Jana WindirschReminisci

 

   Reminisci (lat. sich erinnern)

 

 

 

Wer hätte gedacht, dass es hier endet. Es hatte doch all die Jahre funktioniert.

 

Sie war so akribisch und radikal vorgegangen, hatte alles hinter sich gelassen und dennoch war alles am Ende zerbrochen. Jetzt lag sie da. Kraftlos und niedergeschmettert. Von dunklen Gedanken überrannt und von der Realität niedergeschlagen. Die vielen Bilder im Kopf übertönten den Schmerz der offene Wunde im Körper und am Kopf. Das Atmen wurde langsamer und endlicher. Der letzte Blick ging in zwei wutverzerrte Paar Augen und die Dunkelheit nahm ihr das letzte Bild der Erinnerung, welches stets in ihr schlummerte und so viele Jahre verdrängt wurde.

 

72 Stunden vorher

 

Es war 14:45. Wie jeden Tag kam Tabea mit ihrer braunen Labrador Dame, Mimi, von ihrem Spaziergang zurück. Seit dem plötzlichen Tod ihres Mannes vor zwei Jahren, brauchte Tabea einen strukturierten Tagesablauf noch mehr als vorher. Die ganzen gesellschaftlichen Ereignisse, die sie als Gattin eines angesehenen Bankdirektors organisierte oder besuchte, waren mit dem Renteneintritts ihres Mannes Heinrich weniger geworden und mit dem Tod dann komplett erlöschen. Da sie sich selber, mit ihren 63 Jahren, noch viel zu jung empfand, als das Leben einer sozial-isolierten, trauernde Witwe zu führen, füllte sie ihren Wochenplan mit den verschiedensten Terminen. Zwei davon waren jedoch jeden Tag gleich: 13:45-14:45 große Runde mit Mimi spazieren gehen und um 15 Uhr Tee trinken. Bei schönem Wetter auf der Terrasse in ihrem großen Garten der Stadtvilla oder bei Schlechten im Wintergarten mit Blick in den Garten.

 

Nachdem sie, wie immer, zuerst Teller und Kuchen auf den Tisch gestellt hatte, während der Tee in der Kanne zog, holte sie die Teekanne aus dem Haus, stellte sie auf ihren großen Glastisch und setze sich auf ihren Stuhl. Doch anstatt sanft auf dem dunkelblauen Kissen zu landen, spürte sie einen harten Gegenstand. Sie stand auf und sah, dass ein schwarzes Handy auf ihrem Sitzkissen lag. Verwundert nahm sie es in die Hand und betrachtete es. Ihr Handy hatte sie in ihrer Handtasche und konnte sich nicht erinnern, dass sie es rausgeholt hatte. Vielleicht hatte es ihre Enkelin Ida hier gestern vergessen. Seit den Osterferien kam sie jeden Tag um 15 Uhr vorbei und trank gemeinsam mit ihrer Oma Tee. Sie wohnte nur 5 Minuten mit dem Fahrrad entfernt und Tabeas alleinerziehende Tochter, Luisa, musste nachmittags immer in die Redaktion, sodass Ida ihr oft Gesellschaft leistete.

 

Tabea wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Mimi freudig auf Ida zu rannte. Ida nahm ihren Kopfhörer ab, steckte ihn in ihre Jackentasche und gab Tabea einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich neben ihre Oma an den Tisch setzte.

 

„Lecker! Käsekuchen.“, Ida nahm sich das größte Stück und fing an es hinunterzuschlingen.

 

Tabea liebte es, wenn Idas Augen anfingen zu strahlen, wenn sie ihren selbstgemachten Kuchen aß. Während Ida eine Gabel nach der anderen vom Kuchen zu sich nahm, legte Tabea ihrer Enkelin das gefundene Handy vor den Teller.

 

 „Es scheint als hättest du das gestern hier vergessen.“

 

„Das ist nicht meins. Oma meinst du wirklich, ich hätte 24 Stunden ohne mein Handy ausgehalten.“ Lachte Ida und legte als Beweis ihr weißes Handy auf den Tisch.

 

 „Aber wem gehört es denn dann?“ fragte Tabea verblüfft.

 

„Mach mal an“ meinte Ida und nahm einen großen Schluck vom heißen Tee. 

 

Tabea drückte die Knöpfe an der Seite und das Handy ging an. Es leuchtete auf und forderte Tabea auf einen Code einzugeben.

 

 „Tja, es ist gesperrt. Ich habe doch keine Ahnung was für einen Code ich eingeben muss.“

 

 „Lass mal sehen“, sagte Ida und nahm ihrer Oma das Handy aus der Hand. „Vielleicht ist der Code ja irgendwo versteckt.“ 

 

Ida drehte das Handy und nahm danach die schwarze Schutzhülle ab. Ein kleiner Zettel fiel auf ihren Teller. Sie nahm ihn auf, entfaltete ihn und las laut vor: „Eripitur persona, manet res. Was zum Teufel ist das denn für eine Sprache.“

 

 „Latein. Die Person vergeht, die Sache bleibt, bedeutet das.“ antwortete Tabea fast abwesend. Irgendwas löste dieser Satz in ihr aus, sie wusste nur nicht was.

 

„Naja, vielleicht hat Mimi das Handy irgendwo am Grundstückrand gefunden und hier abgelegt. Ich werde es morgen im Fundbüro abgeben. Nun lass uns den Tee, Kuchen und Sonnenschein genießen“, entgegnete Tabea Ida, strich ihrer durchs Gesicht und hörte ihre Enkelin zu. Jedoch nahm Tabea die Worte nicht mehr wahr, denn ihr Kopf fing an zu rauschen und sie fühlte sich benommen.

 

Zwei Stunden später verabschiedete sich Ida von ihrer Oma und Mimi und wollte gerade um die Ecke gehen, als sie sich noch einmal zu Tabea umdrehte und meinte: „Und Omi, falls du es doch nicht aushalten kannst auszuprobieren ob du den Code knacken kannst, versuch Jahreszahlen. Wenn das Handy für dich sein soll, muss es eine Zahl sein, die du kennst.“ Ida grinste, winkte noch einmal und ging.

 

Spät abends lag Tabea noch lange wach. Als sie gerade dabei war in den Schlaf zu fallen, schreckte sie auf.  Eripitur persona, manet res. Ihr Vater hatte das gerne gesagt, wenn er mit irgendeiner Entscheidung nicht zufrieden war, egal von wem. Sie hatte Jahre nicht mehr an ihre Eltern gedacht. Sie hatte mit ihnen abgeschlossen und das schon vor mehr als 40 Jahren, als sie ihnen den Rücken kehrte um neue Weichen für ihr Leben zu stellen.

 

Warum bekommt sie denn jetzt ein Handy mit einem Zettel auf dem genau das Lieblingszitat ihres Vaters steht? Könnte es sein, dass es da jemand doch extra hingelegt hat? Aber wenn dem so wäre, bedeutete dass das jemand zwischen Frühstück und der Teezeit in ihrem Garten war und wusste, dass sie es dort finden würde. Wurde sie etwa beobachtet?

 

Das Gedankenkarussell in Tabeas Kopf wollte nicht mehr aufhören. Ihr Herzschlag wurde schneller und ihre Atmung hastig. Sie konnte unmöglich schlafen ohne zu wissen was auf dem Handy war. Tabea stand auf, wickelte sich in ihren Morgenmantel und ging in ihre Bibliothek, in der sie das Handy auf den Tisch abgelegt hatte. Sie setzte sich in ihren Sessel, atmete tief durch und schaltete das Smartphone an. Den ersten Code den Tabea versuchte war: 1933, das Geburtsjahr ihres Vaters. Falsche Eingabe, neuer Versuch. 1935, das Geburtsjahr ihrer Mutter, war ebenfalls falsch. Tabea merkte wie ihr Puls stieg.

 

Es gab nur noch ein anderes Jahr, welches in Verbindung mit ihrem alten Leben stand. Aber es wäre unmöglich, dass irgendjemand dieses Jahr kannte, außer ihre Eltern. Aber die wissen wahrscheinlich nicht einmal wie man ein Handy bedient und sie war sich gar nicht sicher ob die Eltern noch am Leben waren.

 

Mit zitternden Händen tippte Tabea langsam die vier Nummern ein 1-9-7-4. Richtig.

 

Der Bildschirm erhellte sich und Tabea ließ vor Schreck das Handy fallen. Sie muss sich verguckt haben, dass konnte unmöglich sein. Mit verschwitzten Händen nahm Tabea das Handy wieder in die Hand und schaute auf den Bildschirm. Ihr junges altes Ich schaute sie zurück an. Tabea konnte, wie in einer Trance, ihren Blick nicht vom Bildschirm lösen. Erst als sie ein kleines Muttermahl auf der rechten Gesichtswange erkannte, lehnte sie sich kopfschüttelnd in ihren Sessel zurück. Jetzt raste ihr Herz noch schneller und ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt. Sie ging auf die Galerie und fand noch mehr Bilder und noch mehr Beweise für ihre schlimmste Befürchtung. Sie sah ein altes Schulfoto von sich aus der 10 Klasse, ein altes Geburtstagsfoto mit ihren Eltern und eins von sich als Kind am Strand. Doch zwei Bilder trieben ihren Puls massiv in die Höhe, so dass Tabea dachte sie folgt ihren Ehemann und bekommt ebenfalls einen Herzinfarkt. Eins von den Beiden war ihre Geburtsurkunde: Babette Schmidt. Das andere Foto zeigte sie gestern in ihrem Garten mit Ida und Mimi. Man hatte sie beobachtet und diese Person kannte ihren richtigen Namen. Tabea merkte wie das Schwindelgefühl einsetze und ihr Kopf schien zu platzen.

 

Warum jetzt? Warum musste nach all den Jahren jemand sie mit ihrem alten Leben konfrontieren? War es Erpressung?

 

Die Panik wurde schlimmer und sie hatte das Gefühl keine Luft zu bekommen.

 

Sie riss die Tür auf, ging auf den kleinen Balkon, hielt sich am Geländer fest und versuchte ihre Atmung wieder zu kontrollieren. Sie musste sich sammeln und dafür bräuchte sie Schlaf, an dem in ihrem jetzigen Zustand jedoch nicht mehr zu denken war. Tabea machte die Balkontür wieder zu, ging ins Badezimmer, nahm nach langer Zeit mal wieder 2 Schlaftabletten ein und bemerkte die schwarzgekleidete Person auf der anderen Straßenseite die ihre Villa beobachtete nicht, als sie sich um 00:37 ins Bett legte.

 

11 Stunden vorher

 

Es war 13:37 und in wenigen Minuten würde Babette ihr Anwesen verlassen um mit ihrem Hund für eine Stunde die übliche Runde zu gehen. Nach zwei Wochen der Beobachtungen war es sehr deutlich geworden, dass dies etwas war, was Babette wirklich jeden Tag zur selben Zeit machte. Sie hatten alles durchgeplant und nun war es Zeit für den nächsten Schritt. Nachdem Babette mit ihrem Hund um die Ecke gegangen war, machte sich Linn auf den Weg in den Garten. Dieses pompöse Anwesen fühlte sich wie ein Schlag in die Magengrube an. Je länger sie auf dem Grundstück war, desto stärker wurde ihre Wut. Am liebsten hätte sie einen großen Stock genommen und sämtliche Fenster eingeschlagen. Aber so war nicht der Plan. Also atmete sie die Wut mal wieder weg, legte das Handy auf den Stuhl und ging unauffällig vom Gelände und rief ihren Partner an.

 

„Ich hab`s getan.“

 

„Sehr gut. Dann warten wir mal ab. Ich bin auf dem Weg zu dir. Bis gleich.“

 

Linn legte auf und setze sich in den gemietete weißen Bulli um auf Alex zu warten. Dieser Schritt wird zeigen, ob der Plan aufgeht und Babette der Spur folgt um endlich aus der Lügenblase, in der sie lebte, herauszutreten.

 

Kurz nachdem Alex eingetroffen war, kam auch Babette zurück und bereitete den Tisch im Garten vor. Linn nahm das Fernglas, um den Gesichtsausdruck der alten Frau sehen zu können. Die erwünschte Regung zeigte sich jedoch nicht und Linn merkte wie die Wut erneut in ihr hochkochte. Hatte sie ihr Gedächtnis aus dem alten Leben mit ihrem neuen komplett gelöscht?

 

Als könnte Alex ihre Gedanken lesen entgegnete er ihr: „Reg dich nicht auf. Das ist so lange her, das braucht eine gewisse Zeit bis es in die tiefsten Ecke ihres Kopfes kriecht. Und wenn sie es verstanden hat, trifft es sie wie aus dem Nichts.“

 

„Ich hoffe es. Sie soll mit diesem ganzen Schauspiel aufhören und zu dem Stehen was sie gemacht hat.“

 

„Sie wird ihre gerechte Strafe dafür bekommen. Dafür sorgen wir.“

 

Alex sollte Recht behalten und in der frühen Nacht bekam Linn die gewünschte Reaktion. Es schien als würde Babette auf ihrem kleinen Balkon eine Panikattacke durchleben. Wunderbar, so soll es sein, dachte sich Linn und grinste hinter ihrem Fernglas. Babette konnte sich also noch an das Jahr erinnern, in dem sie sich dazu entschied auf Kosten eines Menschenlebens fortan eine Lüge zu leben. Doch das war nun endlich vorbei. Der erste Riss brachte das Kartenhaus zum Wackeln und schon bald würde es in sich zusammenklappen.

 

 Mit dieser ersten Genugtuung, legte Linn sich neben Alex auf die Matratze im hinteren Teil des Bullis. Dieser schlief schon seit ein paar Stunden. Sie guckte auf die Uhr: 00:37, noch 10 Stunden, bis der nächste Schritt eingeleitet werden würde.

 

Noch 52 Stunden

 

Tabea hatte, dank der Schlaftabletten, an einem Stück durchgeschlafen und fühlte sich dennoch wie gerädert. Sie wusste nicht wie sie mit der ganzen Situation umgehen sollte. Ihre Kinder durfte auf gar keinen Fall etwas davon erfahren, so viel stand für die resolute Dame fest. Ihre beiden Söhne würden sich an die Polizei wenden wollen und ihre Tochter würde sie mit Fragen bombardieren und Antworten verlangen. Das durfte nicht passieren. Sie hatte damit abgeschlossen. Babette war damals gestorben und das sollte auch so bleiben. Was Tabea am meisten wunderte war die Frage: wer hatte sie wie gefunden?

 

Hatten ihre Eltern jemanden engagiert um sie noch einmal wiederzusehen?

 

Mit diesen Gedanken wollte sich Tabea gerade auf den Weg zum Sport machen, als es klingelte. Tabea öffnete die Tür, jedoch war keiner da. Als sie nach rechts und nach links schaute, war ebenfalls keiner zu sehen. Sie wollte gerade die Haustür wieder schließen, da sah sie ein Päckchen auf der Stufe vor ihrer Tür liegen.

 

Schon wieder überkam ihr der Schwindel und Schweißausbruch. Sie fühlte intuitiv, dass das Päckchen garantiert keine kleine Freude sein wird. Trotz schlechter Vorahnung, nahm sie es fast geistesabwesend in die Hand. Sie musste es öffnen um zu erfahren wer oder was hinter diesem ganzen Alptraum steckte.

 

Zitternd nahm sie die Schere, öffnete das Päckchen und setzte sich auf die Couch. In dem geheimnisvollen Paket lag ein kleineres Päckchen in Packpapier umhüllt. Vorsichtig und achtsam entwickelte sie das Objekt und hielt ein kleines zerfleddertes Notizbuch in der Hand. Tabea wurde auf der Stelle schlecht und sie rannte ins Badezimmer um sich zu übergeben.

 

Wer um Himmelswillen kam nach all diesen Jahren an ihr altes Tagebuch? Was ging hier vor?

 

Langsam ging Tabea zurück ins Wohnzimmer und setzte sich vor das Tagebuch. Sie betrachtete es als wäre es eine Bombe die jederzeit hochgehen könnte. Tabea atmete noch einmal tief durch und schlug das Tagebuch dort auf, wo ein kleiner Zettel herausguckte. Es war ihr letzter Eintrag, bevor sie ihren alten Namen ablegte:

 

Liebes Tagebuch,

 

es geht nicht anders. Ich kann nicht mehr länger hierbleiben. Ich muss mir was überlegen. Aber so wie es jetzt ist, kann mein Leben doch nicht aussehen. Ich habe Träume und die kann ich so nicht verwirklichen. Ich kann doch nicht mein Leben lang in diesem Kaff sein. Mein Leben kann nicht aus diesen primitiven Mitmenschen bestehen. Ich bin für was Höheres und Besseres bestimmt. Und wenn meine Eltern das nicht sehen, dann sind sie keine Stütze. Dann muss ich alleine für mich sorgen, egal was irgendwer dazu sagt. Ich brauche einen Plan.

 

Nachdem sie diesen kurzen Eintrag gelesen hatte, drehte sie den kleinen Zettel in ihrer Hand um:

 

Es ist tut mir leid. Ich muss gehen. Es ist für alle besser so.

 

               B.S.

 

 

 

Der Schwindel wurde wieder stärker und die Dunkelheit übernahm Tabeas Bewusstsein.

 

Während Tabea das Tagebuch auspackte, sah Linn wie Alex ohne das Päckchen in der Hand vom Grundstück kam. Schon von Weitem machte er eine Geste und zeigte damit das es geklappt hatte. Babette hatte das Päckchen bekommen. Am Bulli angekommen, berichtete Alex von seinem Eindruck, den er aus seinem Versteck bekommen hatte und Linn freute sich sichtlich, dass es der alten Frau doch nicht einfach egal war und der Plan aufzugehen schien.

 

„Meinst du sie braucht noch mehr Hinweise oder können wir zum nächsten Schritt übergeben.“

 

„Ich denke, dass unser morgiges Vorhaben sie dazu bewegt uns in die Falle zu gehen.“ Erwiderte Alex und lies den Motor an.

 

Mit einem zufriedenen und überlegenden Gefühl machte sich das Paar auf und fuhr davon.

 

Noch 51 Stunden

 

Als Tabea aus ihrer Ohnmacht erwachte, spürte sie ihren Schwindel immer noch. Es war einfach zu viel, was ihr Gehirn verarbeiten musste. Sie hatte sich vor 46 Jahren dazu entschieden ein neues Leben anzufangen und mit ihrem Altem abzuschließen. Sie hatte alles so gut geplant und es schien bis gestern, als ob sie es tatsächlich geschafft hätte und es die ersten 18 Jahre niemals gegeben hatte. Sie war als junge Erwachsene, die keine Geschwister hatte und ohne ihre Eltern in eine neue Stadt gezogen, hatte eine Ausbildung gemacht, sich währenddessen in den Chef verliebt und hatte durch die Heirat mit ihm, ganz legal einen neuen Nachnamen erhalten. Mit jedem Jahr, was hinter ihr lag, wurde das alte Leben verschwommener. Nachdem ihre drei Kinder geboren waren, war Tabea von ihrem Lügenkonstrukt über ihre ersten 18 Lebensjahre und Herkunft selbst so überzeugt, dass sie es selber glaubte. Es wurde immer mehr zu der einzigen wahren Geschichte und Identität. Bis gestern.

 

Seit gestern war alles anders. Irgendjemand kannte ihren Geburtsnamen und wusste das Jahr in dem Tabea ihr altes Leben hatte sterben lassen.

 

Doch was wollte dieser Jemand?

 

Es war nirgends ein Zettel, Drohbrief oder ähnliches zu finden. Sie musste den Kopf freibekommen und darüber nachdenken, wie sie mit all dem Umgehen sollte. Tabea machte sich kurz frisch, entschied sich gegen ihren Sporttermin und machte mit Mimi an diesen Tag eine längere Runde um nicht zu unruhig auf Ida zu wirken, wenn sie zum Tee trinken vorbeikam.

 

Noch 39 Stunden

 

Mitternacht. Tabea lag wach in ihrem Bett. Ida hatte sie natürlich nach dem Handy gefragt. Sie war froh, dass ihre Enkelin ihr anscheinend glaubte, dass sie das Handy im Fundbüro der Stadt abgegeben hatte. Die ständige Anspannung und das Ungewisse laugten sie aus. Tabea schluckte erneut 2 Schlaftabletten und wartete auf die traumlose Dunkelheit.

 

Noch 24 Stunden

 

Sie hatten den Tag damit verbracht zu Warten. Tabeas Angst auf einen neuen Hinweis bezüglich ihrer größten Befürchtungen brachte sie dazu, Mimi nur in den Garten zu lassen und im Sessel zu sitzen und zu grübeln.

 

Das Klingeln ihres Telefons brachten sie wieder in die Gegenwart.

 

„Hallo?“

 

„Hallo. Frau von Birkenau? Frau Anderson hier. Es tut mir leid, aber ich habe leider eine schlechte Nachricht für sie. Ich habe ihre Nummer von einer Bekannten der Familie.“

 

Tabeas Herz raste und der Puls stieg ins Unermessliche. War etwas mit ihren Kindern passiert?

 

„Was ist denn passiert?“

 

„Ihre Eltern sind leider beide überraschend vor einer Woche verstorben. Wir haben erst aus dem Testament erfahren, dass sie eine Tochter hatten und haben bei der Beerdigung von Frau Linn Mayer, einer Bekannte ihrer Eltern, ihre Kontaktdaten erhalten.“

 

„Ich kenne keine Linn Mayer und keiner kann meine Adresse oder Telefonnummer haben. Sie müssen sich irren.“

 

„Aber sie sind doch die Tochter von Georg und Elke Schmidt oder nicht? Ist ihr Geburtsdatum der 24.05.1956?“

 

Tabea beantwortete beides mit einem leisen „Ja“ und fühlte wie der Schweiß ihr eiskalt den Rücken herunterlief.

 

Als sie den Hörer auflegte, nachdem sie Frau Anderson versichert hatte, sie würde am nächsten Tag kommen, ging sie seit Langem mal wieder an die Hausbar und schenkte sich einen dreifachen Whiskey ein. Der Alkohol wirkte schnell und ihr Nervenflattern wurde ruhiger. Sie hatte ein sehr schlechtes Gefühl, aber die Neugier wie alles miteinander zusammenhing war stärker. Sie war nach 46 Jahren bereit sich ihrem alten Leben zu stellen. Sie konnte nicht mehr fliehen, die oder der Unbekannte wusste sowieso schon wo sie wohnte und bevor es gegen ihre neue, einzig wahre, Familie gehen würde, musste sie dem Ganzen ein Ende setzen. Sie ging in das alte Arbeitszimmer ihres Mannes, öffnete den Safe und nahm die kleine Pistole in die Hand. Sie war noch geladen. Tabea steckte die Pistole in ihre Handtasche. Nun war sie wirklich bereit. Egal was passieren würde.

 

Noch 7 Stunden

 

Tabea hatte wie seit drei Tagen schlecht geschlafen. Sie schreckte immer wieder mit Bildern aus ihrem alten Leben hoch und fühlte sich beobachten. Wie auch in den letzten zwei Nächten, ging sie zwei Mal nachts durchs Haus und beleuchtete jedes Zimmer mit dem mulmigen Gefühl plötzlich überfallen zu werden. Doch sie war alleine mit Mimi im Haus. Gleichzeitig zermürbte ihr schlechtes Gewissen, dass sie ihre Eltern nie über ihr neues Leben informiert hatte.  Tabea hatte zwar mit ihrem alten Leben abgeschlossen und hatte jedem erzählt, dass beide Eltern gestorben waren, dennoch fühlte es sich furchtbar an, nun zu wissen, dass ihre Eltern tatsächlich gestorben waren.

 

Tabea packte ihre kleine Tasche, in der sie nur 3 Wechseloutfits einpackte um sich selber zeitlich einzugrenzen, wie lange sie in ihrer alten Heimat verweilen würde. Bevor sich Tabea in ihren kleinen Mini setzte, schrieb sie ihrer Enkelin noch eine SMS:

 

Hallo Süße, ich muss spontan für ein paar Tage eine schwerkranke Freundin besuchen. Ich melde mich heute Abend bei deiner Mama und dir. Kuss, Omi

 

Danach fuhr sie mit einem aufgewühlten Gefühl zum 415 Kilometer entfernten Elternhaus. Sie war mit der Nachlassverwalterin um 12:30 im Haus verabredet.

 

Während sich Tabea auf den Weg in ihre alte Heimat machte, telefonierte Linn mit Alex und ging das weitere Vorgehen durch. Alex war mit seiner Aufgabe nun fertig und erklärte Linn, wo sie ihn finden würden, wenn sie später nachkäme. Die Aufregung stieg bei Beiden aufs Maximum und Linn überlegte, was sie brauchte um nicht direkt ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Nach Atemübungen und Baldriantropfen wurde sie ruhiger. Sie war bereit. Babette konnte kommen und ihr Schicksal und verleugnete Identität endlich akzeptieren.

 

Noch 2 Stunden

 

Als Tabea ihr Auto die Auffahrt ihres in den 50er Jahren erbauten Elternhaus hochfuhr, überkam sie ein Kälteschauer. Sie hatte es gar nicht so dunkel und bedrohlich in Erinnerung wie es ihr gerade vorkam.

 

Eine Frau mittleren Alters, mit braunen schulterlangen Haaren und einem Designerkostüm, wartete schon vor der Haustür auf sie und empfing sie mit einem Lächeln, was gleichzeitig Bedauern ausdrücken sollte.

 

„Hallo Frau von Birkenau. Schade das wir uns unter solchen bedauerlichen Umständen kennenlernen. Aber ich freue mich dennoch sie kennenzulernen und schön, dass sie so spontan kommen konnte. Sollen wir reingehen?“

 

„Hallo Frau Anderson, ja gerne, lassen sie uns reingehen.“

 

Das Haus schien freundlicher und einladender, als Tabea es in Erinnerung hatte. Frau Anderson schien die Verwunderung in Tabeas Gesicht zu sehen.

 

„Ihre Eltern sind vor 3 Jahren in ein Pflegeheim gezogen und haben das Haus an eine Familie vermietet, die jedoch vor gut einem Monat ausgezogen ist. Da es ihren Eltern schon damals gesundheitlich nicht gut ging, wurde das Haus nicht direkt weitervermietet. Vor ihrem Umzug ins Pflegeheim, brachten ihren Eltern noch einige Sachen in einem Lagerraum. Wir können uns gerne heute Nachmittag um 16 Uhr mit den anderen Personen, die im Testament erwähnt werden, dort treffen um den Nachlass durchzugehen.

 

Tabea, die völlig geistesabwesend Frau Anderson zugehört hatte, schreckte aus ihren Gedanken.

 

„Mit den Anderen? Welche Personen wurden denn noch im Testament genannt?“

 

„Wer das genau ist, kann ich ihnen nicht sagen. Aber ihre Eltern hatten auf jeden Fall ihre Bekannte noch im Testament. Von der habe ich auch ihre Kontaktdaten bekommen.“

 

„Sie sagten die Dame heißt Linn Mayer. Ich kann mich gar nicht an eine Frau Mayer erinnern.“

 

„Das verwundert mich jetzt. Mir wurde erzählt, dass sie sich kennen. Sie war in den letzten Jahren sehr oft bei ihren Eltern.“

 

Tabea nickte und versank erneut in ihre Gedanken. Frau Mayer.

 

War das vielleicht eine alte Freundin von ihrer Mutter? Würde sie sie heute Nachmittag wiedererkennen?

 

Nachdem der Rundgang mit der Nachlassbetreuerin vorbei war, gingen die beiden Frauen raus und verabschiedeten sich.

 

„Vielen Dank Frau Anderson. Wir sehen uns dann später. Auf welchem Friedhof, sagten sie liegen meine Eltern? Ich würde mich gerne von ihnen verabschieden.“

 

„Aber selbstverständlich. Auf dem Parkfriedhof im hinteren Teil. Dort sind die neuen Gräber.“

 

Jetzt

 

Auch wenn ihre Eltern für Tabea schon vor 46 Jahren gestorben waren, wollte sie ihnen die letzte Ehre erweisen und besorgte auf dem Weg zum Friedhof einen großen Blumenstrauß. Während dem Gang zu den Gräbern ihrer Eltern, überkam ihr wieder das Gefühl beobachtet zu werden. Auf dem Friedhof war jedoch kaum jemand zu sehen. Das einzige Paar welches sie entdeckte, stand eine Reihe vor den Gräben ihrer Eltern und schien sehr von ihrer Trauer eingenommen zu sein, sodass sie Tabea wahrscheinlich nicht einmal bemerkten.

 

Tabea erreichte die letzte Reihe der Gräber und ging diese ab. Irgendetwas war komisch. Ihre Eltern waren doch erst vor einer Woche beerdigt worden, jedoch wirkten diese Gräber als seien sie viel älter. Sie las die Namen durch und blieb angewurzelt nach dem fünften Grab stehen. Sie starrte auf 3 große Gräber und ein ausgehobenes offenes Grab. Auf den beiden großen standen die Namen ihrer Eltern. Georg und Elke Schmidt, gestorben am 15.05.2018. Das dritte Grab trug die Inschrift: Linn geb. 01.06.1974 gestorben. 13.04.2020.

 

Der Schwindel überkam sie wieder. Der 13.04 war der Tag an dem sie das Handy gefunden hatte. Und das Geburtsdatum war das ihrer verstoßenden Tochter. Sie hatte die Schwangerschaft damals erst im 5 Monat bemerkt und sie bis zur Geburt im Badezimmer ihres Elternhauses, geheim halten können. Sie wollte dieses Leben, welches sie unfreiwillig auf einer Scheunenparty von einem besoffenen Bauer erhalten hatet, nicht ihr Leben bestimmen lassen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, wegen diesem Widerling und den konservativen Werten ihrer Eltern sich an ein Leben auf dem Land für immer zu binden. Auf Grund dessen entwickelte Tabea einen Plan ein neues Leben anzufangen, um ihr altes Leben nach der Geburt den Rücken kehren zu können. Die Tränen flossen Tabea unkontrolliert die Wange runter und die Trauer überkam sie, sodass sie nicht merkte wie sich das unbekannte Paar näherte. Erst als sie hinter ihr standen, schreckte Tabea um und schaute in das Gesicht von Frau Anderson, nur diesmal mit blonden kurzen Haaren und dem Muttermahl im Gesicht. So wie auf dem Foto. Es war kein Foto von ihr, sondern dass ihrer Erstgeborenen, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war.

 

„Hallo Mutter.“ Sagte Linn mit wutentbranntem Gesicht und einer Pistole auf sie gerichtet.

 

„Linn? Aber wie ist das möglich?“

 

Und da erzählte ihr Linn ihre Geschichte. Wie sie damals von den überforderten Großeltern an eine Pflegefamilie abgegeben wurde, der Pflegevater sich das erste Mal an ihr vergangen hatte als sie 7 Jahre war. Die ganzen Alkohol- und Drogenexzesse die Linn das Trauma verdrängen ließen, die Klinikaufenthalte, ihr Sohn der ihr wegegenommen worden war und die letzten Jahre, in denen sie sich ihren Großeltern angenähert hatte. Es schien als hätte Linn es geschafft ein wenig Ruhe in ihr Leben zu bekommen. Doch dann starb erst ihr Großvater plötzlich an einem Schlaganfall und kurze Zeit später ihre Großmutter an einem Herzinfarkt.

 

Während der Haushaltsauflösung fand Linn die Fotos und die Geburtsurkunde und begann zu recherchieren. Es kostete sie fast zwei Jahre um ihre leibliche Mutter zu finden. Aus Babette Tabea Schmidt wurde zuerst Tabea Schmid und dann Tabea von Birkenau. Nachdem sie das herausgefunden hatte, schmiedete sie mit ihrem Mann den Plan, ihre leibliche Mutter mit ihrer wahren Identität zu konfrontieren.

 

Babette hatte sich alles angehört und stand paralysiert vor ihrer Tochter. Sie konnte den Hass und Schmerz förmlich spüren und wollte gerade etwas sagen und versuchte unbemerkt an ihre Waffe zu kommen. Doch bevor es dazu kam, hörte sie die letzten Worte von ihrer Tochter:

 

„Und alles nur wegen dir.“

 

Dann fiel der Schuss und traf Babette knapp unterm Herzen. Durch die Wucht stolperte Babette nach hinten und fiel ins ausgehobene leere Grab.

 

Da lag sie nun. Neben ihren Eltern, neben den leeren Grab ihrer angeblich verstorbenen Tochter und ergab sich ihrem Schicksal. Das Letzte was sie sah, waren Linns wutverzerrten Augen.

 

Nachdem die Dunkelheit über sie kam, bemerkte sie die Erde nicht mehr die auf sie geschüttet wurde.

 

Nach der letzten Schaufel Erde, steckte Linn die Schaufel neben das Grab. Alex legte den Arm um sie. Er griff in seine rechte Seitentasche und gab Linn einen neuen Ausweis.

 

„Komm lass und gehen Frau Linnea Maier. Wir müssen noch die letzten Sachen in den Möbelwagen packen bevor es losgeht.

 

Linn schaute ein letztes Mal aufs Grab, dann zu Alex, lächelte und beide gingen zurück zum weißen Bulli. Sie war bereit eine neue Identität anzunehmen und ihr neues Leben anzufangen.

 

                

 

                      ENDE

 

4 thoughts on “Reminisci

  1. Hallo
    Coole, schöne, überraschende Geschichte.
    Hat mir sehr gut gefallen.
    Dein Stil wirkt sicher und bereits gefestigt.
    Ich konnte sehr gut mit Tabea mitfühlen, aber auch mit der anderen Protagonistin ( will ja nicht spoilern).

    Das Ende war natürlich hart und direkt. Nach der Aufklärung jedoch auch gut.
    Du hast deine Bilder und Gedanken gut umgesetzt. Deine Sprache ist bildhaft und in der Regel präzise gewählt.

    Kleine Anmerkung: lass deine Geschichten immer von einer weiteren Personen gegenlesen. Es haben sich da und dort kleine Fehler in die Geschichte eingeschlichen, was aber normal und unvermeidbar ist.
    Einem Fremdleser würden sie schnell auffallen.
    Ich habe die Geschichte zumindest gerne gelesen.
    Sie hat mich unterhalten und gefesselt.
    Arbeite weiter an deinem Stil.
    Das geht nur, indem du schreibst, schreibst und nochmal schreibst.

    Aber du bist bereits auf einem sehr guten Weg.
    Kompliment.
    Mein Like hast du.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, meine Geschichte auch zu lesen.
    Würde mich freuen.
    Sie heißt: “Die silberne Katze”.

    Ganz liebe Grüße.
    Swen

  2. Moin Jana,

    ne tolle Geschichte die du uns hier präsentierst. Gut ausgedacht, gut geschrieben und so ein Countdown ist immer ein tolles Stilmittel um Spannung aufzubauen. Der Schluss ist ja mal richtig düster. Kein Happy-End und man fragt sich „ was macht die kleine Ida „ jetzt?

    Der Antagonist lebt quasi das Leben weiter, wofür der Protagonist gehasst wurde. Gute Idee!
    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    1. Moin Frank,

      vielen lieben Dank für dein tolles Feedback. Ich hatte eigentlich nicht vor, dass das Ende so düster wird, aber irgendwie ging es dann nicht mehr anders:) freue mich sehr über dein Like und bin schon auf deine Geschichte gespannt. Dir auch alles Gute fürs Voting.

      Liebe Grüße
      Jana

  3. Liebe Jana,

    mit Deinem Ende hast Du mich voll erwischt – damit und auch mit der Auflösung generell habe ich absolut nicht gerechnet, wow.

    Der erste Gedanke, der in mir aufgepoppt ist, war tatsächlich auch „Und was ist mit Ida?!?“ 😂 Sie und Tabea haben mir wahnsinnig leid getan, obgleich die Rachegefühle von Linn absolut nachvollziehbar sind.

    Ich habe mich sehr unterhalten gefühlt!

    Wenn Du Lust und Zeit hast, würde ich mich sehr freuen, wenn Du einen Blick über meine Geschichte werfen magst, sie heißt „Räubertochter“.

    Liebe Grüße
    Anita

Schreibe einen Kommentar