steffiobiSallys Verschwinden

Punkt 20:30. 

Ich saß in einem eher kahlen Raum, beigefarbene Wände hinter mir mit etwas Stuck besetzt. Der Bühnenboden unter mir schwarz, die Sitze des Publikums samtrot und über uns einige große Kronleuchter, die dem Raum die Pracht verliehen, die er verdiente.

Es standen noch drei Leute an, dann hatte ich es geschafft.

Nach der Autogrammstunde winkte ich noch den verbliebenen Fans, die selbst nachdem sie das erhoffte Autogramm von mir erhalten hatten, in ihren Sitz zurückgekehrt waren und mich von dort aus beobachteten. Dann ging ich aus der Halle der Carnegie Hall zurück in meine Garderobe. Sobald ich den ersten Schritt von der Bühne setzte eilte ich los und sprintete den Gang zu meiner Garderobe entlang, trat beinahe die Tür ein, riss nach einer halben Umdrehung meine Jacke vom Kleiderständer und streifte mir meinen Schal über. Meine Arme glitten wie von selbst in beide Ärmel hinein.

Ich war so froh als ich von diesem Stuhl aufstehen konnte, meinen Stift fallen lassen und aus diesem Saal gehen zu können. Meine Berufung war es wohl, Schriftstellerin zu sein und ich genoss es, meine Fantasie strömen zu lassen und es zu Papier zu bringen. Noch mehr, dass Leute es mochten, zu lesen, was ich zu sagen hatte.

Auch wenn all das nicht mit einer besonders ruhmhaften Geschichte begonnen hatte, so war ich froh, dass mich dieser Weg gefunden hatte und ich mit den Gedanken der Menschen spielen konnte. 

Aber all diese Leute, die sich anstellten, nur um meine Hand zu schütteln, mir ihr Herz auszuschütten und meine Unterschrift in ihrem Buch zu haben, konnte ich trotzdem nicht leiden. Egal wie freundlich sie auch darum baten und wie nett sie klangen. Alle wollten immer mit mir tauschen, ihr schönes, vollkommen uninteressantes Leben aufgeben, um an jeder Ecke von Paparazzi verfolgt zu werden. Es war in meiner Welt nicht möglich einfach in Ruhe mit meinem Hund Paco, der womöglich liebenswerteste Begleiter, den es gab, spazieren zu gehen. Irgendwo hinter einem Busch oder einer Ecke stand bestimmt ein Fotograf und wartete auf seine Chance. 

Die Garderobentür flog beinahe aus der Verankerung, weil ich sie so energisch aufriss. Ich fing an zu eilen, beinahe Laufschritt, und erfasste schon den Türknauf des Ausgangs. 

Da hörte ich die Stimme meines Agenten, Gabriel. 

“Wohin des Weges so eilig, junge Dame?”

Ich sackte innerlich zusammen, weil ich es beinahe geschafft hätte dem Ganzen ungesehen zu entfliehen. Aber natürlich wusste er wie immer wo ich war. 

“Gabriel, ich will nach Hause. Ich habe gerade in etwa 247 Bücher signiert, 55 Autogrammkarten unterschrieben und sogar auf zwei Sportteilen der NY Times meinen Namen hinterlassen. Meinst du nicht das ist Hausaufgaben genug für heute?”

Er kam auf mich zu mit einem Lächeln im Gesicht. Ich lächelte zurück. Womöglich einfach nur aus Freundlichkeit, weil ich hoffte, dann schneller hier raus zu sein. 

Ich zog meinen Mantel zu und formte einen Knoten aus dem Gürtel. Das sollte signalisieren, dass ich nicht diskutieren wollte. 

“Ich weiß, ich weiß, Liebes. Du warst wunderbar.”

Mir schwante, er suchte nach einem ‘aber’ für diesen Satz. 

“Hast du nicht schon genug Fotos von mir, Gab?”, vielleicht brachte ihn mein unaufhörliches Betteln dazu, mich gehen zu lassen. Mein Kopf sank zur Seite und meine Augenbrauen formten ein ‘Bitte?’. Auch wenn ich wusste, dass er es nicht anerkennen würde, weil er einfach der strengste aber beste Agent der Welt war. Er war nicht nur das. Bester Freund und Agent in einem. Ich wusste, dass ich mich auf ihn verlassen konnte, wann auch immer. So oft schon hatte er sich nachts meine Sorgen anhören müssen und hatte nie ein Sterbenswörtchen über sich erwähnt. 

“Ach Steph. Du weißt doch wie das Business läuft. Ich brauch dich noch. Los komm!”

Ich wusste, dass diese Worte kommen würden. Heute Abend hatte ich nur gehofft, dass er ein oder sogar zwei Augen zudrücken würde. Aber mein allzu strenger Agent lässt mir keine Wahl. 

Mein Kinn sank müde auf mein Brustbein. Er nahm meine Hand und weil ich keine Chance hatte,  folgte ich Gab, der mich in den Konferenzraum brachte. Dort saßen bereits Doris, meine Chief Editor und Hank, mein oberster Boss und der Verleger. 

Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte und schaute Gab verunsichert an. Er lächelte nur, lies meine Hand los und klopfte mit seiner beruhigend auf mein Schulterblatt.

Ach, hatte ich schon erwähnt, dass er schwul war? Gabriel und ich waren deshalb eher BFFs, die Liebeskummer in Eiscreme ertränkten und gemeinsam über Wortwitze lachten. 

Ich setzte mich an den Kopf des langen Tisches und verwies Gabriel sich neben mich zu setzen. 

Sowohl Hank als auch Doris lächelten. Falsch. Es war ein eher falsches Lächeln, das mich in Sicherheit wiegen sollte. 

Doris lebte ein scheinbar perfektes Leben. Sie ergatterte ihren Traumjob, hatte zwei Kinder im Teenageralter, die beide Eliteschulen besuchten und einen Mann, der Captain beim NYPD war. Sie hatte Geld, Glück und Gesundheit in einem. Jede Bewegung, die sie tat, strahlte aus, wie zufrieden sie war, so viel in ihrem Leben erreicht zu haben. Da gab es nur ein paar wenige Momente, in denen ich sie beobachtete und mir vorkam als würde ihr etwas fehlen zum vollkommenen Glück. 

Hank wiederum war die Ruhe selbst. Entweder er hatte in seinem langen Leben bereits etliche Wände oder Kokons um sich herum aufgebaut oder aber er war wahrhaftig zufrieden mit sich und der Welt. Er war undurchschaubar und unantastbar für jeden. Frau, zwei Töchter, die bereits erwachsen waren und erfolgreiche Jobs hatten – BEIDE – und zu allem Überfluss reiste er jedes Jahr mindestens einmal an einen Ort seiner Wahl. 

“Hi Ste… Candis. Sorry. Hör zu,…”

Im selben Moment als Doris fortfahren wollte, legte Hank ihr die Hand auf den Unterarm. Sie stockte, überlies ihm widerwillig das Reden und lehnte sich gezwungenermaßen in ihren Stuhl zurück.

Hank legte beide Unterarme auf den Glastisch und schaute mich mit weichem Blick an. Ihm hatte ich von Anfang an vertraut. Er war immer wie ein Großvater für mich und der Einzige, der mich Steph nennen durfte. Auch weil ich wusste, dass er sich vor all dem Publikum niemals verplappern würde und meinen richtigen Namen verraten würde. 

“Stephanie. Wir sind stolz auf alles, was wir bis hierhin geschafft haben. Die Bücher verkaufen sich toll und die Leser und Leserinnen geben tolle Rezensionen ab.”

Seine Worte waren nicht leer. Er sah mich stolz an und lies es mich spüren. Ich spürte Wärme in mir aufsteigen und die Sicherheit, dass das hier ein positives Ende nahm, wuchs. 

“Es gibt eine neue Idee für eine neue Buchreihe für dich.”

Ich lies ihn nicht weitersprechen und hob meine Hand, bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte. 

“Hank!”, sagte ich und mochte von meinem Stuhl aufspringen. Er hielt mich jedoch zurück. Hank hatte allem Anschein nach doch damit gerechnet, dass ich so reagieren würde. Das machte alles nicht gerade besser. Überhaupt nicht, im Gegenteil. Es machte mich nur noch wütender. 

“Beruhige dich, Stephanie, beruhige dich, Kleines.”

Hank war einer der wenigen Menschen, bei dem es mir keinesfalls schwer fiel, ihm etwas zu verzeihen. Seine weichen Gesichtszüge, sein hellgraues Haar mit der leichten Erhöhung am Vorderkopf, seine fast schluchtenartigen Falten im Gesicht und nicht zu vergessen seine allzu kräftigen Augenbrauen. All das veranlasste mich dazu, ihm immer zuzuhören, seinen Rat immer zu erbitten und immer zu ihm aufzusehen, wie zu meinem Großvater. 

Auch in diesem Moment kämpfte ich mit Wut über die Vergangenheit und mit Ehrfurcht und Vertrauen für Hank. Ich wusste, er wollte mir keinesfalls die Erinnerung wieder ins Gedächtnis rufen oder mich verärgern. 

Ich schloss meine Augen ganz kurz, um die Fassung zu behalten. Die Beängstigung, die sich dennoch in mir ausbreitete lies mich unbehaglich fühlen und mein Selbstvertrauen schwinden. 

Mein Gesicht hatte sich verdunkelt und ich blickte in die Runde, um ihnen allen zu verstehen zu geben, dass ich nicht wieder bereit dazu war mir die Geschichte eines anderen Menschen, das Schicksal eines anderen Menschen zu eigen zu machen und die Verantwortung dafür zu übernehmen.

All diese Gedanken fingen an im Kreis zu laufen und mein Gehirn von innen aufzufressen wie ein Borkenkäfer einen Baum. So lange hatte ich es nun geschafft, dieses Geheimnis zu verdrängen. Diese andere Stephanie, die nicht zu mir gehörte und mit der ich nichts zu tun haben wollte. Dieser kleine böse Teufel, der mich damals davon überzeugen konnte, die Geschichte zu schreiben und zu veröffentlichen. Bei dem Gedanken kam ich mir so klein und unnütz vor. Niemals wieder wollte ich jemand anderen verraten, das wurde mir mit jedem Mal klarer. Ungehalten sprang ich aus meinem Sitz. Weder Hank zu meiner Linken, noch Gab zu meiner Rechten konnten mich diesmal davon abhalten. 

“Ich sage euch nun eines, meine Lieben: Ich will diese Geschichte nicht mehr hören. Auf jegliche ‘Idee’, die ich verwende, die aber von einer angeblich unbekannten Quelle stammt, werde ich mich nicht mehr einlassen. Es ist mir egal, ob ich dann aus dem Vertrag ausscheide und ob die Leute dann über mich reden, Geschichten erzählen oder sonst was. Soll die Klatschpresse doch über mich schreiben. Sollen die Leute doch denken ich würde den Verstand verlieren. Ich und meine Ideen sollten gut genug sein für das, was die Menschen lesen wollen. Wenn es das nicht wäre, dann würde es auch keiner kaufen.”

Alle starrten mich mit großen Augen an. Sie hatten eine energische Reaktion erwartet, aber nicht in diesem Ausmaß. 

Doris’ Mund klappte auf und wieder zu. Sie, Hank und Gabriel waren die Einzigen, die von dieser Vergangenheit wussten. Niemand sonst wurde eingeweiht. Zumindest nicht von mir.

“Stephanie, ich verstehe dich.”

Hank schaute mich an, aber nun mit weicherer Miene. Er hatte seinen Blick auf seinen grünen Umschlag gesenkt und schien mich zu verstehen. All seine väterlichen Instinkte waren aktiviert. 

“Nun denn, dann sind wir wohl fertig für heute.”, sagte ich bestimmt und verließ meinen Platz. Ich ging in Richtung Tür und war nun fest überzeugt, dass mich diesmal niemand am Verlassen hindern würde. Ich schob eine Strähne, die mir ins Gesicht gefallen war, zur Seite.

“Stephanie, es ist Zeit für ein neues Buch.”

Ich drehte mich um und nickte Hank zu, wobei die Strähne wieder ins Gesicht fiel. Dann öffnete ich die Tür und sprintete den Gang entlang bis ich durch den Haupteingang die Straße erreichte. Mein Mantel war noch immer zugeschnürt. Einen Moment lang blieb ich stehen und genoss die etwas kühle Brise in meinem Gesicht. Tom, mein Fahrer, stand bereits vor der Türe. Ich ging auf ihn zu, öffnete die Hintertür zum Wagen und wollte einsteigen, hielt aber einen Moment inne. 

Heute Abend ging ich ein Stück zu Fuß. Der Central Park lag nur ein paar Blocks entfernt und ich wollte die Zeit nutzen, um den Kopf frei zu bekommen. 

“Tom, ich werde heute Abend ein Stück zu Fuß gehen. Holen Sie mich dann an der Trinity Church an der 66th ab?”

Er drehte sich zu mir um und nickte freundlich. Ich griff mir meine schwarze Kappe und öffnete meine Frisur. 

“Passen Sie auf sich auf, Candis.”

“Wie immer, Tom. Danke.”, sagte ich und schloß die Tür zum Wagen. Tom startete den Wagen und fuhr weg. Ich genoss die gewonnene Freiheit und spaziere los. Etwa zwei Blocks Richtung Central Park und dann geradewegs in die Parkanlage. Der Mond, der so hell vom Himmel leuchtete, zeigte mir den Weg. 

Es tat gut ein wenig Abstand zu gewinnen und klare Luft zu atmen. Das Gespräch mit Hank, Doris und Gabriel hatte mir ein wenig mehr zugesetzt, als ich erwartet hatte. Es hat meine Erinnerung an das, was passiert war, womit all das begonnen hatte, wiedererweckt. Nicht im Guten, um ehrlich zu sein, aber ich wollte damit klarkommen. Damit, dass meine ganze Karriere mit einer großen Lüge gestartet hatte, von der ich nicht einmal wusste, wieso mein Verleger von damals entschieden hatte, so zu handeln. Das Fundament, das ich mir so fadenscheinig fleißig aufgebaut hatte, hatte jemand anders mir mit seiner Zeit geschenkt. Oder besser noch, ich hatte es ihm gestohlen. 

Dennoch musste ich damit leben, weil ich damals eine Entscheidung gefällt hatte in dem vollen Bewusstsein, dass es nicht meine Idee, meine Fantasie war, die ich durch mein Buch zum Leben erweckt hatte. Aber ich hatte sie als solche verkauft. Tagtäglich mit diesem Gedanken aufzuwachen und zu wissen, dass irgendjemand da draußen gewusst hatte, was passiert war, weil er derjenige war, der diese Fantasie erst kreiert und zu Papier gebracht hatte. 

Für diesen Moment versuchte ich, mein Gehirn ruhen zu lassen und den kurzen Spaziergang dazu zu nutzen, um den Kopf frei zu bekommen. Jeden Abend musste ich wieder einen Weg finden, um diese Bilder, die Geschichte aus dem Hirn zu verbannen und Schlaf zuzulassen.

Ich ging nie um diese Uhrzeit sehr tief in den Central Park hinein. Die Dunkelheit hatte oft schon etwas Beängstigendes an sich, obwohl die gleißenden Lichter an den Seiten des Weges alle 50 Meter einen Strahl auf den Boden schickten. Die leichte Brise war nicht mehr zu spüren, weil um mich herum ein paar Bäume standen, die sich wie eine Allee am Weg entlangzogen. Ich hatte meine Hände in den Manteltaschen versenkt und schlenderte gedankenverloren dahin. 

Einige Leute waren noch unterwegs. Als ich kurz auf meine Armbanduhr sah, zeigte sie 21:10 Uhr. Es war Mittwoch, ein gewöhnlicher Arbeitstag für viele, aber es waren nicht viele Leute auf der Straße – für New Yorker Verhältnisse. Ein paar Jugendliche saßen auf einer Bank zusammen und tranken aus Starbucks und McDonalds Bechern. 

Da es keine Rolle spielte, wie lange ich hier draußen herumschlenderte, setzte ich mich auf die nächste freie Bank, die ich fand. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah zu den Sternen hoch. Einen Moment schloss ich die Augen und gab der aufsteigenden Müdigkeit in mir nach. 

Das nächste, das ich wusste, war dass mein Handy klingelte. Ich schreckte hoch und verrenkte mir dabei beinahe den Nacken. Dann griff ich in meine Jackentasche, um das Telefon zu holen. 

“Hi Candis, hier ist Tom. A..alles okay bei ihnen? Ich warte hier schon eine Weile, nun wollte ich sichergehen, dass es Ihnen auch gut geht?”

“Oh, wow.”

Bei einem kurzen Blick auf die Uhr wurde mir klar, warum er sich Sorgen machte. Beinahe 22 Uhr. 

“Ja, ja es geht mir gut Tom. Ich habe nur die Zeit vergessen. Bin schon unterwegs.”

Ich legte auf und steckte das Telefon zurück in meine Jacke. 

Eilig wollte ich von der Bank aufstehen als ich neben mir mein Smartphone entdeckte. Verdutzt steckte ich es ein und ging los. 

Schnurstracks gelangte ich ans Ende des Parks und lief direkt in Toms Arme, der bereits, wie besprochen, an der Trinity Church auf mich wartete. 

“Da sind Sie ja, Candis. Alles okay?”

Er legte seine beiden großen beschützenden Hände auf meine Schultern und den Kopf leicht zur Seite und ich schaute zu ihm auf. Wie immer war er sehr adrett gekleidet. Wenn es nach mir ginge dann würde ich selbst mit dem Auto herumfahren. Aber ich musste zugeben, dass es nach einem anstrengenden Arbeitstag einfach angenehmer war, wenn man nicht selbst fahren musste. Noch dazu wenn man den Luxus hatte, sich auf seinen Fahrer voll und ganz zu verlassen können, bis zu dem Punkt an dem er mich vom Auto in mein Bett bringt. Wohlgemerkt nicht weiter. Ich legte keinen Wert auf körperlichen Kontakt. Jedenfalls im Augenblick. Und Tom gehörte zu den Menschen, bei denen es einfach an der Bettkante aufhörte, was ich an ihm sehr schätzte. 

“Ab nach Hause, Tom.”, ich lächelte erleichtert ihn zu sehen. 

Mein Bedürfnis in mein eigenes Bett zu fallen wuchs von Sekunde zu Sekunde schneller.

Tom öffnete die Wagentür und lies mich einsteigen. Erschöpft nahm ich meine Kappe vom Kopf und legte sie neben mich hin. Im Augenblick spielte es keine Rolle, ob meine Haare in alle Himmelsrichtungen ragten, weil die Müdigkeit bereits die Überhand hatte. 

Im Auto auf dem Weg nach Hause (etwa 15 Minuten) schlief ich bereits ein. Tom weckte mich und brachte mich noch zur Tür. 

“Machen Sie sich keine Gedanken, Candis. Es hat alles seinen Platz und einen Grund.”

Ich hatte nichts dergleichen erwähnt, aber ich fragte auch nicht, woher er das wusste. Es war mir klar. Tom kannte mich am längsten. Sogar länger als Gabriel.  In all den Fahrten, wo ich nach langen und harten Tagen bei ihm auf der Rückbank sitzen konnte, hatte ich ihm mein Herz ausgeschüttet. Er fragte jeden Tag, ob ich gut geschlafen hatte und jedes mal wenn ich in den Wagen stieg, ob alles klar ist. Es machte ihn aus und es machte ihn für mich zum besten Fahrer, den es gab.

Ich öffnete die Haustüre und schloss sie hinter mir. Paco, mein allerliebster Hund wartete schon auf mich und war neben Tom der treueste Begleiter, den ich hatte. Seine kalte Schnauze zu spüren und zu fühlen, besonders nach einem langen Arbeitstag wie heute, lies mich all die Sorgen und Lügen vergessen. Er schmiegte sich an mich und wusste einfach, wann ich ihn am meisten brauchte. Auch wenn ich es nicht so sehr tat, so war er da und kuschelte was das Zeug hielt. Ein schwarzer reinrassiger Labrador, den ich vor etwa 3 Jahren aus einem Wurf einer Freundin gekauft hatte. Um nichts in der Welt wollte ich diese Freundschaft missen. 

Er wackelte mir durch die Wohnung bis ins Esszimmer hinterher, nachdem ich meine Jacke an der Garderobe angebracht hatte. Wie jeden Abend stellte ich mir noch Teewasser auf. Während es auf dem Herd stand und ich auf den Kochpunkt wartete merkte ich, dass ich mein Handy in der Jackentasche vergessen hatte. Ich ging zurück und griff in die seitliche Tasche.

Als ich meine Hand wieder herauszog starrte ich verdutzt auf zwei Handys derselben Marke, Farbe und mit derselben Schutzhülle. Als ich auf beiden den Bildschirm zum Leuchten brachte stellte sich schnell heraus welches mein eigenes war. Auf dem zweiten Handy war ein neutraler Bildschirm zu sehen. 

Zurück in der Küche goss ich mir das heiße Wasser in eine Tasse ein, in der ein Pfefferminzteebeutel hing. Mit ihr und den beiden Smartphones begab ich mich zum Esstisch und setzte mich. 

Das fremde Smartphone lies sich entsperren ohne einen Code. Der Hintergrund war derselbe wie am Home Bildschirm und die Applikationen waren auf ein Minimum beschränkt. Kaum eine App, die nicht schon beim Kauf auf dem Handy gewesen war, wurde bewusst darauf geladen.

Entweder das war ein Diensthandy oder das Handy war brandneu und erst ein paar Stunden alt. Ich ging in die Kontakte und fand nur die Nummer des Handys selbst. Keine weiteren Kontaktdaten oder Details, die Hinweise darauf liefern könnten, wem das Handy gehörte. 

Vielleicht fand ich in der Galerie ein Foto des Besitzers und könnte es zur Polizei bringen, die mir sagen könnten wohin das Telefon gehörte. 

Ich öffnete also die Galerie. Auch dort gab es weitere Hinweise, die zeigten, dass das Telefon kaum genutzt wurde. Etwa 25 Fotos waren insgesamt geschossen worden. 

Als ich mir die Bilder genauer anschaute wurde ich etwas stutzig. Auf den Fotos befanden sich unter anderem mein Zuhause, Tom mein Fahrer, ich und Paco im Park, Gabriel und ich vor zwei Tagen auf einer Bank und zu allem Überfluss auch noch ein Bild, das heute Abend von mir gemacht wurde, als ich die Carnegie Hall verlassen hatte. 

Mein Herz klopfte stark. Ich strich mir über die Stirn, wo jedoch kein Schweiß war. So viele Fragen tauchten plötzlich auf. Wer steckte hinter all dem und was wollte diese Person? War sie nur ein harmloser Stalker oder ging es ihr um mehr als nur um ein paar Bilder und den Kontakt mit mir zu suchen? Wie weit würde diese Person gehen? Wollte sie mir schaden?

Ich stoppte mich selbst, um nicht in ein Netz von unnützen, unbeantworteten und beängstigenden Fragen zu geraten. In Gedanken ging ich zurück zu dem Moment als ich in den Park ging bis dorthin als ich mich auf diese Bank setzte und dann wieder aufwachte. Das Handy war in der Zeit neben mir gelandet, als ich schlief. 

Die bloße Vorstellung daran, dass dieser Stalker rein wahrscheinlich neben mir gesessen hatte, mich vielleicht angestarrt haben könnte bereitete mir fürchterliches Unbehagen. Bewunderung stellte ich mir absolut anders vor. 

So gruselig diese Situation auch für mich scheinen mochte, ich durfte nicht in Panik geraten. 

Kurz griff ich neben mich Richtung Boden, um sicher zu gehen, dass Paco da war, um mich zu beschützten. Zu meiner Erleichterung spürte ich im nächsten Augenblick seine nasse Schnauze in meiner Handfläche und fuhr ihm sanft über den Kopf. 

Seine treuen dunklen Augen strahlten in jedem Moment eine solche Ruhe und Zuversicht aus. Ich konnte nicht anders, als positiv zu denken und die ganze Sache nicht von der dunkelsten Seite zu betrachten. 

“Klar, du hast recht mein Kleiner. Du hast ja recht. So jung und schon so weise.”

Er schaute mich an und ich wusste, etwas dachte er. Er musste etwas denken, denn ich ahnte es in seinem Blick. Wollte er stark sein und mir einfach seine Schulter geben, damit ich nicht das Gefühl hatte, ich war alleine? Nein, vermutlich hatte er tatsächlich keine Angst und viel mehr keine Ahnung worum es eigentlich ging. 

Dann wandte ich mich wieder dem Smartphone zu. Eigentlich starrte ich es einfach an. Über all diese verwirrenden Fotos hatte ich meinen Tee beinahe vergessen. Ich griff die Tasse und nahm einen kräftigen Schluck. Er war nun angenehm zu trinken. 

Tee half mir oft beim Nachdenken. Paco natürlich auch. Aber wahrscheinlich war es einfach die Ruhe die mein Hund ausstrahlte und die Wärme mit der der Tee durch meine Glieder schoss. 

An dem Abend schaute ich mir noch weitere zweimal die Bilder durch. Ich erlangte aber keine erleuchtende Idee. 

Um etwa Mitternacht entschloss ich mich meine Zähne zu putzen und ins Bett zu gehen. Paco legte sich, wie immer, nach einem Gute-Nacht-Kuss von mir beruhigt in sein Körbchen am Fuß meines Betts. 

Ich brauchte ihn. Heute womöglich mehr denn je. 

Schneller als ich bis 3 zählen konnte schlief ich ein. 

Und so viel auch heute passiert war, eine gute Seite hatte die ganze Sache doch: Ich brauchte kein Schlafmittel. 

Ich träumte von allem Möglichen. Mir schien, es waren sogar ein paar kleine Wichtel dabei, die von meiner linken auf die rechte Schulter hüpften und sich köstlich darüber amüsierten, dass ich immer ängstlicher wurde. Es war als wäre der kleine böse Teufel auf meiner Schulter wieder da, der mir plötzlich wieder einen Rat geben wollte. 

Umso froher war ich, als ich feststellte, dass alles nur ein Traum war und ich die Augen nun wieder öffnen durfte. 

Als ich es geschafft hatte, mich aus den weichen Federn meiner Bettdecke zu befreien, meine Zähne zu putzen und mir eine Jogginghose überzustreifen, begab ich mich in die Küche und vollzog meine alltäglich erste Amtshandlung: Kaffee. 

Falsch, es war die zweite Amtshandlung. Die erste bestand darin mich um Paco zu kümmern. Das schloss alles mit ein, inklusive eine Runde Knuddeln, Füttern und ihm die Terrassentüre zum Garten zu öffnen. Dann erst kam meine Versorgungsrunde dran. 

Und meist läutete irgendwann zwischen dieser ersten Morgenroutine mein Telefon und zerstörte die Ruhe meines Tagesbeginns. Auch wenn dies heute etwas später geschah, so hätte ich es geschätzt, wenn ich zumindest den Lyrikteil der Zeitung hätte fertig lesen können. 

“Hallo?”

“Heeeey Steph. Na? Hast du deinen Schönheitsschlaf genutzt?”

Gabriels Stimme klang ermutigend, motiviert und unheimlich bereit für den Tag. Ich kannte das schon. Er erinnerte mich immer wieder daran, dass jeder Tag irgendwie etwas hatte, wofür es sich lohnte aufzustehen. Auch wenn es nur ein kleiner Moment war. Dafür war ich ihm immer wieder aufs Neue dankbar. Ein Schriftsteller war zwar niemand, der jeden Tag ins Büro ging, seine Anrufe und Termine erledigte und pünktlich um 6 die Arbeit wieder verlies. Aber ich konnte mir trotzdem am Anfang jeder Woche meinen so wichtigen Zeitplan erstellen.

“Guten Morgen, Gab. Ja, ich denke das hab ich.”, meinte ich und versuchte zu lächeln. 

“Suuper! Ich habe nämlich schon wieder einige Dinge mit dir zu besprechen. Also…” 

Und da war es wieder. Das kleine Plappermäulchen, Gabriel. Immer wenn er von ‘Hast du gut geschlafen?’ gleich zu ‘Also..’ überging, wusste ich dass es Zeit war meinen Computer bei der Hand zu haben und mir die Dinge zu notieren. Es ging um Termine, Vorlesungen, Podcasts, die in Zukunft gedreht werden sollten etc. 

Ich war heilfroh, dass jemand diese Dinge für mich erledigte sodass ich mich voll und ganz dem Schreiben widmen konnte. Meiner Leidenschaft, dem wohin mein Herz und mein Verstand gehörten. Es war nicht mehr das gleiche wie als kleines Kind. Damals nahm ich Stift und Papier zur Hand und wollte nur noch schneller und schneller schreiben, um die ganzen Gedanken, die in meinen Kopf strömten rechtzeitig zu Papier zu bringen, bevor ich sie wieder vergessen konnte.  

Das Gespräch war beendet und ergab also, dass heute soweit noch keine Termine anstanden und ich so den Tag diesem gefundenen Telefon widmen konnte, nachdem ich die nötigsten Anrufe erledigt hatte. Die bestanden meist nur aus Kontrollanrufen aus und ins Büro. 

Um die Identität des Besitzers herauszufinden brauchte ich Hilfe, das stellte sich schnell heraus. Auch durch die Ortungsfunktion des Telefons hatte ich keine Chance, da das Handy meist nur dort eingeschaltet wurde, wo Fotos gemacht wurden. Deshalb waren keine Wohnungsinnenräume oder dergleichen zu finden. Es diente also rein dem Zweck der Fotos. Aber warum dann ein Telefon und keine Kamera? Die hätte den Zweck doch auch erfüllt?

Ohne weiter darüber nachzudenken stöberte ich wild nach Hinweisen in dem Smartphone herum. Von App zu App, in der Galerie, schaute mir immer und immer wieder die Fotos an und versuchte zu verstehen, was der Besitzer damit bezwecken wollte. Ich versuchte darauf zu erkennen, ob mich etwas zu dem Stalker führen konnte. 

Ich brachte Tage damit zu, diese Mission zuhause zu untersuchen, kochte mir Pfefferminztee, trank Kaffee, bestellte zu Essen und ging nur für Meetings und Vorlesungen aus dem Haus. Andernfalls blieb ich zuhause, um zu recherchieren. 

Nach einigen Tagen hatte ich dennoch nicht viel mehr erreicht, als alle Bilder auswendig zu kennen und das Handy bis auf die letzte App und deren Inhalt doppelt und dreifach zu untersuchen. 

Je mehr und je länger ich über das ‘Warum?’ nachdachte, umso weniger klar schien das alles zu sein. Ich könnte auch einfach zur Polizei gehen und sie darum bitten, den Besitzer zu finden. Aber dazu waren die Inhalte auf diesem Telefon zu persönlich. Ich war mir sicher, dass dieser Zug mit dem Handy auf der Bank geplant war. Sehr sorgfältig und sogar langfristig geplant. Die Person wollte, dass ich mich angesprochen fühlte und sie wollte wahrscheinlich sogar, dass ich Angst hatte. Aber warum? Was hatte ich jemandem angetan… 

Plötzlich stockte mir der Atem. Ich suchte Paco und fand ihn beruhigenderweise neben mir. Eine Unruhe ergriff mich und Nervosität stieg in mir hoch. Kein Lampenfieber, eher ängstliche Nervosität. Es traf mich wie ein Blitzschlag. Er haute mich um, wie ein kleines Pflänzchen im Wind. Mir wurde heiß und kalt zugleich. 

Meine Gedanken spulten zurück in die Vergangenheit zu dem Moment, als mir mein Verleger die Nachricht überbrachte, dass es eine Geschichte gab, die er verlegen wollte. Und er wollte, dass ich sie schrieb. Es war mein zweites Buch, aber damals war ich noch ein Niemand. Mein erstes Buch hatte sich kaum verkauft und ich hätte niemals davon leben können. Dann kam mein Boss mit dieser Geschichte, die nicht meine war, die er aber ‘beschafft’ hatte, weil er wusste, sie würde den Autor berühmt machen:

“Woher stammt diese Idee? Sie ist großartig, Mark!”, hörte ich mich sagen, als ich in sein Büro kam nachdem ich das Manuskript gelesen und analysiert hatte. Es war großartig. Nur, es war nicht meins. 

“Das spielt keine Rolle, Steph. Sie ist gut und du wirst sie für mich schreiben. Es ist nun deine Geschichte.”, antwortete er streng. 

Mark wusste was er wollte und auch wie er es bekam. Ganz egal, wie viele Menschen dafür büßen mussten. Natürlich war ich damals neugierig gewesen und hatte keine Ahnung von allem was dahinter steckte. Wie er die Geschichte bekam oder wer dafür beiseite treten musste. 

“Mark! Ich… du verstehst das nicht.”

“Ich verstehe sehr gut, Steph. Ich habe dir dieses Geschenk besorgt. Fragst du sonst auch immer, wo dein Gegenüber deine Geschenke her hat?”, sagte Mark mit Nachdruck. 

“Nein! Nein, wie kommst du darauf? Ich wollte nur sagen, ich will den Hintergrund der Geschichte. Weißt du? Die Grundidee. Ist es eine wahre Geschichte, aus welchen Verhältnissen stammt die Hauptperson. Was wenn ich gefragt werde, woher die Idee stammt? Wie soll ich diese Frage beantworten, wenn ich es nicht selbst geschrieben habe? Und möchte der Author das nicht unter seinem Namen verlegen? Es ist nicht meins.”

“Steph! Ich serviere dir die Geschichte auf einem Silbertablett und du willst sie ablehnen?”

“Nein! Nein, aber… Ich fühle mich nicht wohl dabei.”

Schon damals hatte ich kein gutes Gefühl. Es war als würde jemand einen Song für mich schreiben und ich müsste die Leidenschaft darin zum Ausdruck bringen. Wie sollte ich mich hineinversetzten, wenn ich dieses Gefühl vielleicht noch nie gehabt hatte?

Mark stützte sich mit seinen Händen auf seinen Schreibtisch und sein Gesicht näherte sich meinem. Er wirkte fast energisch. So als wollte er mich zwingen, das Buch unter meinem Namen zu veröffentlichen. 

“Bring es mir in zwei Wochen zurück. Dann finalisieren wir das Projekt.”

Wie immer konnte ich mich nicht widersetzen. Das Manuskript und seine Geschichte waren großartig. Ein echter Bestseller. Es war meine Chance.

Marks Augen funkelten dabei mit einem ‘Jetzt oder Nie’-Blick, dem ich nicht widersprechen wollte. Um meinetwillen und um meiner Karriere Willen. 

“Kannst dus mir als offene Datei schicken?”

Meine Stimme hatte sich gesenkt. Ich wusste, dass mehr hinter dieser ganzen Sache steckte, als er zugeben wollte. Es war möglicherweise zu riskant, Mark um weitere Einzelheiten zu bitten. Außerdem hatte ich zu wenig Durchsetzungsvermögen und das war mein Sprungbrett in eine erfolgreiche Karriere einer Bestsellerautorin. 

Natürlich dachte ich damals auch daran, dass meine eigenen Ideen nicht ausreichen würden, um viele gute Bücher zu schreiben. Aber diesen Gedanken wollte ich verdrängen. Jemand bot mir die Chance meines Lebens, die womöglich nur ein einziges Mal geboten wurde.

“Hast du bereits von Annie bekommen.”

Ich drehte mich um und verlies sein Büro. Als ich die Tür schloss nahm ich mir einen kurzen Moment, um zu realisieren, was ich hier tat. 

Es war nicht viel was ich an diesem Tag erfahren hatte, aber es musste fürs erste reichen. Ich ging nach Hause und schrieb die Geschichte so um, dass sie ein wenig mehr nach mir klingen würde. Der Charakter blieb trotzdem derselbe. 

Die beiden Wochen vergingen wie im Flug. Ich schrieb und schrieb. Jeden Tag sprudelte der Gedanke hoch, dass die Idee gestohlen war, aber ich verdrängte ihn. Mit all meinen Gliedern wollte ich diese Bestsellerautorin sein, die Mark mir anbot. Ich wollte Erfolg haben mit dieser Geschichte, wollte diejenige sein deren Bücher an jeder Bestsellerwand hängen und die in jedem Buchgeschäft verkauft werden wie verrückt. Das trieb mich an. 

Nach den zwei Wochen ging ich zurück zu Mark und knallte ihm das fertige Manuskript auf den Tisch, setzte mich und starrte ihn an. 

Er war in einem Telefongespräch, was mich keineswegs störte. Sein Blick bohrte sich in mich hinein und er legte den Hörer schließlich auf. 

“Was soll das? Du platzt hier einfach rein und knallst mir diesen Schinken auf den Tisch. Was ist los mit dir?”, schrie er mich an. 

Ich wusste noch genau, wie mir der Schauer über den Rücken gelaufen war. Dennoch blieb ich hart und hob meinen Kopf, damit er erkannte dass er mich damit nicht kleinkriegen konnte. 

“Ich wills jetzt wissen. Du hast deinen ‘Schinken’,”, für die Gänsefüßchen hob ich meine Hände und formte sie mit meinem Zeige- und Mittelfinger, um dem Nachdruck zu verleihen, “also will ich jetzt die ganze Wahrheit.”

“Das willst du nicht, glaub mir. Es ist nur zu deinem Schutz.”

“Pff, so schlimm wird’s wohl nicht sein.”, meinte ich noch nichtsahnend. Heute hätte ich mir selbst am liebsten den Mund verbunden und mich hinaus geschliffen. Ich hätte niemals nachfragen sollen und darum betteln, dass Mark es mir erzählt. 

“Na gut. Wenn du es unbedingt hören willst. Aber sag nachher bloß nicht, ich hätte dich gewarnt.”, meinte er großkotzig und fing an zu erzählen. 

Mark erzählte von dem einen Mal als er mich und Sally zusammen in der Bücherei gesehen hatte. Damals hatte ich bereits mein erstes Exemplar veröffentlicht. Nicht erfolgreich, wie erwähnt. Aber Mark schien an mich zu glauben und meinte, wir bekommen das hin. Er hatte uns reden gehört und wohl mitbekommen, dass Sally auch eine Geschichte geschrieben hatte, aber sich nicht traute, sie zu einem Verlag zu schicken. Sie erzählte nicht, wovon sie handelte, aber sie sagte sie wäre echt. Es wäre wie ein Tagebuch für sie und auch deshalb wollte sie sie nicht preisgeben. 

Mark sagte, er ging eines abends zu Sally nach Hause, sie lebte damals allein in einer Wohnung und überredete sie, uns die Geschichte gegen ein großzügiges Geldangebot auszuhändigen. Natürlich mit dem Versprechen, dass wir ihren Namen darin nicht erwähnen würden. Als ich das hörte und an den Inhalt des Buches dachte, da wurde ich traurig. Sally schrieb darin über ein Mädchen, das versuchte seine Mutter zu finden. Am Ende erfährt sie, dass die Mutter lange tot wäre und so konnte sie sie nie kennen lernen. 

Zwei Wochen darauf schrieb sie mir eine SMS, sie hätte einen tollen Job gefunden und wäre einfach abgehauen, um auf ein neues Abenteuer zu gehen. Sie hinterließ weder eine Telefonnummer, noch eine Adresse, damit ich sie wiederfinden konnte. Sally zog einfach weiter ohne sich zu verabschieden und ohne irgendwelche Lebenszeichen zu senden. Bis heute hatte sie sich nicht gemeldet und war womöglich auch nicht mehr daran interessiert mit mir in Kontakt zu treten. Aber wenn ich an all das dachte, was sie in unserer Heimat erlebt haben musste in Verbindung mit der Suche nach ihrer Mutter, wenn das wirklich der Wahrheit entsprach, dann verstand ich sie und lies ihr ihren Raum. Ich hoffte einfach nur, dass ich sie irgendwann wiedersehen würde und sie in den Arm nehmen durfte. 

Als Mark mir all diese Dinge über die Bestechungsgelder und diese Betrügerei erzählt hatte, da wollte ich ihm ins Gesicht springen und ihn einfach nur zu Boden werfen. Ich wollte ihn foltern und ihm wehtun. 

“Bist du von all den guten Geistern verlassen worden? Hast du eigentlich ein Rückgrat? Das ist meine Freundin und jetzt wird sie denken, dass ich dich darauf angesetzt hätte, dass du ihr diese Story abkaufst. Ich kann es nicht fassen! Diese Geschichte kommt nicht auf den Markt. Ich stelle meinen Namen nicht für eine solche Unverschämtheit zur Verfügung. Auf keinen Fall! Was soll das? Ich möchte ausflippen und durch die Decke springen!”

“Ach komm, beruhige dich. Insgeheim bist du doch froh, dass du diese Geschichte für dich hast. So kommt sie uns nicht in die Quere und du wirst die Autorin, die du immer sein wolltest.”

Das hatte mich nur noch mehr zum Kochen gebracht. Endlose Scham und unendlicher Zorn auf diesen Mann vor mir hatte sich ausgebreitet. Mir wurde schlecht und ich wollte einfach nur zu Sally und mich entschuldigen. 

Ich war aus dem Büro gestürmt, völlig entzürnt von der Frechheit, die Mark besaß einfach meine Freundin freizukaufen von ihrem Ruhm.

Danach vergingen einige Wochen bis ich mich wieder beruhigte und bis Mark mir erklären konnte, dass Sally damit einverstanden war. Ich wollte mich natürlich selbst davon versichern und versuchte Sally, auch davor schon, unentwegt zu erreichen. Weder als ich zu ihrer Wohnung fuhr, noch als ich sie anrief oder ihr schrieb bekam ich eine Antwort. Es war völlig sinnlos. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Bis zu eben diesem SMS, das sie mir schrieb. Sie war auf der Suche nach ihrer Mutter. 

Hey meine Liebe, 

sei mir nicht böse, dass ich einfach gegangen bin. Ich muss meine Mutter finden, denn ich habe vielleicht eine Spur. Es ist meine einzige Chance. 

Ich wünsche dir alles Glück der Welt und ich hab dich lieb. 

Sally

Im ersten Moment kam es mir komisch vor, weil Sally niemals solche kurzen Erklärungen für etwas so Großes abgeben würde. Sie würde sich erklären und würde mich verstehen lassen was in ihr vorging. Außerdem sah ihr dieser kurz angebundene Abschied nicht ähnlich. Sie würde anrufen. Aber als ich weiter darüber nachdachte, so wurde mir klar dass wohl noch nie dagewesene Situationen noch nie dagewesene Aktionen nach sich zogen. So auch diese. Und das alles war der Abschied von Sallys und meiner Freundschaft. 

Ich hatte nach wie vor das Gefühl, dass wenn sie wieder auftauchen würde, sie bestimmt wieder war wie früher. 

Seither hatte ich sie einige Male versucht anzurufen, aber bei den letzten drei Versuchen stellte sich die Rufnummer als falsch heraus. Sally hatte, ohne es mir zu sagen, ihre Nummer verändert. Sie hatte mich vielleicht vergessen zu informieren, dachte ich. 

Zurück in meiner Küche riss ich mich von der Reise in die Vergangenheit los. Paco saß neben mir und sah mich mit besorgtem Blick an. Er spürte wieder einmal, dass mit mir etwas nicht stimmte. 

Aber wenn das mein ‘Warum’ war, wer war dann derjenige, der hinter mir her war? Doch nicht etwa Sally? Sie würde mir das nie antun. Sally würde sich neben mich setzen, mich ansehen und mir die Sache erklären. Sie würde mich nie hintergehen oder mir Angst einjagen wollen. Oder?

Ich musste etwas tun. Schnell suchte ich nach meinem Handy. Es lag am Esstisch. Ich griff es, wählte die Nummer, die mir als erstes in den Sinn kam und wartete, bis sich am anderen Ende jemand meldete. 

“Richardson?”

Eine höfliche Stimme ertönte. Sie war vertraut.

“Ryan, hey! Ich bins, Candis.”

“Oh, Rogers! Schön von dir zu hören. Was gibts?”

Ich wollte, um ehrlich zu sein, nicht von ganz vorne anfangen müssen zu erklären. Das Gespräch sollte nur das nötigste enthalten und nicht unbedingt meine Vorgeschichte enthüllen. Von der wussten nur Sally, Mark und ich. 

“Ich brauche dringend deine Hilfe. Kannst du mir den Besitzer eines Handys raussuchen, wenn ich dir die Nummer gebe?”

“Wozu brauchst du diese Info?”

“Mir wäre lieb, wenn wir diese ganzen Fragen auslassen könnten. Kannst du das für mich tun, Ryan? Es soll schnell gehen und wenn möglich sollte es diskret laufen. Ich weiß, das klingt fürchterlich, aber ich bin nicht in Gefahr und es handelt sich auch nicht um einen Bankraub oder dergleichen. Versprochen!”

Ich lächelte verlegen, ohne darüber nachzudenken, dass er mich nicht sehen konnte. 

“Oookay. Na klar. Hast du die Nummer?”

Das Handy lag neben mir, ich entsperrte es und gab ihm die Nummer durch. Es dauerte ein paar Minuten, in denen Ryan und ich über dies und das plauderten. Er erzählte mir von seiner Schwester, die Immobilienmaklerin war und von seinem kleinen Sohn, der in die zweite Klasse ging. 

“Ich habs. Es ist ein Prepaid-Handy, das vor 4 Monaten gekauft wurde. Der Käufer hat es bar bezahlt, also keine Daten dazu. Hier kommen wir nicht weiter. Hast du sonst noch was?”

Ich überlegte. Die Person war mir an sämtliche Orte gefolgt, an denen ich aufgetreten war oder zu meinem Haus. 

“Naja ich hab da noch ein paar Fotos. Vielleicht könntest du prüfen, ob die Verkehrskameras jemanden erfasst haben?”

“Oh, klar. Dazu müsste ich mir allerdings die Fotos ansehen. Kannst du sie mir durchschicken?”

“Klar… ähm, hättest du eine Mailadresse, die nicht überwacht wird?”

“Naja also da gibts kaum welche. Aber ich schicke dir eine, auf die nur wenige Zugriff haben. Sag mal, bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?”

“Jaaa, ja klaaar. Sicher! Alles in Ordnung Inspector.”

Diesmal lachte ich, um ihm zu versichern, dass es mir gut ging. Ryan war einer der wenigen, bei dem ich wusste, dass ich mich zu hundert Prozent auf ihn verlassen konnte. Er arbeitete beim NYPD, aber auf einem anderen District als der Mann von Doris. Ich war mir nicht sicher, ob die beiden sich kannten.

“Na gut, dann schick mal rüber, Rodgers.”

Nachdem ich ihm die Bilder gemailt hatte, schaltete ich mein Telefon ab, wanderte zur Couch, drehte den Fernseher auf und suchte mir eine unkomplizierte Serie. Mein Kopf lag auf dem Kissen, so reglos wie nur möglich. Meine Hände lagen auf der Bauchdecke und ich spürte wie sie sich hob und wieder senkte. Das beruhigte mich für den Moment. Es lies meine Gedanken herunterfahren, meine Angst wurde in den Hintergrund gedrängt und ich konnte mich leichter entspannen. 

Vor lauter Erschöpfung fielen mir nach etwa zehn Minuten die Augen zu. Keine Termine, die mich erwarteten, kein Telefon das klingeln konnte und keine Erwartungen, die darauf warteten erfüllt zu werden. Es verging sicher eine Stunde, bis ich die Augen wieder vorsichtig öffnete. Draußen dämmerte es schon und meine halbe Tasse Tee, die ich mir zuvor eingefüllt hatte, die war nun kalt geworden. Im nächsten Augenblick war ich wieder da. Meine Gedanken, der Stalker, die Fotos, das Handy und Ryan. Gleich checkte ich mein Telefon, hatte aber keine Nachrichten oder SMS verpasst. Ich schien also nichts verschlafen zu haben. 

Doch dann, kaum drei Minuten danach, klingelte es. Ich nahm mein Telefon in die Hand, doch der Bildschirm war schwarz. Komisch, dachte ich. Plötzlich realisierte ich, dass es nicht mein Handy war, das angerufen wurde. Es war das andere. 

Ich nahm es in die Hand und ohne zu zögern wischte ich den Bildschirm entlang, um den Anruf anzunehmen. Keine Sekunde lang dachte ich, dass es der Besitzer sein könnte, der mich bedrohen wollte. Ich bildete mir ein, vielleicht war es der wahre Eigentümer, der einfach endlich auf die Idee gekommen war, sein Handy anzurufen, um herauszufinden, wer es hatte und wo es geblieben war. 

“Hallo?”, meldete ich mich. Im selben Moment verstand ich, wie dumm es war. Das könnte jeder sein. Es könnte der Stalker sein, der mich einschüchtern wollte. Aber ich blieb stark, setzte mich mit geradem Rücken hin und dachte an die selbstbewusste Stephanie in mir. 

“Na endlich.”, meldete sich eine dunkle Männerstimme am Ende der Leitung. Sie klang beängstigend. Wenn ich mir dazu hätte eine Gestalt vorstellen müssen, so wäre es ein großer kräftiger Mann, dunkles Haar und giftige grüne Augen gewesen. Aber zum Glück fragte mich keiner danach. 

“Ähm, ich fürchte ich verstehe nicht ganz. Wer spricht dort?”, ich versuchte mit starker, lauter Stimme zu antworten, um bloß keine Verängstigung oder Unsicherheit durchdringen zu lassen. 

“Spielt keine Rolle. Du kennst mich nicht und so soll es auch bleiben. Schön, dass du das Telefon gefunden hast. Und da du es noch immer hast, schätze ich, du hast die Nachricht dahinter auch verstanden.”

Das war womöglich das einzige Mal in meinem Leben, bei dem ich mir im Nachhinein so sehr  wünschte, ich hätte nicht recht gehabt. 

Der Stalker war tatsächlich real. Und er war beängstigender, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Zunächst war es ein Mann, Mitte dreißig schätzte ich, der wusste, was er tat. Er hatte all das von langer Hand geplant und genau das hier war sein Ziel: mich einzuschüchtern auf eine qualvolle Art und Weise. 

Ich merkte, dass mein Rücken wieder einen Katzenbuckel formte, richtete mich wieder auf und griff nach unten, um Pacos Nasenspitze zu ertasten. Er leckte meine Finger ab und legte dann seinen Kopf wieder auf seine Pfoten. 

“Was wollen Sie?”

Auch wenn mich die Angst beinahe niederstreckte, so wollte ich das ihm gegenüber auf keinen Fall zeigen. Er musste wissen, dass er mich nicht einschüchtern konnte. Nicht so, nicht am Telefon. Natürlich durfte ich nicht aus den Augen lassen, dass er mein Haus kannte, er wusste wo ich wohnte und dementsprechend musste ich mich verhalten. 

“Rache, wäre das einfachste Wort dafür. Es ist nur immer mit einer großen negativen Seite behaftet. Also möchte ich lieber Gerechtigkeit als Grund meiner Recherchen verwenden.”

Recherche? Damit meinte er wohl herauszufinden, wo ich wohnte, arbeitete und was der ausschlaggebendste Teil meines Lebens war. 

Ich saß aufrecht auf der Couch, als wollte ich so verhindern, dass ich irgendeines seiner Worte verpassen könnte. Und als der Gedanke durch mein Hirn strömte, da kam mir eine Idee. Der Anruf kam von einer New Yorker Nummer. Ich musste irgendwie herausfinden, woher er kam und wer hinter dieser ganzen Maskerade steckte. 

Auf meinem eigenen Telefon wählte ich die zuletzt angerufene Nummer und stellte den Stalker auf dem fremden Handy auf Lautsprecher. 

“Was ist der Grund für Ihre Gerechtigkeitssuche? Was habe ich Ihnen getan?”, versuchte ich ihn in der Leitung zu halten. 

Die andere Leitung war noch nicht zu Ryan verbunden. Es klingelte unentwegt. Geh ran, geh ran, dachte ich und hoffte, dass er meine Bitte erhören würde. 

“Darüber willst du wirklich mit mir sprechen? Ist doch nicht dein Ernst, dass du mich das fragst? Du weißt genau, warum das hier alles passiert. Es muss passieren!”, sagte er bestimmt und beinahe verärgert. Der Stalker ging also davon aus, dass ich wusste worum es ging. Das einzige, bei dem mir tatsächlich jemand etwas bis aufs Blut übel nehmen könnte, sodass er mich dermaßen quälen möchte, war die Sache über die ich nicht sprach. Die Sache mit Sally. Aber davon wussten nur Mark, Sally und ich. Hatte Mark es jemandem verraten, der es nicht hätte wissen sollen? Oder hatten Gabriel oder Doris geplaudert? Hank? Unmöglich. Er kam einfach nicht in Frage. Niemals war er dazu in der Lage einen solchen Vertrauensmissbrauch zu begehen. Das passte einfach nicht in mein Vorstellungsvermögen. 

Es klingelte noch immer an der anderen Leitung. Ich gab nicht auf und lies es weiter klingeln. Er musste rangehen. Ryan musste es hören. 

“Ich verstehe es nur nicht. In welcher Verbindung stehen Sie zu… “, fing ich an. Aber ich wollte nicht weitersprechen, solange ich nicht sicher war, dass es tatsächlich um diese Geschichte ging. 

“… zu Sally meinst du? Wolltest du das sagen? Häh? Es ist alles deine Schuld. Alles, was passiert ist.”

Mein Mund stand offen. Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte nicht. Es war also wegen Sally. Es ging um die ganze Sache, die ich vergessen wollte aber nicht konnte. Die Vergangenheit holte mich ein. Sie war viel größer als ich es jemals erwartet hatte.

Der Stalker war wütend, dass ich diese Frage gestellt hatte. Er war entzürnt darüber, dass ich nicht verstehen wollte, worum es hier ging. Aber wie konnte ich? Wie sollte ich etwas verstehen, von dem ich wahrscheinlich nicht einmal die ganze Geschichte kannte. Der Einzige, der es wusste war Mark und der hatte mich damals nicht weiter bohren lassen.

Nervös hörte ich, dass es noch immer klingelte. Schließlich gab ich auf und drückte, um den Anruf zu beenden. Ryan war nicht da, obwohl ich ihn jetzt dringend brauchte.

“Wo ist Sally? Wissen Sie wo sie ist?”

Es war riskant so weit zu gehen und diese Frage zu stellen. Aber ich ging die Gefahr ein. Vielleicht brachte es mich dazu, dass alles zu verstehen und in welcher Verbindung Sally zu ihm stand. Der Stalker erwartete offensichtlich, dass ich es wusste.

“Es ist kaum zu fassen, dass du diese Frage vorbringst. Das beweist nur, wie sehr du Gerechtigkeit verdienst. Und du wirst sie bekommen. Ich werde dafür sorgen!”

Beep, beep, beep, … Aufgelegt. 

“H.. hallo? Hallo?”

Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Er machte mir Angst, dieser Kerl. Aber ich hatte etwas herausgefunden. Etwas, wie ich dachte, sehr wichtiges, das mich einen Schritt weiter brachte. 

Erneut griff ich zu meinem Handy und wählte Ryans Nummer. 

Diesmal meldete er sich.

“Ryan! Oh Gott, Ryan. Hast du was rausgefunden? Nein, warte, lass mich zuerst. Ich hab einen Anruf von dem Handy bekommen. Ich muss wissen, woher er kam. Und es muss etwas mit dem Namen Sally Morrison zu tun haben! Bitte such danach.”

“Wow, okay. Rogers, du musst dich beruhigen. Wir tun alles mögliche, um…”

“Wir? Du hast doch niemandem davon erzählt, oder?”, unterbrach ich ihn nervös. 

“Nein, nein, klar hab ich niemandem davon erzählt. Hab ich dir doch versprochen.”

“Hör zu! Es scheint, du hast es da mit einem berechnenden Menschen zu tun. All diese Fotos! Rogers, der verfolgt dich.”

“Ach, meinst du? Ich dachte der schießt ein paar Portraits von mir.”

“Rogers, du weißt was ich meine.”

Ich konnte nicht mehr sitzen, stand von der Couch auf und ging im Wohnzimmer auf und ab. Es machte mich unsicher, dass dieser Mensch alles von mir wusste, aber ich ihm nicht auf die Schliche kam. Er konnte mir gefährlich werden, aber ich hatte keine Ahnung wer er war. 

Die einzige wichtige Information, die ich aus diesem Telefonat mitbekommen hatte war, dass er Sally nahestand. 

Ich überlegte einen Moment. Freund hatte sie damals keinen, zumindest nicht bevor sie beschloss wegzugehen. Obwohl sie jeden hätte haben können, so wunderhübsch wie sie war. Blonde Locken, blaue Augen und eine Figur wie eine Göttin. Wie oft hätte ich gerne mit ihr getauscht. Nicht nur meine unförmige Figur, sondern besonders ihre wahnsinnig schönen Haare, die sie immer ordentlich gekämmt hatte gegen meine dünne splisse brünette Haarpracht. Ihre blonde Lockenfrisur schien kein Windstoß in die falsche Richtung wehen zu können. Sie waren am Anfang des Tages, bevor sie die Tür öffnete genau so wie sie am Ende des Tages lagen, als sie wieder nach Hause kam. 

“Ich weiß. Und ich weiß auch, wie gefährlich dieser Kerl wahrscheinlich ist. Aber könntest du untersuchen, ob Sally ein Familienmitglied hier in New York hat?”

“Candis, ich kann das nicht so einfach alles recherchieren. An irgendeinem Punkt dieser Ermittlung werde ich die Hilfe meiner Kollegen benötigen, wenn du möchtest, dass wir das ernsthaft weiterverfolgen.”

“Nein, Ryan. Du weißt wie heikel die Situation ist. Bitte lass das unter uns bleiben.”

Je mehr Menschen davon wussten, umso schwieriger wurde es, unbemerkt mehr Informationen zu bekommen. Ich wollte in keinem Fall riskieren, dass der Stalker sich eingeengt oder wie in Entführungsfällen unbeachtet oder nicht wichtig genug fühlte. Unvorhergesehene Handlungen brachten niemanden weiter. 

Dieses Gefühl von Nichtsahnung, dass ich immer fünf Schritte hinter ihm war, während er mir wahrscheinlich wieder zwei Schritte voraus war, lies mich verzweifeln. Der Stalker hatte gute 2 Jahre Vorsprung, da er mich vielleicht schon verfolgt hatte, als ich mein erstes Buch herausgebracht hatte. 

In den vergangenen Wochen hatte ich so oft einfach nur dagesessen und an die Wand gestarrt. Äußerlich zumindest. Innerlich hatte es mich zerrissen vor lauter Fragen. Es war als wäre ich in einer Parfümerie gefangen. Dieser ganze Duft, den ich nicht mehr aus der Nase bekommen konnte, er machte mich trübsinnig. Ich sah den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. 

“Klar. Aber ich werde vorbeikommen. Ich kann das alles nicht hier im Büro machen.”

Wir beschlossen, dass Ryan noch vorbeikam und auf meiner Couch übernachten durfte. Etwa eine halbe Stunde später klingelte es an der Türe. Ich schaute durch das kleine Loch in meiner Tür und war beruhigt, als es tatsächlich Ryan war.

Für eine flüssige Unterstützung sorgte ich mit ein paar Bier. Gott sei Dank hatte ich genug auf Vorrat. 

Mein Wohnzimmer wurde umfunktioniert in ein Polizeirevier. All die Fotos wurden aufgehängt und markiert in der Stadt. Bei manchen konnte man jemanden auf Verkehrskameras in Gebüschen, hinter Telefonzellen oder hinter Hausecken entdecken. 

Mir wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass mich jemand auf Schritt und Tritt verfolgte und auch noch Fotos von mir gemacht hatte. 

Aber es waren keine verwendbaren Informationen, die wir sammeln konnten. Es war jedes Mal zu dunkel oder zu schattig auf den Fotos, um ein Gesicht zu erkennen. 

Ryan hatte in New York keine Familienmitglieder von Sally finden können. Ich hatte versucht, ihn zu überreden auch bei anderen Behörden zu fragen, aber Ryan stoppte mich zurecht. Das würde zu weit gehen, doch dann hatte ich eine Idee. 

Sally hatte mir als Kind einmal von dem Haus ihrer Großeltern einen Brief in den Sommerferien geschrieben. Ich hob ihn mir auf und verstaute ihn bei all den anderen, die sie mir damals geschickt hatte. 

Ich ging hinüber zu meinem Schreibtisch und kramte eine kleine hölzerne Box mit einem Elefanten auf der Vorderseite heraus. Als ich sie öffnete, so öffnete sich auch die Tür zu meiner Vergangenheit. Der Vergangenheit mit Sally, all die Parties als Teenager, die Kinoabende, die für unsere Eltern als Lernabende hatten taugen müssen. Wir hatten sie mit unserem Taschengeld bezahlt. Einmal hatten Mum und Dad sogar herausgefunden, dass die kleine Spardose in meinem Zimmer garnicht so voll war, wie sie dachten. Später mussten sie zugeben, dass sie als Teenager nicht anders gewesen waren. Im Gegenteil, einige Geschichten hatten wir bis heute nicht zu hören bekommen. Die Box enthielt viele Erinnerungen, Fotos, Briefe, ein Armband, das ich von meinem ersten ‘Freund’ bekommen hatte und nicht zu vergessen Omas kleinen Stoffbären mit dem rot-weißen Halstuch.

Unter all diesen Briefen fand ich auch, was ich suchte. Die Adresse vom Haus von Sallys Großeltern. Ich gab sie Ryan und bat ihn, sie zu überprüfen.

Als die Suche auf seinem Computer, den er zur Recherche mitgebracht hatte lief, hatte ich Sallys Gesicht vor Augen. Was wenn diese ganze Suche um den Stalker zu Sally führen würde? Was wenn ich sie endlich wiedersehen würde? 

Plötzlich stoppte die Suche und eine einzige Adresse blieb auf dem Bildschirm stehen. Es war genau dieselbe, die auch auf dem Umschlag stand, den ich Ryan gegeben hatte. 

Es war ein abgelegenes altes aber wunderschönes Bauernhaus in der Nähe von Ridgefield etwa 1 Stunde 15 von New York entfernt. Ryan suchte weiter, um herauszufinden, wer in dem Haus wohnte oder wem es gehörte. 

“Samuel und Rita Morrison.”, sagte er plötzlich. 

Bei den Namen wurde mir warm ums Herz. Die Großeltern von Sally. Rita, eine damals leicht weißhaarige, etwas faltige, aber unglaublich herzliche Dame mit einem kaum erkennbaren Katzenbuckel. ‘Granny’ hatte sie Sally immer genannt. 

Ihre Stimme ist eine der wenigen Dinge in meinem Leben, an die ich mich für immer erinnern werde. Eine Frau Holle wie sie im Buche steht. 

Und der gute alte ‘Grappy’ Samuel. Auch Sallys Erfindung ihm diesen Namen zu geben. Er liebte Schnaps und seine Enkelin fand, wenn Grandma ‘Granny’ hieß, dann sollte Grandpa den Spitznamen ‘Grappy’ bekommen. Womit sie, fand ich auch heute noch, absolut recht hatte. 

“Sie wohnen noch dort?”, fragte ich ihn und meine Augen wurden größer und hoffnungsvoll bald Klarheit zu haben, über das was hier vorging. 

“Sieht so aus als hätten wir Glück.”, antwortete er und lächelte mir zu. 

Die Hoffnung verwandelte sich in Zuversicht und ich fiel Ryan um den Hals. Ich wusste sehr zu schätzen, dass er das für mich tat. Mir war wohl bewusst, dass er dafür einiges verlieren konnte, aber ich wusste auch er tat es gern. 

“Ryan?”, fragte ich und setzte meinen besten Hundeblick auf. Ich wendete mich ihm zu und versuchte so gut es ging die Frage ‘Bitte?’ auf meine Stirn zu schreiben. 

“Was… Du… Du willst doch nicht dort hin?”

Ich nickte und vertiefte den Hundeblick. 

“Nein! Wie… wie soll das gehen? Wie stellst du dir das vor? Hast du überhaupt Zeit dazu?”

Ryan sah ein, dass er keine Chance hatte gegen meine Bitte und saß am nächsten Morgen mit mir in meinem Auto Richtung Ridgefield. Ich hatte keine Wahl als herauszufinden, womit ich es zu tun hatte und ich glaubte vorerst Antworten bei Rita und Samuel zu finden. 

“Hey Rodgers… ahm. Du machst dir keine zu großen Hoffnungen dort Antworten zu finden, oder?”

Ich drehte mich zu ihm und sah ihn verdutzt an. Natürlich machte ich mir Hoffnungen dort mehr zu erfahren. Die Vergangenheit hatte mich eingeholt und ich musste dafür sorgen, dass sie in der Gegenwart nicht noch mehr Schaden anrichtet, als sie es damals bereits getan hat. 

Sallys Großeltern waren diejenigen, die die Familie am längsten kannte und deshalb auch die Menschen, die am ehesten wussten wo Sally ist oder ob ein Familienmitglied, Verwandter oder Freund in der Nähe wohnte. Zumindest hatten sie am ehesten die Mittel, es schnell herauszufinden. Die Frage war nur, ob sie mich noch kannten. Dieses Risiko jedoch musste ich eingehen. 

“Nein. Alles okay. Keine Sorge.”

Wir machten zwei kleine Pausen an einer Tankstelle, um den Tank zu füllen und an einem kleinen Diner, um Mittag zu essen. Burger und Pommes für Ryan und einen Caesar Salat für mich. Beide schlürften wir unser Cola aus und fuhren dann weiter. 

In 1,5 Stunden hatten wir es geschafft und fuhren die lange Einfahrt zu dem wunderschönen Anwesen zurück. 

Es erschien mir wie eine Lüge oder Betrug, dass Sally mich nie hierher mitgenommen hatte. Die Straße war nicht geteert, sondern viel mehr grober Schotter. An den Seiten reihten sich wunderschöne Buchen die in den Himmel ragten und um die Wette wuchsen. Zur linken streckte sich eine weite grüne Wiese bis zum Waldrand. Zu unserer Rechten zog sich ein fester dunkler Holzzaun, der von der Einfahrt bis etwa 50 Meter vor das Haus reichte. Noch weiter rechts konnte ich drei schöne Pferde sehen, die einsam aber glücklich grasten. 

Als wir näher zu dem Haus kamen, erkannte ich dass es aus Stein war. In den Fenstern waren weiße angestrichene Fensterkreuze und die Fensterläden waren dunkelgrau. Der Haupteingang war leicht zu erkennen, da er mit einem Rundbogen, ebenfalls weiß bestrichen, prunkvoll herausragte. 

Direkt vor dem Haupteingang im ‘Vorgarten’ fand sich ein riesengroßer Lindenbaum, dessen Äste beschützend zu jeder Seite herausragten die den Eingangsbereich markierten. 

“Kommst du?”, fragte Ryan, der schon längst ausgestiegen war und jetzt auf der Fahrerseite stand und mich herauswinkte. 

“Ja, sicher!”, antwortete ich schnell und sprang aus dem Wagen. Ich öffnete den Kofferraum, in dem Paco saß. Voller Freude sprang er heraus und suchte sich den erstbesten Buch für sein Geschäft.

“Ryan, bleibst du bitte hier bei Paco? Ich will da alleine rein.”, bat ich ihn. 

Er nickte und lehnte sich an das Auto. 

Ich atmete tief durch und drehte mich wieder Richtung Haupteingangstür. Langsam näherte ich mich, bis ich schließlich davor stand. Mein Herz klopfte, weil es keine Ahnung hatte, was es erwartete, wenn diese Pforte sich öffnen würde. Vielleicht kannten die Großeltern von Sally mich nicht einmal und ich war ganz umsonst hierher gekommen. Es war möglich und dann hatte ich umsonst gehofft und Ryan mitgeschleift. 1,5 Stunden Fahrt für nichts. Das wollte ich weder mir noch ihm antuen auch wenn wir uns gut amüsiert hatten, während der kurzen Reise. 

An der braunen Türe hing ein rostig goldener Löwe, der einen dicken Ring im Maul hielt. Ich fasste ihn und schlug ihn dreimal kräftig gegen das Holz. 

Nervös stieg ich zwei Schritte zurück und wartete geduldig, ob sich hinter der Tür etwas regte. Aber nichts, kein Geräusch. Ich klopfte nochmals mit dem Ring des Löwen und wartete erneut. 

Wieder nichts. Keine Regung. 

Enttäuscht drehte ich mich um und ging wieder zurück zu Ryan. Ich schaute ihn an und zuckte mit den Schultern. 

“Tut mir leid.”, sagte er und legte mir seine Hand tröstend auf die Schulter. 

“Schon gut. Wenigstens weiß ich jetzt, dank dir, dass sie noch hier wohnen.”, gab ich zurück und ging um das Auto herum. Ich lehnte mich auf den Holzzaun und schaute den Pferden in der Ferne beim Grasen zu. Sie kamen mir so klein vor. 

In Gedanken war ich wieder oder immer noch bei Sally und diesem Stalker. Ich war mir sicher, dass es eine Verbindung gab zwischen den beiden. Er kannte sie zu gut und war zu aufgewühlt über etwas. 

“Nicht aufgeben, Rodgers.”, sagte Ryan und stellte sich neben mich. “Es ist nicht aller Tage Abend, oder wie sagt man so schön?”

Ich lächelte wieder. Er hatte wirklich eine Gabe, mich positiv zu stimmen. Besonders nach dieser Zeit, wo ich unsicher sein musste, dass ich unbekümmert morgens aus dem Haus und mit Paco spazieren gehen konnte. 

“Stephanie?”

Ich schoss herum. Auf der rechten Seite des Hauses stand eine ältere Dame in einer Latzhose, einem verwaschenen rosa Hemd, grünen Gummistiefeln und einem kleinen Strohhut. Sie hatte ihre beiden Hände in Gartenhandschuhen begraben und hielt in der linken Hand einen Spaten. 

“Rita!”

Es kostete mich zwei Sekunden zum Überlegen, bevor ich auf sie zuschoss. Ich rannte sie beinahe über den Haufen, konnte mich aber noch rechtzeitig bremsen. Je näher ich ihr kam, umso breiter wurde ihr Lächeln. 

“Oh Stephanie! Wie schön! Komm, komm Sammi ist hinten im Garten. Wir pflanzen das Beet um. Es wird wunderschön.”

“Das bezweifle ich nicht, Rita. Darf ich dir jemanden vorstellen? Das ist Ryan, Ryan Richardson. Er arbeitet beim NYPD und ohne ihn hätte ich euch nicht so schnell gefunden.”

“Freut mich, Ryan.”

“Gleichfalls, Rita.”

Sie schüttelten sich die Hände und ich hatte das Gefühl, sie waren sich von Anfang an sympathisch. 

Nach dieser kurzen Kennenlernphase führte uns Rita nach hinten. Kaum zu glauben, dass sich dort ein kleiner, aber völlig ausreichender und wunderschöner See erstreckte. Sein Wasser schien dunkelblau und die Sonne reflektierte darin, weil er so ruhig war. 

‘Granny’, wie Sally sie nannte, führte uns zu Sam, der mir genauso herzlich um den Hals flog wie Rita. Die beiden hatten sich kaum verändert. Das eine oder andere Fältchen war wohl hinzugekommen, aber ansonsten waren sie die gleichen großzügigen und warmen Menschen wie schon immer. 

Da Sally mir diesen Ort noch nie gezeigt hatte, traf ich sie ausschließlich in New York, wenn sie Sally besuchen kamen und mich dazu einluden. Ein Stück Kuchen und ein Kaffee waren immer drin von Granny und Grappy. 

Rita kochte uns Tee und Kaffee, sie servierte Kekse und wir plauderten einfach über meine Schriftstellerei und über deren Leben in diesem kleinen Paradies. Ryan schmeichelte mir und lobte meine Bücher. Bisher hatte ich keine Ahnung, dass er sie überhaupt las. 

Irgendwann überwand ich mich dazu nach Sally zu fragen: “Ich muss es wissen, wo ist Sally?”, warf ich einfach ein, weil es mir auf der Zunge gelegen hatte seit ich diesen Boden betreten hatte.

Ritas und Sams Augen wurden weit, sie schauten sich an, dann senkten beide den Kopf und griffen sich gegenseitig an der Hand. Ich begriff sofort, dass das kein gutes Zeichen war. Die Stimmung war sofort im Eimer und ich ahnte das Schlimmste. 

“Ach Kindchen. Wir hatten keine Ahnung, dass du es nicht weißt.”

“Dass ich was nicht weiß?”, fragte ich. Die Angst kroch mir wieder über den Rücken hoch und erfasste mich vom Scheitel bis in die Zehenspitzen. Ich fürchtete, dass ich nicht hören wollte, was die Antwort auf diese Frage war, aber ich musste es wissen.

“Sally ist tot.”

Mein Blick wurde steif und aus meinem Körper wich jeder Funken Wärme und Blut. Ich spürte wie mir die Farbe aus dem Gesicht entwich. 

Rita brach in Tränen aus und Sam reichte ihr ein Stofftaschentuch aus seiner dunkelgrünen Gartenhose. Sie umarmten sich und auch er hatte nun feuchte Augen, als er seiner Frau so ins Gesicht sah und an die Tatsache dachte, dass ihre Enkelin nicht mehr am Leben war. 

“W… Wie… Das… unmöglich!“

Meine Zunge war wie gelähmt, sodass ich kein Wort herausbringen konnte. Weinen konnte ich nicht, weil alles zu Eis geworden war in und an mir. Ich starrte Rita nur an und versuchte zu begreifen, was da soeben aus ihrem Mund gekommen war. Meine Gedanken waren leer und mein Herz schien für einen Augenblick den Schlag auszusetzen. Ich fiel zurück in meinen Stuhl und starrte ins Leere. 

Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Als würde man eine Marionette einfach fallen lassen. Sie sinkt auf den Boden und ist unfähig sich zu rühren. Genauso fühlte ich mich jetzt gerade. Meine Fäden waren regungslos.

Ich spürte Ryans Hand auf meinem Rücken und seinen Blick auf meiner Stirn. 

“Wir sind untröstlich. Vor zweieinhalb Jahren, als sie weggegangen ist hat niemand in der Familie etwas von ihr gehört. Das sah ihr nicht ähnlich, aber wir akzeptierten es. Bis zu dem Tag, vor etwa 7 Monaten, als ihre Mutter mit ihrem Sohn hier aufgetaucht ist. Sie hatte uns gefunden und suchte nach Sally. Wir wurden stutzig und Hunter hat angefangen zu graben.”

“Hunter?”, fragte Ryan und ich war so froh, dass er es tat. Ich war immer noch wie gelähmt. 

“Sallys Halbbruder, der Sohn ihrer Mutter in zweiter Ehe. Er ist ein guter Junge und ist kürzlich erst nach New York gezogen. Wir haben Sally als vermisst gemeldet und die Polizei hat angefangen zu suchen. Natürlich war das alles nicht so einfach, weil es schon so lange her ist. Aber sie haben letztendlich herausgefunden, dass sie seit zweieinhalb Jahren tot ist.”

Rita wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, aber es kamen fortlaufend neue nach. Immer wieder schüttelte sie den Kopf als wollte sie es noch immer nicht glauben. 

In mir jedoch kochte mein Blut gerade hoch. Die Leere und Steifheit vermischte sich mit unendlichem Zorn. Es war genau der Zorn, den ich damals in Marks Büro verspürte und langsam schien ich zu realisieren, was hier vorging. 

“Ma’am, verstehe ich das richtig, dass Sally seit zweieinhalb Jahren tot ist und niemand sie vermisst hat?”, warf Ryan ein. Er hatte recht.

“Nun ja, Sally war oft auf Reisen und es kam vor, dass sie sich ein halbes Jahr nicht blicken lies. Und um ehrlich zu sein gingen wir nach den Briefen von ihr an die Familie davon aus, dass sie tatsächlich nach ihrer Mutter suchen wollte und die Polizei hat uns nicht geglaubt, dass Sally etwas zugestoßen sein könnte. Sie sagten, die ‘Abschiedsbriefe’ würden eindeutig sein und sie könnten uns nicht helfen.”, warf Samuel ein. Auch er hatte eine zittrige, aber gefasste Stimme und feuchte Augen. 

“Und wie kam es, dass man jetzt nach ihr gesucht hat?”, fragte Ryan. 

“Ihre Mutter. Sie war hier und wusste nicht, wo Sally war. Wir glaubten alle, inklusive der Polizei, sie wäre zu ihr gegangen.”

“Ich verstehe. Erlauben Sie mir eine Frage, Sam?”, sein Blick wanderte abwechseln zu den Morrisons und dann wieder zu mir. Er war unsicher, ob er die Frage stellen sollte. Das konnte ich sehen. 

“Bitte.”, sagte Sam mit einem etwas gequälten Lächeln. Man sah wie sehr es sie quälte.

“Wo… Wo wurde Sally gefunden?”

Rita und Samuel blickten sich erneut an und sahen plötzlich beängstigt aus. Ich fasste mich wieder für einen Moment und lehnte mich wieder vor. 

“Ich kann mir vorstellen, wie schwer das alles für euch ist. Es ist unglaublich… Aber Ryan hilft mir. Ich will herausfinden, was passiert ist. Sally war meine beste Freundin und ich denke jemand hat ihr Unrecht getan. Weiß man etwas darüber?”

Ich verlor nicht die Beherrschung. Es war schwer, in so einer Situation die richtigen Worte zu finden und es gelang mir auch nicht. Niemand konnte wieder gut machen was passiert war und womöglich trug ich sogar Schuld daran. 

“Es stellte sich heraus, dass jemand ihr Haus mit einem großen Sack… “, Rita konnte nicht weitersprechen. Die Trauer übermannte sie wieder. Samuel hielt ihr die ganze Zeit die Hand und legte die andere um sie. 

“Ich denke es ist besser, wenn wir nicht mehr darüber sprechen.”, sagte Sam mit ruhiger aber bestimmter Stimme. Er hatte sich wieder etwas gefasst.

“Samuel, ich verstehe, dass…”

“Ich bringe euch noch nach vorne zu eurem Auto. Lasst dass Geschirr einfach stehen.”, sagte er und tat so, als hätte er meinen Satz nicht gehört. Ich blickte zu Ryan und er winkte ab. Wahrscheinlich war es besser so. 

Samuel brachte uns noch zum Auto. Wir versuchten nicht mehr mit ihnen zu sprechen. Es war zu wenig Zeit vergangen seither. 

Auf der Rückfahrt blickte ich nur aus dem Fenster. Ich konnte meine Trauer spüren und vergoss ein paar Tränen für Sally und ihre Familie. Ryan hatte angeboten zu fahren, was ich dankend angenommen hatte. 

Im Auto unterhielten wir uns nicht viel, denn niemand wusste so recht was er sagen sollte. Sally hatte sich nicht gemeldet, weil sie nicht mehr lebte. Wir machten wieder an derselben Raststätte Pause, um zu tanken. 

Als wir gegen späten Nachmittag zurück in der Stadt waren hielt Ryan an einem Polizeirevier ganz in der Nähe von Sallys alter Wohnung. 

“Was machen wir hier?”, fragte ich. 

“Komm mit.”, meinte Ryan und war schon halb aus dem Auto draußen. Er öffnete mir die Türe und wir gingen hinein. Es war kein großes Revier, aber es schien auszureichen. Einige Polizisten konnte ich durch die Gitter Kaffee trinken sehen, andere saßen vertieft an ihren Schreibtischen und tippten auf ihren Computern herum oder lasen irgendwelche Akten. 

Ryan ging auf den Empfangsmitarbeiter zu, der hinter einer Glasscheibe saß. Er zeigte seine Marke und fragte nach einem Captain Haskins.

Ich griff Ryan am Arm und schüttelte kräftig den Kopf. Meine Hand fuchtelte wild unter meinem Kinn herum und deutete ein energisches ‘Nein’ an. 

Er zog mich von dem Officer weg und sagte mit gedämpfter Stimme: “Er ist der, dem der Fall zugeteilt wurde. Er kann uns helfen.”

“Das ist der Mann von Doris! Sie darf nichts erfahren!”, sagte ich eilig und wollte ihn wieder aus dem Revier hinaus zerren. Doch er blieb stehen und blickte mich mit ruhiger Miene an. 

“Na dann spreche ich mit ihm!”, bot Ryan an. 

Mein Blick wanderte von dem Gang zu den Büros, wo bestimmt der Captain gleich entlang kam, und wieder zurück zu Ryan. Ich wurde nervös, aber es blieb mir eigentlich keine Wahl. Doris’ Mann kannte mich. Er war schon einige Male in ihr Büro gekommen, um sie abzuholen. Er würde mich auf jeden Fall erkennen. 

“Ok. Ich warte draußen im Wagen.”, sagte ich und verlor keine weitere Sekunde. Ich eilte nach draußen. Dort setzte ich mich auf die Treppe und schaute verloren in der Gegend herum. 

Der Tag konnte nicht mehr verrückter werden. In den letzten Wochen hatte ich mehr Zeit mit Recherche verbracht, als mit Essen oder Schlafen. Jeden Tag konnte ich ein weiteres Puzzleteil zusammensetzten, um die Identität des Stalkers zu enthüllen. 

Aber wenn ich nun so zurückblickte, so war ich mir nicht sicher wohin mich diese Reise führte und ob ich es wissen wollte. Ich holte das fremde Handy heraus und starrte es an. Wieso hatte er mir dieses Telefon gegeben, wenn sich kaum eine Regung darauf zeigte. Hin und wieder schickte er mir Bilder, auf denen wieder ich zu sehen war vor Monaten bei einem Spaziergang oder einer erneuten Vorlesung. Es kam mir so irreal vor, dass ich nun hier saß und meine Karriere praktisch auf Eis legen musste, um einen verrückten Stalker zu finden, der sich an mir für Sallys Tod rächen wollte. Dabei hatte ich nach all dieser Zeit noch immer keine Ahnung, wer er war. 

Ich steckte das Handy wieder in meine Jackentasche und stand auf, um ein paar Schritte zu gehen. Es dämmerte schon und man konnte nicht mehr ganz klar sehen. Auf der anderen Seite gab es einen ganz kleinen Park mit ein paar Bäumen. Ich bog ab und in den Park hinein. Es war Herbst, aber ich zog mir meine Schuhe aus und spürte das Gras unter meinen Füßen. Ich setzte mich auf eine nahegelegene Bank und zog die Knie heran. Nun saß ich da, ein paar Schritte weiter als noch vor ein paar Wochen. Was ich seither nicht verstand war, dass der Stalker mich schmoren lies. Er lies mich in Angst leben und blind durch dieses Labyrinth der scheinbaren Wahrheit laufen nur um zu erkennen, dass ich am Ende wieder ganz am Anfang war. Wofür?

Ich schaute zur Seite und sah entfernt die Tür des Polizeireviers. Sie war noch immer geschlossen und der Wagen stand noch an derselben Stelle. Gott sei Dank hatten Ryan und ich uns in letzter Zeit viel unterhalten, sodass ich ihm anvertraute, dieses Gespräch zu führen. Er wusste, was wir wissen mussten und würde meine Lücken hoffentlich aufklären und den Stalker enttarnen. 

Plötzlich blickte ich auf meinen Oberschenkel und fing an wieder dieses Gefühl von Unruhe und Nervosität zu spüren. Es war das fremde Handy. Eine Nachricht war eingegangen. 

Ich zögerte, es herauszunehmen. Was würde mich dann auf dem Bildschirm erwarten? 

Dennoch musste ich es wissen, fasste Mut und griff in meine Jackentasche. Es war von einer unbekannten Nummer, die mir ein Foto gesendet hatte. 

Ich öffnete die Nachricht und klickte auf das Bild. Darauf war nicht viel zu sehen, außer viele Bäume, Parklichter und… Mein Gott. Da saß jemand auf der Bank. Mein Atem wurde schwerer und kürzer. Die Luft entzog sich mir und ich hatte das Gefühl mit jeder Einatmung konnte ich nur ungefähr 1/3 der Luftmenge einnehmen, die ich eigentlich brauchte. Die Person auf der Bank war ich. Sofort blickte ich vom Handy auf und drehte meinen Kopf in alle Richtungen. 

Er würde doch nicht so verrückt sein, mir vor einem Polizeirevier etwas anzutuen? Es war unmöglich diesen Menschen einzuschätzen. Einmal schien er keine Absicht zu hegen und dann jagte er mir wieder höllische Angst ein und ich fühlte mich beobachtet. Genau wie in diesem Moment. 

Langsam erhob ich mich und wandte dem Revier den Rücken zu ging jedoch in dessen Richtung. Mit weit aufgerissenen Augen und Schweiß auf der Stirn, sowie zittrigen Händen ging ich langsam rückwärts. Ich wurde immer schneller und drehte mich schließlich in die Richtung des Reviers. Das Handy hielt ich noch immer in meiner Hand mit dem Foto auf dem Bildschirm. 

Hinter mir hörte ich, wie sich ein Busch bewegte und dann Schritte, schwere große Schritte hinter mir. Sie kamen in meine Richtung. Er war hier. Der Stalker stand mir gleich von Angesicht zu Angesicht. 

Ich verlangsamte meine Schritte und blieb schließlich stehen. Die Schritte hinter mir hörten etwa fünf Sekunden später auf. Nichts bewegte sich. 

Die Tür des Reviers war immer noch geschlossen. Kein Ryan in Sicht. Meine Glieder waren erstarrt und ich konnte mich nicht umdrehen. Nach etwa dreißig Sekunden, in denen nichts passierte die mir aber wie eine Ewigkeit vorkamen, fing ich an mich in Zeitlupe umzudrehen. Ich war auf alles gefasst. Dass er da stand mit einer Waffe in der Hand oder mit einem Messer, schwarz gekleidet, groß, kräftig und giftgrüne Augen. Bereit, mich spüren zu lassen, was Sally gefühlt haben musste vor zweieinhalb Jahren, Rache in seinen Augen und kochend heißes Blut in seinen Adern vor Zorn. 

Ich war bereit, drehte mich weiter und nahm langsam aus dem Augenwinkel seine Umrisse war, die je weiter ich mich drehte immer klarer wurden. 

Als ich meine Drehung beendet hatte und auf eine Figur blickte, die so garnicht meinen Vorstellungen entsprach, erblickte ich als erstes blondes kurzes verstrubbeltes Haar. Es hatte genau die gleiche Farbe wie Sallys Haar. Die Haarpracht, die ich mir immer gewünscht hatte. 

Sie wuchsen auf einem kleinen Kopf mit dicken Augenbrauen, ebenfalls blond, die sich rundlich über seine großen blauen Augen legten. Auch seine Hautfarbe war die gleiche wie Sallys und der Mann war etwa gleich groß wie ich und sehr schmal.

Ich schaute in seine Augen und hatte nicht mehr so viel Angst, denn ich konnte Sally sehen. Nun war mir auch sofort klar, wer mich die ganze Zeit verfolgt hatte. 

“Ich warte seit 1 Jahr auf diesen Moment.”, begann er zu sprechen. Die kräftige Stimme passte so garnicht zu der Gestalt, die ich sah. 

“Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast. Sally und ihre Familie haben das nicht verdient.”

Seine dicken blonden Augenbrauen formten das Gesicht zu einer bösen Miene. Man konnte spüren, wie ängstlich aber wütend er war. Und ich konnte ihn verstehen, auch wenn ich die Geschichte noch nicht ganz kannte. 

“Erzählen Sie mir, was passiert ist. Bitte.”, fragte ich höflich und doch vorsichtig.

“Dafür ist es zu spät. Du hast dich die letzten beiden Jahre auch nur für deinen Ruhm interessiert und nicht für Sallys Schicksal oder das Leben ihrer Familie. Dafür musst du bestraft werden.”

Er hielt sich für den Richter über das Schicksal. Niemand konnte nachvollziehen, was in ihm vorging, ich konnte es lediglich versuchen. Ich versuchte Zeit zu schinden und hoffte, dass Ryan sein Gespräch mit dem Officer bald beendete. 

“Und du denkst, weil du ihr Halbbruder bist, Hunter, hast du das Recht über Leben oder Tod anderer Menschen zu richten?”

In demselben Augenblick in dem ich seinen Namen erwähnte und die Tatsache, dass er Sallys Halbbruder war zog er seine Augenbrauen wieder nach oben und schien überrumpelt zu sein. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich seine Identität kannte. 

Dann ganz plötzlich hob er das Messer und zeigte damit auf mich. Er kam einen Schritt näher und sein Gesicht verdunkelte sich wieder. 

Ich erkannte, dass es falsch war ihn anzugreifen und hob meine Hände schützend. Sein Messer war noch immer auf mich gerichtet und etwa 20 Zentimeter von einer Brust entfernt. 

“Meine Schwester wurde kaltblütig ermordet, weil sie zu gut war. Sie wurde aus dem Weg geräumt und ihr Mörder läuft noch frei herum! Nennst du das Gerechtigkeit? Ich bin verpflichtet in diesem Land für Gerechtigkeit zu sorgen!”

Er schob seine Jacke beiseite und ich traute meinen Augen nicht. Als mein Blick auf seinen Gürtel wanderte sah ich eine Polizeimarke aufblitzen. 

“Sie… Sie sind ein Polizist?”, fragte ich, um sicherzugehen.

“Ja, ganz recht. Und ja, ich bin dazu berechtigt dich zur Verantwortung zu ziehen, weil du Schuld am Tod meiner Schwester bist.”

Meine Hände waren nach wie vor erhoben und ich rührte mich keinen Zentimeter. Die Klinge des Messers kam nochmal näher und berührte fast meinen Hals. 

“Lassen Sie das Messer fallen, Hunter!”, schrie eine Stimme hinter mir. Es war Ryan. 

Aber ich konnte nicht mehr reagieren. Hunter schlang seinen Arm um meine Schultern riss mich herum und hielt mir das Messer an den Hals. Wir beide schauten nun in Ryans Gesicht. 

“Hunter! Hören Sie! Sie hat damit nichts zu tun!”

Ryan hatte eine Waffe auf Hunter gerichtet und stand etwa fünf Meter entfernt von uns. Er konnte niemals schnell genug sein, um mich aus den Fängen von Sallys Halbbruder zu befreien. Ich musste es anders regeln. 

Seine Brust drückte sich in meinen Rücken und sein Knie lag in meiner Kniekehle. Meine Hände waren noch immer erhoben und sie zitterten. Ich hatte noch niemals solche Angst. Hunter war mir noch nie zuvor begegnet und die Tatsache, dass er aussah wie Sallys männlicher Zwilling half mir nicht weiter. In der jetzigen Situation war er nicht er selbst. 

Die Trauer und der Zorn hatten ihn eingenommen und leiteten ihn nun in seine Taten. Vielleicht war er sonst ein ganz ordentlicher Kerl, dachte ich, um mich selbst zu beruhigen. Verständlicherweise half das kein bisschen. 

“Hunter! Hunter, hören Sie mir zu, bitte.”

Sein Unterarm drückte sich in meine Brust. 

“Sei still.”

Hunter zappelte mit seinen Füßen von einer zur anderen Seite. Er war nervös und sich des Ausgangs dieser Situation wohl selbst nicht sicher. Mit Ryan hatte er nicht gerechnet. 

“Hunter, sie war meine beste Freundin!”, versuchte ich ihn zu beruhigen. Er war völlig außer Kontrolle. So schien es zumindest, jedoch gab er keinen Mucks von sich. Also redete ich weiter. 

“Ich hatte keine Ahnung, dass sie tot ist. Ich hab es heute… ich hab es heute erst von Rita und Samuel erfahren.”

“Ich glaube dir kein Wort. Du hast doch da von Anfang an mit drin gesteckt.”

“Das ist nicht wahr, Hunter. Ich habe eine SMS von Sally bekommen, dass sie weggegangen ist, um ihre Mutter zu suchen und zu finden. Sie sagte mir sie hätte eine Spur. Dann hat sie weder auf Anrufe noch auf Nachrichten geantwortet. Ich hatte keine Ahnung, Hunter. Ich schwöre es.”

“Lassen Sie sie verdammt nochmal los, Morrison!”

Ryan wurde wütend. Er kam noch einen Schritt näher auf uns zu. Hunters Messer berührte noch immer meine Kehle und sein Knie befand sich jetzt zwischen meinen. Er hielt mich mit einem sicheren, festen Griff. 

“Warum soll sie leben, wenn meine Schwester tot ist?”, schrie Hunter Ryan an. Dieser Rachefeldzug war genau das, wovon er glaubte, dass er Befriedigung erhielt. Aber kannte er Sally überhaupt? Wenn sie hier wäre, sie würde ihren Bruder vor dem Gefängnis bewahren. Sie würde ihn abhalten davon, seine Trauer und seinen Zorn in noch mehr Blut zu ertränken. Seine Schwester würde wollen, dass er in Freiheit lebt und sie an sich erinnert. 

“Sally würde das nicht wollen, Hunter. Wenn Sie sie nur ein bisschen gekannt hätten, so wüssten sie das. Sie würde sie hiervor beschützen. Wissen Sie… “, Tränen stiegen mir in die Augen bei dem Gedanken an ihre Stimme, “… ich will auch dass sie zurückkommt. Aber denken Sie, sie hätte gewollt, dass Sie den Rest Ihres Lebens im Gefängnis verbringen?”

Hunter wurde unruhig. 

Plötzlich bewegte sich das Gebüsch links von uns und ein Officer des Reviers sprang auf Hunter zu. Ryan stürzte auf mich und zog mich zu sich. Hunter wehrte sich und schlug um sich. Bald gab er jedoch auf. Der Officer legte ihm Handschellen an und führte ihn zurück in die Polizeistation. 

Ich stand nur da und sah zu wie das alles passierte. In meinem Rücken spürte ich noch immer seine Brust und an meinem Hals fühlte es sich an, als wäre das Messer noch da. 

Dann sank ich auf den Boden. Meine Glieder sackten zusammen und die Tränen, die vorher wie Eis schienen, rollten jetzt nach und nach über meine Wangen. Ich konnte und wollte sie nicht mehr stoppen. Es war die Trauer, die Angst und all die Überwindung die es mich gekostet hatte zu recherchieren, zu den Morrisons zu fahren, zu reden obwohl mir ein Messer an die Kehle gehalten wurde. Nun blieb nichts aus. Ich weinte und weinte. 

Ryan saß neben mir und tröstete mich. Er sagte nichts und es war genau das, was ich brauchte. Ich wollte keine Fragen, keine Erklärungen, keine Geschichten. Für den Moment wollte ich einfach hier sitzen und weinen. 

Nach einiger Zeit wurde es leichter. Die Tränen hörten auf und ich bekam meine Fassung zurück. 

“Was hat dir Captain Haskins so lange erzählt?”, fragte ich schließlich. 

Ryan schaute mich an und sagte:”Er hat mir alles erzählt.” Sein Lächeln tat mir gut. 

“Erzählst dus mir?”, fragte ich und sah in sein Gesicht. Während Hunter mich bedroht hatte, konnte ich sehen, dass er Angst hatte. Aber nicht um sich oder um Hunter, sondern um mich. Er hatte Angst um mich. 

Wir gingen aufs Revier um die Aussage zu machen. Danach bat ich den Polizeibeamten mit Hunter sprechen zu dürfen. Ich hatte so viele Fragen und ich hatte das Gefühl, dass nur Hunter mir einige dieser Fragen beantworten konnte. 

Sie führten mich zu ihm in einen Gesprächsraum. Hunter saß bereits am Tisch mit Handschellen gefesselt. Ich bat den Officer sie ihm abzunehmen. 

Er und auch Hunter schauten mich erstaunt an, aber ich bestand darauf. Ryan lies ich draußen vor der Tür warten. 

Hunter erzählte mir alles, was ich wissen wollte. 

“Kurz vor Sallys Tod habe ich mit ihr Kontakt aufgenommen. Mum hat mir erzählt, ich hätte eine Halbschwester. Sally und ich waren vom ersten Moment an Geschwister. Sie vertraute mir sogar ihren Roman an, den sie geschrieben hatte. Wenig später hast du ihn dann veröffentlicht. Ich konnte nicht glauben, was ich sah und wollte Sally anrufen. Aber sie hat sich nicht mehr gemeldet.”

Tränen rannen ihm übers Gesicht als er weiter erzählte. Hunter schilderte wie er zu recherchieren begonnen hatte. Er hatte sich mithilfe eines Kollegen hier die Bänder besorgt und so die Verkehrskameras gecheckt. Es war ein Mann darauf zu sehen, der, wie Rita beschrieben hatte, einen Sack in der Hand trug. Auf keinem der Bänder war sein Gesicht zu sehen. Etwa vor einem Jahr hatte er es endlich geschafft seine Kollegen davon zu überzeugen, dass Sally etwas zugestoßen war. 

“Ich konnte es kaum fassen. Es war unfassbar, verstehst du? Wir hatten uns doch gerade erst kennen gelernt.” Anders als im Park konnte ich nun seine Verletzlichkeit und seine unendliche Traurigkeit über den Verlust seiner Schwester sehen und fühlen. 

Die Polizei hatte die Wohnung untersucht, für dessen Miete ein Dauerauftrag eingerichtet war, sodass man nicht bemerkte, was passiert war. Jedoch fanden sich in der Wohnung Fingerabdrücke und zwei Tassen Tee. Auf der einen fand man Sallys Fingerabdruck, auf der anderen einen nicht im System registrierten. 

“Wir konnten nicht feststellen wer es getan hat. Er war auf keinem Video.”, sagte er verzweifelt als hätte man es gestern erst herausgefunden. 

Ich wusste längst, welcher Fingerabdruck auf dem zweiten Becher gewesen sein musste. 

“Wir haben dann ungefähr den Ort festgestellt, wo er sie hingebracht haben muss. Dort haben wir dann Suchhunde losgeschickt und wie verrückt gesucht und gegraben. Und dann… dann haben wir sie gefunden.”

Meine Hände sanken in meinen Schoß und ich lies mich zurück in den Stuhl fallen. Je mehr ich erfuhr, umso weniger konnte ich es fassen. Mark hatte Sally tatsächlich umgebracht. Ich hätte niemals im Leben etwas derartiges von ihm erwartet. 

“Ich habe gedacht du warst es, weil du ihre Geschichte gestohlen hast.”

Ich erklärte ihm wie es gewesen war und dass ich selbst ein Opfer der ganzen Lügen geworden war. Dass ich es nun zu tiefst bereute, besonders weil ich nun wusste, was alles hätte verhindert werden können. 

Bevor ich den Raum verlies schüttelten wir uns die Hand, ich drehte mich um und ging. 

“Alles okay?”, fragte Ryan und schaute mich besorgt an.

“Ich werde keine Anzeige erstatten, Ryan.”

“Was?! Aber… der Mann hat dich bedroht.”

“Ich weiß. Aber er hat seine Schwester verloren und macht mich nicht mehr dafür verantwortlich.”, antwortete ich bestimmt. 

Ryan lächelte und legte seinen Arm um mich. 

Bevor wir das Revier verließen wandte ich mich noch einmal an den Officer am Eingang. Ich griff in meine Jackentasche und holte das fremde Handy heraus. Ich schob es ihm unter der Glasscheibe durch.

“Können Sie das für Mr. Morrison verwahren, Officer?”

Er nickte.

Auch wenn es vielleicht ein Risiko war Hunter laufen zu lassen, so fand ich er hatte eine zweite Chance verdient. Er würde bestimmt nicht mehr als Polizist arbeiten können, aber er würde anderswo zeigen können, dass er zumindest im Grunde seines Herzens ein guter Mensch ist. 

4 thoughts on “Sallys Verschwinden

  1. Hallo und guten Tag

    Ich will dir nur mitteilen, dass ich deine Geschichten toll fand.

    Es haben sich da und dort Wiederholungen und kleine Fehler eingeschlichen, aber das ist unwichtig.
    Die größten und berühmtesten Schreiber haben für solche Fälle Lektoren.
    Lass in der Zukunft deine Geschichten immer von einer weiteren Personen gegenlesen.
    Ein Fremdleser würde Fehler schnell finden und entfernen.

    Ich finde, hier muss es allein um deine Geschichte gehen.

    Ich habe sie gerne gelesen und wollte unbedingt direkt wissen, wie sie endet.
    Mir hat deine Geschichte gefallen, der Stil war gut, die Handlung stark ausgearbeitet und das Ende überzeugte mich total.
    Kompliment.

    Das hast du großartig gemacht.
    Man merkt, wie viel Herz und Seele du in der Geschichte gelassen hast.
    Respekt.

    Um gut zu schreiben, muss man sich öffnen.
    Muss man sich ein Stück weit entblättern.
    Denn Schreiben bedeutet Leben.

    Schreib weiter und weiter und du wirst von Tag zu Tag besser und sicherer.
    Und deine Geschichten werden die Menschen erreichen.

    So wie diese Geschichte MICH erreichen und fesseln konnte.

    Ich danke dir für diese Geschichte.
    Und die spannende Unterhaltung.

    Mein Like hast du natürlich sicher.

    Ganz liebe Grüße,
    Swen Artmann
    (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, meine Geschichte auch zu lesen.
    Ich würde mich über einen ehrlichen Kommentar sehr freuen.
    Denn du weißt:

    Ein wohlwollender, kritischer und zugleich kollegialer Kommentar bringt uns am Ende des Tages weiter als 5 nicht ernst gemeinte Likes.
    Mein Like war natürlich ernst gemeint.
    Vielen Dank.
    Ach ja, fast vergessen:
    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Bis demnächst.
    Swen

    1. Vielen herzlichen Dank für deinen Kommentar! So wird man besser, wenn andere es lesen und einem sagen, was man besser machen kann. 🙂
      Selbst wird man fast sowas wie ‘betriebsblind’. Es freut mich, dass ich Feedback bekomme von subjektiven Personen. Das ist wirklich toll!

      Danke nochmal für deine Zeit!

      Die Geschichte werde ich gleich lesen 🙂
      LG
      Steffi

  2. Hi,
    erstmal ein ganz großes Lob für Deine Geschichte. Man merkt ihr in jeder Zeile an, wie viel Leidenschaft Du für die Geschichte empfunden hast.
    Du hast einen sehr klaren und bildlichen Schreibstil, die Charaktere sind unglaublich toll herausgearbeitet. Die Story ist für mich in sich schlüssig und gut aufgebaut.
    Mein einziger Kritikpunkt ist ganz subjektiver Natur. Mir ist die Geschichte zu lang, für eine Kurzgeschichte jedenfalls. Ich glaube, dadurch dass Du soviel Leidenschaft eingebracht hast, hast Du Dich hier und da ein wenig in der Geschichte verloren und mehr erzählt/ausgeschmückt, als für die Geschichte notwendig gewesen wäre. Ich persönlich mag es lieber, wenn ich mir mehr “vorstellen” kann. Aber wie gesagt, das ist mein ganz persönlicher Geschmack.
    Ich bin mir sicher, wenn Du weiter schreibst und an Dir arbeitest, kommen da noch ganz viele weitere tolle Geschichten bei raus! Mein Like gebe ich Dir auf jeden Fall sehr gerne!

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen und ein Feedback da zu lassen (“Glasauge”)

  3. Liebe Steffi,

    uuuuhhhh, so eine kleine Schrift und so viel Text – das war gerade Leistungssport 😉 – aber es hat sich definitiv gelohnt!

    Du hast eine tolle Kurzgeschichte geschrieben, in der viel Leidenschaft und Herzblut steckt, das merkt man sofort.

    Die Geschichte von der verzweifelten Sally hat mich sehr berührt.

    Ich habe mich am Anfang ein paar Mal gefragt, wo Deine Geschichte spielt, weil Du teilweise deutsche, teilweise amerikanische Namen verwendet hat (Ryan, NYPD, Hunter vs. Doris und Steph – diese Abkürzung fand ich übrigens sehr witzig, da eine meiner besten Freundinnen auch Stephanie heißt und sich mit Steph statt mit Steffi abkürzt, was ich vorher noch nie gehört/gelesen hatte :))
    Aber sie spielt in New York, oder?

    Wenn Du Lust und Zeit hast, würde es mich freuen, wenn Du auch einen Blick über meine Geschichte werfen magst, sie heißt “Räubertochter”.

    Ich wünsche Dir noch viel Erfolg fürs Voting und ein schönes WE!

    Liebe Grüße
    Anita

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