TraumfaengerQuellcode

Quellcode

Unsere Identität ist wie der Quellcode eines Computers. Sie bestimmt unser gesamtes Sein, sie ist der Grundstein all unserer Entscheidungen und unserer Handlungen, denn sie beeinflusst unsere Gefühle. Durch diesen Einfluss bestimmt sie die damit verbundenen Gedanken, welche wiederum zu unseren Worten und Handlungen werden.

Dieser Überlegung nach kristallisieren sich zwei entscheidende Fragen heraus: Wie formt sich diese Identität und wie können wir sie ändern?

Diese Fragen zeigen auch die Angst davor auf, dass wir in diesem Spiel gefangen sind. Was ist, wenn wir uns nicht ändern können?

Sein Blick fiel wie gebannt auf das schwarze Gerät und er spürte das bekannte Kribbeln im Nacken. Es war ein vertrautes, wenn auch lange vermisstes Gefühl. Wie ein alter Bekannter begrüßte er diesen unheimlichen Schauer, der von Gefahr und Tod zu erzählen wusste. Es musste jetzt ungefähr 2:20 Uhr morgens sein, die Glocken hatten vorhin geschlagen, der Kirchturm war nur einige hundert Meter entfernt.

Hier auf dem kleinen Marktplatz, mit dem niedlichen Brunnen, auf dem die Figuren von zwei spielenden Kindern zu sehen waren, befanden sich mehrere einfache Bänke. Sie waren um den freien Platz in der Mitte verteilt und drei kümmerliche Bäume zeigten in dieser warmen Märznacht ein wenig frisches Grün. Auf einer der Sitzgelegenheiten an der linken Seite lag es, dieses kleine, schwarze Gerät. Es war so offensichtlich platziert, dass es gefunden werden musste. Dies war eine Gegend, in der das Ungeziefer auf zwei Beinen lief, hier fand man alles: Erpressung, Handel aller Art, Drohungen, Vergewaltigungen und sein Lieblingsfach Mord!

Er passte hier her, verschwand einfach zwischen dem dunklen Abschaum. Nicht ohne Grund hatte er sich in eine Gegend verkrochen, in der jemand wie er nicht auffiel, keinen Verdacht erregte. Es war eines dieser Viertel, in denen kein kleines, neues Mobiltelefon so einfach auf einer Bank liegen konnte. Es wäre jetzt schon so oft gestohlen worden, dass es sogar bereits mehrfach verkauft gewesen wäre.

Damit blieb nur eine einzige Erklärung für dieses Gerät und seine Existenz: Jemand hatte es für ihn dort platziert!

Das mochte auf den ersten Blick übertrieben wirken, aber seiner Vergangenheit gerade gerecht werden. Zu lange hatte er für Geld seine Mordgelüste ausgelebt, zu viele zu Opfern gemacht. Bis zu diesem einen Auftrag. Seit 16 Jahren lebte er in diesem Abgrund, um nicht gefunden zu werden. Er hatte sogar zu trinken begonnen und die scharfen Sinne waren nun abgestumpft. Sicher hatte er sich hier gefühlt, unentdeckt! Mit jedem Jahr war der Stumpfsinn stärker geworden und hatte sein Hirn dahinsiechen lassen. Ihm fehlte eine Aufgabe, der er nachgehen konnte. Nun wurden sie langsam wieder wach, denn dieses klare Angebot galt ihm und forderte ihn nach all der langen Zeit wieder heraus. Jetzt endlich hatte sein Leben wieder einen Sinn bekommen. Wenn es einen Jäger gab, der es auf ihn abgesehen hatte, gab es bald auch wieder einen Mord!

Für einen Moment musste er die Augen schließen, die raue Zunge strich über die gesprungenen Lippen und er atmete leise aus. Seine Sinne begannen jetzt schon verrückt zu spielen, wenn er nur daran dachte. Er durfte es wieder! Er durfte wieder morden. Die eingeschlafenen Sinne begannen in seinem trunkenen Hirn Kapriolen zu schlagen. Auf seiner Zunge lag schon der metallene Geschmack des vergossenen Blutes und auch dieser unverkennbare Geruch drängte sich in seine Nase. Wäre es eine Männerstimme oder durfte er den Schreien einer Frau lauschen? Sie waren in ihrem Klang so unterschiedlich und doch gab es irgendwie so viele Gemeinsamkeiten, dass sie in seiner Erinnerung nicht mehr auseinander zu halten waren. An jedes seiner Opfer konnte er sich noch erinnern, ebenfalls an ihre Worte, an ihr Flehen, nicht jedoch an diesen Klang.

Mit einem kräftigen Ruck musste sich der großgewachsene Mann aus den Gedanken reißen. Er wusste noch immer nicht, ob er wirklich mit diesem Telephon gemeint war oder ob er nur zur falschen Zeit am richtigen Ort auftauchte. Davon abgesehen, dass ein Scharfschütze ein leichtes Spiel mit ihm hatte, wenn er hier frei auf dem Marktplatz stand. Da er noch keine Kugel im Schädel spürte, die sein Hirn auf den Steinen verteilte, war wohl keiner in der Nähe.

Die eben noch schweren Schritte wirkten nun leicht und federnd, sie hatten etwas erschreckend Bewusstes. Mit seinen 63 Jahren hatte sein Körper trotz des vielen Alkohols die Grundbewegungen nicht vergessen, die es für seine Tätigkeit zu beherrschen gab. Noch einmal schweiften die trüben, grauen Augen über den halbdunklen Platz, doch niemand war zu sehen. Irgendwo in den Schatten musste er stehen oder sie. Wenn es eine Frau war, konnte er vielleicht noch seinen Spaß mit ihr haben, bevor er sie umbrachte.

Vorsichtig griff er nach dem Telefon und erkannte den schlichten Schriftzug von Samsung. Ein Klassiker, immer eine zuverlässige Wahl. Besser als Apple, denn diese Geräte waren immer irgendwie registriert. Samsung hingegen bot eine gute Qualität für mehr Anonymität. Schnell drückte er auf den großen Button in der Mitte und ein dunkelroter Bildschirm begrüßte ihn; dunkelrot wie langsam trocknendes Blut. Sein Daumen strich über den einfarbigen Bildschirm und die digitale Uhrzeit flammte in einem eklig hellen weiß vor ihm auf. 2:31 Uhr stand gleich im oberen Bereich und thronte mächtig über dem einzigen anderen Symbol auf dieser Seite. Der Hintergrund war nun in einem helleren Rot, es glich auffällig dem Ton von frischem Blut. Diese Gestaltung gefiel ihm sehr gut, wenn es ihn auch nicht interessieren sollte. Der Blick der grauen Augen war längst auf das einzige andere Symbol gefallen und während er neben dem leise plätschernden Brunnen stand, fand sein Daumen schon den Weg. Die Galerie öffnete sich sofort und die bekannte Aufteilung zeigte sich mit einer Erkenntnis, die ihn ein wenig traf. Die linke Seite zeigte die typischen Ordner, obwohl sich nur einer auf dem Gerät zu befinden schien. Die in Zweierreihen folgenden Bilder hatten nur ein einziges Motiv: Er selbst!

Sein Gefühl hatte ihn nicht im Stich gelassen. Der Jäger hatte es auf ihn abgesehen. Kurz überflog er die Photographien auf dem Mobiltelefon, die letzte zeigte ihn vor vielleicht 15 Minuten vorne an der Ecke der Kirche, dort wo er noch eben gestanden und geraucht hatte. Noch so ein unverzeihliches Laster. Zigarettenstummel wurden durch den Speichel mit DNA versetzt, ein perfektes Beweismittel für die Polizei. Hier schien jedoch jemand nach Rache zu dürsten, denn die Kriminalpolizei ging nicht auf diese Weise vor. Sie lockten ihn vielleicht in eine Falle, aber sie warnten ihn nicht vor, damit er flüchten konnte.

Die Bilder auf dem Gerät waren aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommen worden und zu verschiedenen Zeiten entstanden. Einige Bilder mussten Wochen alt sein. Sein eigenes Leben zeigte sich in diesen traurigen Szenerien, die alle den gleichen hoffnungslosen Schein hatten. Immer die gleichen abgetragen wirkenden Klamotten, stets in dunklen Farben gehalten und seine schwarzen Haare waren ungepflegt und wild. Ob gestern oder vor zwei Monaten, es gab keinen Unterschied.

Sein Jäger hatte sich offenbar Mühe gegeben. Er musste ihm schon seit einer ganzen Weile auf der Spur sein. Wie hatte dieser Kerl oder diese Frau ihn gefunden? Wie hatte er sich verraten, immerhin hauste er schon so lange in diesem elenden Loch!

Ohne weiter über seine Bewegungen nachzudenken, handelte sein Körper automatisch. Er holte leicht aus und ließ das Gerät zu Boden stürzen. Splitternd krachte es auf den Stein und nur einen Herzschlag später trat er mit dem Absatz seines rechten Schuhes darauf. Die leichte Verarbeitung war nicht für einen solchen Kraftakt gedacht und gab die technischen Eingeweide brechend her. Schnell klaubte er die Reste vom Boden auf und ließ sie mit einer plumpen Bewegung ins Wasser des Brunnens fallen. Er musste nach Hause und sich vorbereiten. Ein Jäger war auf seiner Spur und er musste ihm zuvorkommen, wenn er seinen Spaß haben wollte.

Jetzt galt es keine Minute mehr zu verlieren, sicher beobachtete der Fremde ihn auch hier. Er würde wissen, mit wem er sich anlegte und hatte sicher Vorkehrungen getroffen. Zusätzlich wusste er selbst nichts über diesen Jäger und hatte damit einen gewaltigen Nachteil. Diesen musste er irgendwie ausgleichen, das war ein schwieriges Unterfangen. Seine lange Berufserfahrung konnte ihm da sicher behilflich sein, doch unterschätzen sollte er seinen Gegner nicht.

Wie ein Schatten bewegte sich der 63 jährige Mann über den Platz und verschwand im Dunkeln der kleinen Gassen. Er liebte diese kleinen Ausflüge mitten in der Nacht, hier fühlte er sich sicher und geborgen, kein anderes Gesindel trieb sich mit ihm zu dieser Zeit auf den Straßen herum und er konnte den Kopf etwas frei bekommen. Vor 16 Jahren hatte dieses lebensunwürdige Dasein begonnen und viel zu oft fragte er sich, warum er dieser Entscheidung nicht endlich den gebührenden Verrat zollte. Ob dieser Jäger einer der Zurückgebliebenen war? Vielleicht ein liebender Mann, dessen Frau er umgebracht hatte? Es konnte aber auch der Vater sein, der um seine Tochter weinte. Wie viele gestörte Kinder gab es wegen ihm auf der Welt, weil er ihre Eltern abgeschlachtet hatte?

Schweigend verharrte er und starrte hinauf zu dem dunkeln Fenster, welches zu seiner Wohnung gehörte. Es wirkte unbewegt und verlassen. Vielleicht sollte er es wagen? Vielleicht würde der andere Mörder dort auf ihn warten. Wer auch immer ihn jagen wollte, das Ziel war klar: Er sollte sterben!

Vor 16 Jahren hätte er eine andere Entscheidung getroffen, doch der Alkohol hatte schon lange mit dem Abbau der Gehirnstruktur begonnen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihn eine solch falsche Entscheidung umbringen würde.

Diese Erkenntnis würde ihn in wenigen Minuten wie ein Gewitterschlag einholen, doch nun schlich er leise die eng zugeparkte Straße herunter und zum Eingang des gewaltigen Wohnblockes. Hier fanden 30 Wohnungen Platz, die auf 7 Etagen verteilt waren. Sein Schlüssel war sehr schlicht, ein Ring und die beiden metallenen Stücke. Sie sollten nicht zu ihm zurückverfolgt werden, wenn er sie verlöre. Leise gab die Tür nach, als sich das Metall im Schloss drehte und wie eine Katze huschte er durch den offenen Spalt. Der große Körper war plötzlich geschmeidig und bewegte sich vorsichtig über die knarrenden Stufen des beschmierten Treppenhauses. Die zerschlagenen Glühlampen tauchten alles in ein Halbdunkel. Bis hinauf in den obersten Stock musste er und flüchtig betrachtete er den Flur, in dem sich vier Wohnungen aneinander reihten. Da schienen alle gut zu schlafen oder sie waren tot. Wer wusste das schon?

Kurz musste er innehalten und schlucken. Was für eine unglaubliche Vorstellung! Wenn dieser Jäger in eine der Nachbarswohnungen eingebrochen war und die schreienden und streitenden Mistkäfer einfach umgebracht hatte. Er stellte sich die tropfenden ausblutenden Körper vor, die in ihren Betten lagen und endlich das Maul hielten. Sie waren für alle Zeiten still!

Geilheit erfasste seinen Körper, eine Gier begleitete dieses Gefühl. Es war zu lange her, dass er sich diesen Emotionen hatte hingeben können. Sie erfüllten ihn und berauschten, als hätte er dort unten an der Kirche etwas anderes geraucht. Seine leisen Schritte waren leicht und er konnte den Boden unter seinen Füßen nicht spüren. Die Alkoholexzesse und die Abstinenz diesen verbotenen Gefühlen gegenüber hatte ihn zu empfindlich gemacht; zu unvorsichtig. Als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, konnte er noch einmal diesen warnenden Schauer in seinem Nacken spüren. Der Schlüssel glitt wie durch weiche Butter, während er sich drehte und die Tür gab ohne jedes Geräusch nach. Es waren diese kleinen Details, die ihm aus seinem vorherigen Leben noch geblieben waren, die ihn lautlos und still durch die Nacht wandern ließen.

Nicht jedoch aber der Verstand, der durch den trunkenen Zustand zu lange brauchte, um die gesehenen Informationen zu verarbeiten. Nur einen halben Schritt hatte er sich in den Raum gewagt und starrte plötzlich in den Schatten eines anderen Mannes. Das Gesicht war nur ein vager Umriss, eine Idee, doch dieses bestialische Grinsen konnte er sogar im Dunklen erkennen. Eine Hand glitt aus der Schwärze nach vorne und packte ihn fest am groben Wollpullover, nur um ihn mit einem einzigen Ruck nach vorne zu ziehen. Der linke Arm des Fremden holte aus und ein grausam harter Schlag traf den nach vorne stürzenden Kopf, der eben noch so mordlüsterne Gedanken hatte. Das Spiel bot keine Überraschung, er war die Beute und der Jäger hatte zugeschlagen. Dumpf dröhnte das Geräusch in seinen Gehörgängen wider und ein Feuerwerk an tanzenden Punkten breitete sich neben dem höllischen Schmerz in seinem Sichtfeld aus. Er war wie ein blutiger Anfänger in die Falle geraten. Eine raue Stimme erklang in der Dunkelheit. „Das hier wird eine Kurzgeschichte, kein Kriminalroman!“

Wie lange er brauchte, um wieder zu Bewusstsein zu kommen, konnte er nicht sagen. Was genau ihn geweckt hatte, blieb ebenso ein Rätsel. Jetzt war es der pochende Schmerz in seinem Hinterkopf, der alles bestimmte. Er konnte den metallenen Geschmack des eigenen Blutes auf seiner Zunge spüren und bemerkte, dass seine Sinne noch immer ungeordnet und chaotisch waren. Zumindest das wer und wo konnte er zuordnen, doch die quälenden Empfindungen der Verletzung machten es schwer den Rest zu begreifen. Es waren Bildfetzen, die sich in seinem Verstand bewegten und der immer wiederkehrende Satz: „Das hier wird eine Kurzgeschichte, kein Kriminalroman!“

Seine trüben Augen versuchten im gedämpften Licht des Raumes etwas zu erkennen. Offenbar genoss der Fremde die Dunkelheit und nur der Schein der Straßenlaternen von weit unten schaffte eine seltsam schummrige Atmosphäre. „Es ist also doch Rache.“ Brummte er leise und starrte den Schatten des Mannes an, der sich am Fenster herumdrückte. Der Raum war nicht groß, ein kleines Sofa direkt am Eingang, ein Tisch, zwei Stühle und damit war das meiste der Einrichtung schon beschrieben. Die Schränke an den Wänden waren beinahe leer und gaben ein absurd zusammengewürfeltes Bild ab. Den meisten Platz bot die Mitte des Raumes, in deren Decke ein schwerer Haken geschlagen war. „Wie ich sehe, kennst du dich in meiner Wohnung gut aus.“ Sein Kopf fiel in den Nacken und leicht benommen starrte er auf die starken Fesseln, die seine Arme über dem Kopf hielten und sich bis hinauf zur Decke zogen. Er hing fast wie ein nasser Sack an dem groben Seil, seine Beine waren nicht in der Lage, das Gewicht seines Körpers zu tragen. „Wen habe ich umgebracht? Deine Schwerster, deine Mami, deine Frau?“ Es war ein röhrendes Dröhnen, seine Stimme hatte einen blechernen Ton. „Na komm, ich will es wissen, wer war es?“ Dieses Mal lachte er beinahe, der Schmerz ließ seinen Verstand nur eingeschränkt arbeiten.

Es blieb ein Schweigen im Raum, der fremde Jäger stand noch immer still vor dem Fernster und hatte seiner Beute den Rücken zugewandt. Er schien seltsam ruhig und doch wirkte diese Silhouette so unendlich vertraut. Es war wie ein Flimmern in der Luft, wie ein bekannter Duft, den man immer wieder erkennen würde. Ein tiefes Lachen kam über seine Kehle und die trüben Augen des hängenden Mannes blitzten auf. Die Erkenntnis war nahe, doch es fehlte die Bestätigung. „Hör zu Kleiner, du machst es falsch. Es heißt nicht umsonst Kurzgeschichte. Ich plaudere nicht, ich posiere nicht und ich spiele keine Psychospielchen. Eine Kurzgeschichte hat ungefähr 15 Seiten, halbe Seiten, Normseiten, da ist kein großer Platz für ein langes Vorspiel. Sag mir, was du los werden willst und bring mich um. Wenn du deine Rache willst, ist es egal, wie lange es dauert, sie wird sich durch meinen Tod nicht erfüllen.“

Etwas schienen diese Worte ausgelöst zu haben, denn der Mann drehte sich langsam um und kam näher. Sein Gesicht wirkte jung und ruhig, er war nicht aufgebracht oder nervös, seine Augen jedoch waren von so einem strahlenden Blau, dass sie selbst in der halbdunklen Finsternis leuchteten. „Es war meine Mutter.“ Abgeklärt und bedacht kam jedes Wort über seine Lippen und die blauen Augen fixierten das zerschundene, mit einer Blutspur gezeichnete Gesicht. Sein Blick war klar und durchdringend. Alles an dem 28 Jährigen war aufmerksam und auf die nächste Reaktion seiner Beute ausgelegt, als wäre er ein Löwe. „Ich weiß!“ Raunte es mit einem wolllüsternen Ton und der alte Mann grinste mit seinen zersprungenen, spröden Lippen breit. „Diese Augen würde ich sofort wiedererkennen. Du hast die gleichen, wie deine Mami und du bist genau so ein Monster wie sie! Der Apfel fällt wohl nicht weit vom Stamm, was?“

Er hatte sich mehr erwartet als das Hochziehen einer Augenbraue. Schweigen blieb im Raum und nur ein Funkeln in den kristallblauen Augen machte eine Reaktion deutlich. „Was glaubst du, war deine Mami? Eine liebevolle, einfühlsame Mutter, die ihr Kind geliebt hat?“ Der Ton seiner Stimme hatte etwas Wildes, denn die Gier in seinem Herzen balgte mit dem Schmerz in seinem Schädel. Dieser Körper war am Ende und diese Nacht würde seine letzte sein. Es gab kein Entkommen mehr. Dennoch war es ihm nicht möglich von dem eigentlichen Sein abzuweichen. Obwohl er 16 Jahre versucht hatte, diesem Gefühl zu entkommen. Der Quellcode seiner Selbst war unerbitterlich.

„Sie war ein Monster, wie ich noch keines vor ihr gesehen habe. Deine liebe Mutter hätte mich beinahe getötet und der Ironie folgend wird es jetzt ihr Sohn machen, der genauso ein Monster ist, wie sie und ich. Wir sind uns so ähnlich, als hätte ich deine Mami gevögelt und dich gezeugt!“ Wahnsinn mochte diese Worte führen, Hass jedoch das Messer, welches nun voller Wucht in seinen Magen gestoßen wurde. „Wage es ja nicht so über sie zu sprechen!“ Die vergleichbar junge Stimme brandete nur so vor Wut und die blauen Augen funkelten voller kaltem Zorn. Das war also der wunde Punkt.

Der Schmerz in seinem Unterleib war gewaltig und spülte eine Flut an blitzartigen Funken in sein Sichtfeld. Der Trieb sich zu krümmen wurde wach, doch die Fesseln seiner Hände hielten den ausgezehrten Körper in einer aufrechten Position. Blut quoll aus der Wunde an seinem Bauch und er wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sein Hirn endlich der wohlverdienten Ohnmacht nachgab, dieser herrlichen Schwärze.

„Was…“ Kam keuchend von dem Gefangenen und er lächelte verkniffen. „Warum denkst du, dass sie so anders war als ich? Weil sie es dir gesagt hat, gesagt, dass sie dich liebt?“ Die raue Stimme hatte immer wieder Aussetzer, der trübe Blick versuchte den Angreifer zu fixieren. Schwer wankte der Kopf zwischen den nach oben führenden Armen und doch war er so überzeugt von seinen eigenen Gedanken. „Also, hat sie dir gesagt, dass sie dich liebt? Jeden Abend, wenn sie dich ins Bett gebracht hatte?“

Schweigend sahen die kristallblauen Augen auf die Klinge in seiner rechten Hand herunter. „Ja, jeden Abend. Sie war liebevoll, hat nie viel geschimpft und mir immer meine Lieblingsessen gekocht, wenn etwas Schlimmes passiert ist.“ Schwermütig sprach der 28 Jährige, zum Teil versunken in diese Erinnerung. „Sie war immer für mich da!“ Vorsichtig hob er das blutverschmierte Messer und betrachtete es im schummrigen Licht der weit entfernten Laterne. Ein Ring funkelte dabei kurz auf.

„Hast du ein Kind? Du bist verheiratet, nicht wahr?“ Ein Nicken folgte, langsam und zurückhaltend. Der Fremde schien verloren in seiner fremden Welt und der Zorn war einer anderen Empfindung gewichen. Das Grinsen auf dem alten Gesicht blieb, nur ein kurzes Husten ließ den kraftlosen Körper zittern. Blut drang nun auch seine Speiseröhre hinauf. Er hatte nicht mehr lange, der Schwindel setzte ein. Warm floss der rote Saft seine Beine herunter und tränkte die schwarze Hose. „Lass mich raten, Kleiner, du liebst deinen Sohn auch. Jeden Abend gehst du in sein Zimmer und streichst ihm noch einmal über die Haare, weil dir diese Geste vertraut ist. Du sagst es ihm jeden einzelnen Abend. Aber über Tag tust du es nicht. Du arbeitest nach einem Plan. Wie oft am Tag darfst du ihn loben, wie oft mit ihm schimpfen? Wenn er weint, beruhigst du ihn, indem du seinen Rücken immer wieder von oben nach unten streichst und die ewig gleichen Sätze sagst. Manchmal beobachtest du deine Frau und bewertest ihren Umgang mit eurem Sohn. Hin und wieder eignest du dir bestimmte Handlungen an, wenn sie dir nach der statistischen Auswertung als gut erscheinen.“

Verwirrung trat in die blauen Augen und der Angreifer wich einen Schritt zurück. „Woher weißt du das?“ Seiner Stimme war die Überforderung anzuhören. „Weil ich genauso bin. Weil deine Mami so war. Du zählst die Tage, bis du deiner Frau wieder Blumen oder Pralinen mitbringst. Du wertest den ganzen Tag aus, versuchst zu verstehen, wie die Welt um dich herum einen Familienvater sehen will. Aber eben, jetzt gerade, als deine Wut aufkochte und dein Messer in mich eindrang, da war keine Auswertung, da war nur Gefühl! Zum ersten Mal in deinem Leben war da Gefühl! Mehr als der leere Sex mit deiner Frau, bei dem nur deine Geilheit Befriedigung findet, nicht aber deine Seele!“ Mit jedem Wort schien die Verzweiflung in dem schattenhaften Gesicht deutlicher zu werden, die blauen Augen weit aufgerissen.

In diesem kurzen Moment wechselten die Rollen von Jäger und Beute, der Gefangene trieb mit seinen Worten den emotionalen Dolch immer tiefer in den Verstand seines Gegners, denn er hatte die Entscheidung getroffen, dass er heute nicht alleine sterben würde. „Dein gesamtes Leben ist auf diesen Gedanken aufgebaut. Du warst vor 16 Jahren auf der andren Seite des Telefons, als ich deiner Mutter begegnete. Damals hast du gehört, wie ich ihr anrüchig ins Ohr flüsterte, dass dieses eine Kurzgeschichte ist und kein Kriminalroman. Seit dieser einen Nacht drehen sich deine Gedanken um deine Rache. Wenn du morgens aufstehst, wenn du abends ins Bett gehst, immer denkst du darüber nach, wie du mich töten kannst. Dein gesamtes Sein ist auf meinen Mord und deine Rache ausgelegt. Du gehst davon aus, dass sie damals starb. All deine Gedanken kreisten darum, die letzten 16 Jahre hast du mich gesucht, ihren Mörder. Wenn du dein kleines Blag abends ins Bett gebracht hast, dachtest du an mich! Doch was passiert, wenn ich dir verrate, was damals wirklich geschehen ist? Als ich ihre blauen Augen sah, blickte sie mich an und meinte, dass sie noch ein anderes Monster gefunden hätte. Sie war es, die mich damals beinahe umgebracht hätte und dann doch um ihren eigenen Tod flehte. Ich sollte sie töten, damit nicht zwei von ihrer Sorte durch die Nacht schlichen. Ob sie wusste, dass sie einen Mörder als Sohn hatte? Was bedeutet es für dich, für dein ganzes Leben, wenn deine Rache plötzlich keinen Grund mehr hat? Wenn die Gedanken der letzten 16 Jahre sinnlos gewesen wären? Was passiert, wenn ich dir sage, dass deine Mutter niemals gestorben ist?“

Es war ein einziger Impuls, ein von Hass, Verzweiflung und Wut getriebener Angriff, mit dem der 28 Jährige nach vorne stürzte, das Messer fest umgriffen. Immer und immer wieder stieß er es in den Bauch des Gefangenen, der wehrlos an dem Stick hing. Ein gurgelndes Lachen entkam der Kehle und der Boden färbte sich rot von warmem Blut.

~~~ ooo ~~~

„Du hast die gleichen, blauen Augen, wie deine Mutter.“ Diesen Satz hatte er so oft gehört, dass er ihn zu hassen begann. Jetzt hatte er eine ganz neue Dimension erreicht, die er nicht in Worte fassen konnte. Seit dem er den Mörder seiner Mutter umgebracht hatte, waren nur 17 Tage vergangen. Es waren 17 verdammt lange Tage! Er war unruhig, unaufmerksam und hatte sogar seinen Sohn angeschrien. Die Ruhe, die er sich nach dem Mord erhofft hatte, war gegenteilig geworden. Eine unerwartete Gier war erwacht und forderte nun eine grausame Beachtung. Er träumte von dieser Nacht immer und immer wieder, er konnte das Blut riechen und den Gestank der Eingeweide.

Doch noch viel schlimmer war das, was sein Verstand nun verarbeiten musste. Es war ein einziger Blick, ein so klares Merkmal, dass er es sofort erkannte. Dieser eine Moment ließ 16 Jahre zerbersten, verwandelte sie in einen Hohn, ein wahres Meer aus Lügen. Das Fundament seiner gesamten Existenz wurde mit dieser einen Erkenntnis gesprengt und zitternd sank er auf die Knie. Er hielt eine Postkarte in der Hand, die er in der Wohnung am Kühlschrank des Toten gefunden hatte. Es war ein Absender vermerkt und das Bild auf der Rückseite zeigte einen sonnengetränkten Strand. Er starrte die Frau an, die ihn aus ihren kristallblauen Augen anblickte.

 

>>Ich liebe Kriminalromane, denn sie sind länger als 15 halbe Seiten. XXX Rose<<

ENDE

5 thoughts on “Quellcode

  1. AHHH! Ich glaube, dass war die beste von allen Kurzgeschichten, dich ich bis jetzt gelesen habe!! Du hast die Messlatte für alle folgendenden verdammt hoch gesetzt!! 😀
    Ich liebe deinen Stil und deine Kurzgeschichte!
    „Das hier wird eine Kurzgeschichte, kein Kriminalroman!“ :O So cool!
    Ich würde dir sofort 100 Likes geben, wenn ich könnte!! 😉
    Ich traue mich gar nicht es zu sagen, aber vielleicht magst du dir ja auch mal meine Geschichte anschauen. 🙂
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/lilly

  2. Hallo Traumfaenger, klasse genannt 👏 Eine interessante Geschichte, die sich von vielen anderen klar abhebt. Mit Deinem Schreibstil konntest Du eine schön düstere Atmosphäre erschaffen. Wirklich cool, dafür hast Du Dir auf jeden Fall mein ♥️ verdient!

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

  3. Geniale Geschichte. Hat mir super gefallen. Und cool, dass Du die Länge einer Kurzgeschichte in die Handlung eingebaut hast. Sicher, weil Du eigentlich noch viel mehr hättest schreiben können. Ich find das jedenfalls sehr gut und wundere mich über die bisher wenigen Likes.
    Meines bekommst Du jedenfalls.
    LG
    L. Paul (Die Mutprobe)

  4. Moin Moin,

    Krasse Storie, krasse Wortwahl, krasser Plot! Einfach krass.

    Die Art wie du deine Geschichte erzählst ist phänomenal! Gekonnt und sicher führst du uns durch deine Storie, die selbstverständlich eine „Kurzgeschichte ist und kein Kriminalroman“. Richtig gutes Stilmittel, den Satz immer wieder mit einzubinden. Das sorgt für eine Verbindung zu deiner Geschichte.

    Solche Sätze hier :

    „Wahnsinn mochte diese Worte führen, Hass jedoch das Messer, welches nun voller Wucht in seinen Magen gestoßen wurde.“
    zeigen ein beeindruckendes Schreibtalent.

    Warum so wenige Likes? Mach Werbung, auch deine Geschichte muß gelesen werden. Noch ist Zeit!
    Deine Geschichte gehört mit zu den besseren hier im Wettbewerb.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  5. Hey Traumfänger,
    eine ziemlich ausgefuchste Geschichte. Hat mir sehr gut gefallen, weil sie so anders war. Du solltest auf jeden Fall noch mehr Werbung für Deine Story machen, dass sie noch mehr Leser findet und Likes bekommt. Meines lasse ich gerne da!
    Viel Erfolg und vielleicht denkst Du ja noch über ein Prequel nach – wie die Mutter an den Strand kam und warum sie nicht tot ist.
    Viele Grüße Tom
    PS: Und falls Du eine Geschichte lesen magst, die nicht ganz so kurz ist, dann schau doch gerne mal bei ‚Melanie‘ vorbei.

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