TryskerPistolenspiel

An dem Tag spielten wir mit Pistolen. Wir spielten so, wie wir es schon oft taten. Doch an diesem Tag sollte unser sonst so harmloses Spiel ein böses Ende nehmen. Wer hätte denn erwartet, dass meine Pistole geladen war? Ich, der sonst so penibel darauf achtet, dass nichts passieren kann. Bloß dieses eine und letzte Mal nicht. Die Schreie gehen mir bis heute durch Mark und Bein, und ob ich sie je vergessen werde, steht wohl in den Sternen geschrieben. Der entsetzte Blick. Ein Anblick, in mein Gehirn eingraviert. Für alle Ewigkeit.

Vor einigen Wochen fand Caiden einen Brief im Briefkasten. Kein Absender, dafür mit einem Wachssiegel, allerdings war das Zeichen auf diesem eine einfache Blume, die er niemandem zuordnen konnte. Der Umschlag war dick, und nach der Erwartung prall gefüllt  mit Werbung. Als er ihn jedoch am Küchentisch öffnete, fand er alles, bloß keine Werbung.

Ein ganzer Stapel Bilder war vor ihm ausgebreitet. Von verschiedenen Jahren, gar von seiner Kindheit. Es lagen einige mit seinen Freunden Charon und Knox da, manche mit seiner Ex und sogar eines vom Einkauf letzte Woche, zu erkennen an dem neuen Staubsauger, den er besorgt hatte. Doch ein paar konnte er gar nicht zuordnen, ihm fehlte jegliche Erinnerung daran, wo und wann diese entstanden sein konnte. Seine Theorie war, dass es einfach zu lange her und einfach nicht wichtig genug war.

Eines stach jedoch besonders heraus und jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Am Bild war er zu sehen, bei einem seiner typischen Spaziergänge im Park. Doch die Jacke die er trug, hatte er gestern zum ersten Mal an. Dieses Foto lag heute schon, gemeinsam mit all den anderen, in seinem Briefkasten. Und das einfach so.

Sie alle kamen hier an, ohne Grund oder Anhaltspunkt. Es gab keinen Hinweis darauf, wer das war. Aber die wichtigste Frage war wohl: Warum? Warum macht  man sich nur so viel Mühe? Er wusste es nicht. Niemand kam Caiden direkt in den Sinn, er hatte weder Freunde, noch Feinde – zumindest wusste er von keinen. Für einen einfachen Streich der Nachbarskinder war es zu aufwändig, so viel stand fest.

Diese Nacht sperrte er alle Türen ab, kontrollierte mehrmals ob auch alle geschlossen waren und wiederholte diesen Vorgang bei allen Fenstern, bevor er sich ins Bett legte. Selbst wenn keinerlei Drohung dabei lag, er war lieber übervorsichtig als dass er am nächsten Morgen die Sonne nicht mehr sehen wird. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, er hatte sogar seine Pistole am Nachttisch liegen, fand er kaum Schlaf. Seine Gedanken kreisten nur um die Bilder, ließen ihn nicht mehr los, nicht einschlafen. So verging die Nacht quälend langsam.

Nachdem Caiden erst in der Früh Ruhe gefunden hatte, war er das erste Mal am Nachmittag wieder auf den Beinen. In der Hoffnung, den Kopf frei zu bekommen, war er in den Park gegangen. Dort konnte er die Natur genießen, die Stille, welche nur durch das Zwitschern der Vögel unterbrochen wurde. Der Winter zog vorüber und die graue Landschaft erholte sich langsam vom Frost.

Allerdings traf für ihn das genaue Gegenteil ein, und es war alles andere als ein erholsamer Spaziergang. Die ganze Zeit schwirrten die Fotos in seinen Gedanken umher, ständig musste er sich umsehen, um seine Gänsehaut und die kalten Schauer, die ihm über den Rücken liefen zumindest annähernd unter Kontrolle zu haben. Aber auch diese kleinen Hilfen erfüllten ihren Zweck nicht ganz. Er legte seinen ganzen Weg fast rennend zurück. Er, wohl eine der untrainiertesten Personen der Stadt. Für alle Spaziergänger muss er einen witzigen Anblick geboten haben, also konnte er zumindest ihnen etwas zum Lachen bieten. Wenigstens dieser Gedanke vertrieb kurzzeitig die anderen und ließ ihn unvorsichtig werden. Das nächste, an das er sich erinnern konnte, war ein Schmerz am Kopf und wie alles schwarz wurde.

Als er das nächste Mal aufwachte, fand er sich in einem dunklen Raum wieder. Zunächst konnte er nichts erkennen, zu pochend waren die Schmerzen im Kopf und auch die an seinen Handgelenken, obwohl er für diese noch keinen Grund kannte. Minuten, oder vielleicht auch Stunden vergingen, bis er wirklich wach war und klar sehen konnte. Vielleicht war er auch wieder eingeschlafen, er wusste es nicht genau. Doch was ihm jetzt klar wurde, war, dass er sich in seinem eigenen Keller befand, und das in Handschellen. Das erklärte dann wenigstens diese Schmerzen. Sein Kopf jedoch brummte weiterhin wie ein Presslufthammer.

Plötzlich ging die Tür am anderen Ende des Raumes auf und helles Licht schien ihm direkt ins Gesicht. Es zwang ihn die Augen zusammen zu kneifen und hinderte ihn daran seinen Entführer zu erkennen. Jedenfalls wirkte es wahrscheinlicher, dass es der Entführer ist, als sein Nachbar.

„Hey, Arschloch! Wer bist du, was hast du mit mir gemacht und warum zum Teufel bin ich in meinem Keller?!“, allerdings bekam Caiden die Antwort nicht in Worten, sondern indem die Person sich zeigte.

Sobald die Türe geschlossen und das Licht eingeschalten war, offenbarte sich ihm jemand, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Caiden hatte eigentlich auch nicht erwartet, ihn je wieder zu sehen. Geschweige denn in seinem eigenen Keller, seinem kleinen Geheimnis… nun, jetzt wohl nicht mehr.

„Mein alter Freund, bist du denn nicht froh, mich wieder zu sehen? Es ist doch schon so lange her, seit dem Vorfall…“, bloß brachte Caiden keinen Ton als Antwort hervor, er schaffte es nur seinen Kindheitsfreund anzustarren, wie eine Katze die Vögel vor dem Fenster. Schlussendlich erholte er sich aber doch von seinem Schock und schüttelte den Kopf in absolutem Unglauben: „Du… Knox, was zum Teufel machst du hier?! Warum bin ich hier?! Beantworte verdammt nochmal meine Fragen!“ Unglücklicherweise bestand die Antwort bloß aus einem rauen Lachen. Ohne weitere Worte begab sich Knox tiefer in den Raum, bis er schlussendlich vor einem rechteckigen, decken-hohen Möbelstück stehen blieb, abgedeckt mit einem dunkelroten Tuch. Bevor Caiden etwas sagen konnte, wurde dieses ruckartig weggezogen und zum Vorschein kam etwas wie ein großer Vogelkäfig. Bloß waren keine Vögel darin.

Man konnte Knox nach Luft schnappen hören und dann erhob sich das Rascheln von Ketten in der Stille. In dem Käfig kam eine abgemagerte Person zum Vorschein, jede einzelne Rippe war deutlich sichtbar und es schien, als wäre jegliche Kraft bereits verloren gegangen. Die Gestalt schleppte sich näher zu Knox und zog die verbogenen Beine hinter sich her, als wären sie gar nicht da. Die blauen Augen waren stumpf und wirkten eher grau in dem Licht, die einst schwarzen Haare hatten ihre Farbe und Glanz verloren, standen struppig und grau in alle Richtungen ab. Caiden wandte den Blick ab, war aber in der Lage zu hören, wie Knox zu ihm gestürmt kam und ihn am Kragen packte.

„Was hast du mit ihm gemacht, Frankenstein? Was?!“, schrie Knox ihm geradezu ins Gesicht, ließ ihm allerdings nicht einmal die Möglichkeit, zu antworten. „Warum ist Charon hier?! Er sollte tot sein, verdammt!“

Caiden brachte ein müdes Lächeln zustande, was ihm allerdings direkt eine Faust im Gesicht bescherte. Er spuckte Knox Blut vor die Füße und hob dann wieder den Blick, um ihm direkt in die Augen zu sehen.

„Das dachten wir, Knox… wir dachten…“

Ich kann mich noch genau erinnern, was damals war. Erst Tage zuvor hatte meine Freundin mich für Charon verlassen und auch wenn ich ihm versicherte, dass es mir nichts ausmache… es war die Hölle. Und als er an dem Tag dann die Idee hatte, wieder einmal mit den Pistolen zu spielen, ergriff ich die Chance.

Ich stahl die Patronen meines Vaters und lud die Pistole, testete sie sogar zuvor im Wald an einem Wildschwein, um auch wirklich auf Nummer sicher zu gehen. Dann war die Zeit gekommen. Wir trafen uns am Waldrand, bei der Schlucht. Unsere Eltern mochten das natürlich nicht, so nah am Abgrund, aber wir beachteten anderer Regeln nur ungerne.

Mein Plan stand fest, schwarz auf weiß niedergeschrieben: Treibe Charon so nah an den Rand wie möglich, wie wir immer das Spiel beenden. Doch statt ihn damit als Verlierer zu küren, werde ich schießen. Und er wird stürzen.

So geschah es auch, ganz nach Plan.

 

Der Schrei Charons ging durch Mark und Bein. Der darauffolgende von Knox schmerzte fast noch mehr. Er stürzte zum Rand, wiederholte den Namen unseres Freundes immer und immer wieder. Ich hörte sein weinen, sein flehen. Doch ich blieb stehen, wo ich war. 20 Meter von der Klippe entfernt, in sicherem Abstand. Die Pistole war nun leer, ich hatte sie bloß mit zwei Kugeln geladen, genug für einen Test und die Tat selber.

Als unser aller Eltern kamen, forderten sie natürlich auch eine Erklärung. Schlau wie ich war, hatte ich den perfekten Plan: Vater hatte immer zwei Kugeln in seiner Pistole. Also nahm ich seine mit, anstatt meine. Ich würde es als Versehen abtun. Am Vortag hätte ich meine kontrolliert und heute musste ich sie mit der von Vater verwechselt haben. Schlussendlich waren sie ja das gleiche Modell.

Und sie alle glaubten mir armen, zitternden Jugendlichen, der gerade aus Versehen seinen besten Freund erschossen hatte. Doch niemand ging in die Schlucht schauen, ob Charon wirklich tot war. Seine Eltern verließen uns fast direkt wieder – sie scheinen nie sehr liebevoll gewesen zu sein – und der Rest beschloss einstimmig, es geheim zu halten. Es war das sicherste für alle.

In der Nacht jedoch stieg ich hinab, eigentlich um das Papier zu verbrennen, doch ich fand Charon. Und er lebte. Wenn auch seine Beine zertrümmert waren, seine Wirbelsäule angeknackst und er am Kopf eine klaffende Wunde hatte. Er atmete und sein Herz schlug, und für mich war das dann genug. Ich beschloss ihn mit der Hilfe eines entfernten Freundes in eine nahe gelegene Höhle zu bringen, um zu sehen, ob er das überleben würde. Kurz darauf zog ich von Zuhause aus, in eine andere Stadt, einen anderen Bundesstaat. Und Charon? Der kam mit.

Wie durch ein Wunder heilten seine Brüche, wenn auch schlecht, und ich brachte ihn in meinem Keller unter. In Ketten und einem Käfig, damit er nicht verschwinden konnte.

Mittlerweile habe ich ein schlechtes Gewissen. Doch schien die Wahl zwischen ihn freilassen und ihn weiterhin bei mir behalten unmöglich zu treffen, somit blieb die Situation seit Jahren gleich.

Knox ließ Caiden während der Erzählung nicht los. Erst, als er fertig war, lockerte er seinen Griff. Allerdings nur um seine Pistole zu zücken und sie auf Caiden zu richten.

Alles ging rasend schnell. Caiden hatte noch gar nicht registriert wie ihm geschah, da drückte Knox schon ab.

Der Nächste, der den Schrei so bald nicht vergessen wird.

//Drei Wochen später//

„Charon, kommst du zum Tisch? Essen ist fertig!“, hallt es durch das kleine Haus und besagte Person kommt im Rollstuhl angerollt. Er platziert sich neben Caiden, welcher bereits dort sitzt und noch in sein Buch vertieft ist. Erst, als er Charon bemerkt, klappt er es zu und beobachtet wie Knox bereits das Mittagessen an den Tisch bringt. Als alle dann sitzen, sprechen sie ihr stilles Gebet, bevor sie während dem Essen über das gestrige Fußballspiel diskutieren.

Wie Knox und Charon ihrem alten Freund wieder verzeihen konnten?

Charon hatte jegliche Erinnerung an das Geschehene verloren, nachdem er von Knox befreit worden war und medizinisch versorgt wurde, verlor er auch die Erinnerung an alles, was in dem Keller geschehen ist. Er dachte, es passierte vielleicht bei einem Autounfall. Also wurde es dabei belassen, um ihn zu schützen.

Und was Caiden betrifft, stellte sich heraus, dass er von einer dissoziativen Identitätsstörung betroffen sein soll. Er habe es bloß nie bemerkt, so litt er schon von Kind an unter plötzlichen Schlafattacken. Dementsprechend schob er es auf solche und sein ohnehin schlechtes Gedächtnis. Das erklärte dann auch die Fotos aus dem Brief, die er vergessen hatte.

Außerdem hat er seinen rechten Arm durch Knox eingebüßt, als Strafe für all das, was passiert ist. Auch, wenn Knox geplant hatte, ihn umzubringen. Dieser weiß auch Monate später noch nicht, warum er Caiden am Leben gelassen hat, und wie lange das so bleiben wird.

Die Fotos waren das Mittel zum Zweck, um ihn unvorsichtig genug zu machen, damit er ihn überhaupt ergreifen kann.

Aber schlussendlich ist er ja unschuldig, nicht wahr?

2 thoughts on “Pistolenspiel

  1. Hallo Trysker

    Kannst du mir bitte mal erklären, wie dieser Contest hier funktioniert?

    Und was hier zuweilen falsch läuft?

    Und warum du erst so wenige Herzen hast?

    Deine Geschichte ist nämlich ganz große Klasse.

    Ohne Mist!

    Der Anfang ist mit einer der coolsten Anfänge, die ich in den letzten Wochen gelesen habe.
    Und meine Statistik sagt, dass ich bereits genau 129 Geschichten dieses Projektes gelesen habe.

    Gott, wie viele Geschichten musste ich schon ertragen, die weder gegengelesen, korrigiert oder berichtigt wurden.

    Wo sich AutorInnen die Freiheit herausnahmen, eine Geschichte an Sebastian Fitzek zu schicken, ohne einen Funken Ahnung von Rechtschreibung und Grammatik zu haben.

    Das ist bei dir zum Glück anders.

    Deine Geschichte hat mich gefesselt und berührt.
    Sie ist nicht nur dramatisch, sondern auch einzigartig und emotional.

    Der Beginn, die stringent gehaltene Handlung, die Charaktere, das super Finale.

    Respekt!

    Eigentlich müsste deine Geschichte bereits mindestens 50 Likes haben.

    Ich spreche dir meine Hochachtung aus.

    Sagte ich schon, dass der Anfang sehr genial war.

    Ich musste dabei direkt an den Film “The Crow” denken, wo der Hauptdarsteller während der Dreharbeiten auch durch eine “plötzlich” scharf geladene Pistole ums Leben gekommen ist.

    Und zwar im “richtigen Leben”.

    Lieber Trysker.

    Du musst dafür sorgen, dass mehr Leser deine tolle Geschichte entdecken.
    Sonst verschwindet sie in den Untiefen des Internets.
    Und das wäre falsch.
    Wäre ein Fehler.

    Mach Werbung auf Instagramm, auf Facebook, hau deine Kollegen an.

    Deine Story muss ins Buch.

    Mein Like hast du natürlich sicher.
    Oder heißt es “meinen”?

    Egal.

    Ich lass dir auf jeden Fall gerne ein Herzchen da.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.

    Du hast es verdient.

    Liebe Grüße aus dem Münsterland.

    Swen Artmann
    (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, meine Geschichte auch zu lesen.
    Aber nur, wenn du mir einen ehrlichen Kommentar schreibst.
    Ganz egal, ob du 40 Sätze verfasst oder nur ein Wort.

    Und hinterlass das Wort “Pistolenspiel”, damit ich direkt weiß, dass DU mir schreibst.
    Ich danke dir.

    Ach ja.
    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Ich danke dir.
    Swen

  2. Lieber Trysker,

    ich kann mich Swen nur anschließen:

    1. Ich finde Deine Geschichte saucool! Hart, aber saucool. Ich musste beim Lesen ein bisschen an einen Quentin-Tarantino-Film denken. Toller Titel auch, nebenbei.

    2. Wieso hast Du nur so wenig Likes???? Jetzt hast Du auf jeden Fall eins mehr und ich hoffe, dass noch viele weitere folgen. Mach unbedingt mehr Werbung dafür, ich habe wirklich schon Einiges hier gelesen, und manche, die deutlich schlechter waren als Deine, hatten viel mehr Herzen.

    Wenn Du Lust hast würde ich mich freuen, wenn Du einen Blick über meine werfen magst, sie heißt “Räubertochter”.

    Liebe Grüße
    Anita

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