du hättest viel mehr verdient.

    Mein Like hast du natürlich sicher.

    Ich gratuliere dir ganz herzlich zu deiner Geschichte.
    Dieses Projekt ist wie für dich gemacht.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen.
    Natürlich nur über einen ehrlichen.

    Es wäre mir eine Ehre.

    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Vielen Dank.
    Pass auf dich auf.
    Swen

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