thereadingbabeSonderbehandlungen

Der Fund

Ich lasse es fallen. Der Bildschirm zersplittert auf dem Parkettboden. Das Zittern in meiner Hand wird stärker. Schweißtropfen kleben wie durchsichtige Kügelchen an meiner Stirn. Ich blinzle, doch das Bild hat sich bereits in mein Lid eingebrannt. Hastig bücke ich mich und nehme das fremde Handy nochmals zur Hand. Mit klopfendem Herzen blicke ich auf den Bildschirm, wo nun Splitter wie ein Spinnennetz über dem Display liegen. Ich drücke auf die Taste um es zu entsperren. Tatsächlich funktioniert es noch. Ich atme durch und brauche einige Sekunden, bevor ich nochmals Play drücken kann. Zu groß ist meine Angst, mich nochmals so zu sehen.

Ich betätige die Play Taste und erkenne den hellen Raum, die Schränke, den blauen Stuhl auf dem der regungslose Patient liegt und die blutigen Instrumente, die ich benutzt habe. Alles ist mir so vertraut wie meine Hosentasche, denn es ist mein Arbeitsplatz. Wie zum Teufel kommt dieses Video das auf dieses verschissene Handy? Wem gehört es überhaupt? Jetzt kommt der Moment, wo ich mein Gesicht sehe. Ein Ausdruck aus Erregung und Entsetzen spiegelt sich darin. In meinen blauen Augen ein Wahn. Meine blonden Haare kleben mir durchgeschwitzt am Kopf. Es ist falsch, das weiß ich, aber ich kann einfach nicht anders. Mich so zu sehen, widert mich an. Nun verschwindet die Aufnahme und der Text erscheint nochmals: „Wiederhole die Tat vom Juni 1983 bis Montag oder dieses Video wird dich ruinieren.“ Ich stecke das Handy in meinen Kittel. Schlucke, kneife die Haut zwischen Daumen- und Zeigefinger, um das Zittern zu beruhigen. Ich öffne die Tür zum Behandlungszimmer, dort wo wieder ein regungsloser Körper auf mich wartet.

Empfang in der Hölle

„Hier bei Dr. Fischer, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, frage ich in den Hörer. Es ist Donnerstag Nachmittag, kurz vor Karfreitag und die Hölle los. Genau jetzt tauchen sie wie aus dem Nichts auf. Diese Patienten, die bereits drei Wochen mit Zahnschmerzen herumspazieren und nun plötzlich das Gefühl bekommen, sie werden das lange Wochenende so unmöglich überleben können.

„Tut mir leid Herr Dubrowsky, aber Herr Dr. Fischer ist heute leider komplett überbucht. Ich kann Ihnen einen Termin nächsten Dienstag anbieten? Ansonsten wenden Sie sich bitte an den lokalen zahnärztlichen Notfalldienst, dort wird man sie sofort behandeln.“ Ich unterdrücke einen genervten Unterton und lächle sichtbar, weil es dann angeblich derjenige am anderen Hörer hören kann. Gleichzeitig blicke ich auf den freien Termin in einer Stunde. Doch ich weigere mich, es diesem alten Sack zu vergeben, der mir ständig auf die Titten glotzt, wenn er auftaucht.

Schon seit meiner Ausbildung vor zehn Jahren arbeite ich hier. Der Job ist eigentlich nicht schlecht. Aber seit Wochen fällt es mir immer schwerer, mich zusammen zu reissen und die Fassade aufrecht zu erhalten. Ein professionelles Lächeln auf zu setzten, wenn eine Frau die Praxis betritt, statt ihr zur Flucht zu raten. Denn hier arbeitet der Teufel. Manchmal kralle ich meine künstlichen Fingernägel in meine Fäuste, grabe es in mein Fleisch bis es schmerzt, nur um den Drang zu unterdrücken, etwas zusammen zu schlagen. Aber ich habe einen Weg gefunden, wie ein Faustschlag um einiges schlimmer sein kann. Ich werde es demjenigen heimzahlen. Für meine Schwester und für die anderen Betroffenen. Nicht umsonst sind die Assistentinnen
dieser Welt dafür bekannt, die dunkelsten Geheimnisse ihrer Chefs zu kennen. Ich gehöre dazu.

Impuls eines gebrochenen Herzens

Mein Magen krampft sich zusammen. Wieder muss ich würgen. Meine Finger klammern um die Klobrille. Die Galle frisst sich in meine Speiseröhre. Ich lasse mich neben der Schüssel fallen. Mir ist klar, dass ich etwas unternehmen muss. Dieses Video wird mein ganzes Leben zerstören. Alles was ich die letzten Jahrzehnte aufgebaut habe. Meine Frau, mit der ich schon über zehn Jahre verheiratet bin, wird mich verlassen. Meine beiden Söhne werden mich ansehen, als wäre ich Abschaum. Die Praxis würde ich aufgeben müssen und ich würde im Gefängnis landen. Ich bin Kieferchirurg, einer der Besten in meiner Stadt. Hart, habe ich mir diesen Ruf die letzten Jahre erarbeitet. Zu mir werden Weisheitszähne, Zysten, Tumoren und Schleimhauterkrankungen überwiesen, an die sich sonst keiner traut sie zu behandeln. Das Skalpell ist wie eine verlängerte Hand für mich. Ich kenne jeden Schritt den ich durchführe, in-und auswendig. Jeden Griff mit dem Bohrer und der Zange, führe ich mit Präzision und Feingefühl aus. Auf jede Komplikation bin ich vorbereitet. Nichts kann mich erschüttern, doch dieses Video hat mich bis ins Mark getroffen.

Stöhnend setzte ich mich auf und vergrabe mein Gesicht in die Hände.
An den Juni 1983 habe ich schon lange nicht mehr zurück gedacht. Doch er begleitet mich durchs Leben wie ein dunkler Schatten. Dieser Monat war einer der schlimmsten meines Lebens gewesen.
Damals war ich unsterblich in Maria verliebt. Wir gingen zusammen aufs Gymnasium und für mich war sie die schönste Frau, die ich bis dahin in meinen jungen Jahren gesehen habe. Ich liebte sie von ganzem Herzen, so wie es ein Junge von fünfzehn Jahren tun kann. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ein Trottel mit Brille und pickligen Wangen, so wie ich einer war, sie dazu bringen konnte, sich mit ihm einzulassen. Ich umwarb sie täglich und hinterliess in ihrem Spind Rosen, Liebesgedichte und Kassetten mit Liebessongs. Eines Tages lief ich mit schüchternem Gesicht an ihr vorbei, als sie mich plötzlich an den Schultern packte und mich wie aus dem Nichts küsste.
In diesem Moment empfand ich dieses tiefe Glück, wie es nur jemand fühlen konnte, der gerade einen Lottogewinn ergattert hatte. Die ganze Welt um mich verstummte in diesem Augenblick. Ich fühlte ihre sanften Lippen auf meinen, die nach Erdbeere schmeckten. Ihre Hand, spürte ich sanft auf meiner Schulter und ihren Duft nach Rose inhalierte ich. All diese Eindrücke sind mir bis heute noch so greifbar, als wäre es erst gestern gewesen. Und dann ließ sie mich los und lachte. Sie lachte so laut, dass sich alle Mitschüler zu uns umwandten und in ihren Gesprächen innehielten. Sie zeigte mit dem Finger auf mich und lachte mich aus. Hielt mein Gedicht in die Höhe und las es vor, woraufhin die ganze Schule in spottendes Gelächter ausbrach. Mein Herz zerbrach in Trillionen Splitter und meine Kehle war wie ausgetrocknet. Auf meiner Zunge lagen Worte, bereit um mich zu rechtfertigen, doch ich brachte sie nicht über meine Lippen. Ich bleib wie angewurzelt stehen und ließ das Gespött wie eine Steinigung über mich ergehen. Nach dem Unterricht kehrte ich heim, griff in den Medikamentenschrank und nahm eine  Wodka Flasche aus der Vitrine. Meine Eltern, beide Besitzer eines einfachen Supermarktes im Dorf, waren bei der Arbeit. So ging ich in mein Zimmer, wo die Jalousien die Sonne daran hinderten, hinein zu gelangen und die drückende Hitze fast unerträglich war. Mein Schmerz den ich fühlte, war aber unerträglicher. Ich legte mich mit Tränen in den Augen ins Bett und drückte die weißen Pillen aus der Verpackung in meine Hand. Zehn Stück waren es. Ich glaubte die Dosis würde reichen, um mir endgültig den Rest zu geben. So dass ich nie wieder einen Fuss in diese Schule setzten muss. Mich nie wieder diesen Blicken stellen und nach Worten suchen muss, wenn ich wieder ausgelacht werde. Ich spülte die zehn Tabletten mit Dreiviertel der Wodka Flasche hinunter. Legte mich zurück ins Bett und schloss die Augen. Wartete auf das weiße Licht, dass mich erlösen sollte.
Stattdessen, schlug ich die Augen einen Tag später wieder auf und blickte in das weiße Licht der Krankenhausdecke, wo die Gesichter meiner Eltern mit besorgten Augen in mein Blickfeld auftauchten. Insgeheim war ich erleichtert, dass es nicht geklappt hat und ich schwor mir, mich nie wieder in diese Lage zu bringen. Ich wollte mich nicht umbringen, es war ein Impuls. Impuls eines gebrochenen Herzens. Doch wie es aussieht, muss ich meinen Schwur überdenken. Ich habe die Wahl. Nur, was ist schlimmer? Der Freitod oder sich komplett ruinieren zu lassen und für immer als Ekelpaket in Erinnerung zu bleiben?

Ich habe die Wahl und ich habe mich entschieden.

Angst

„Lisa, komm bitte in mein Büro.“, tönt seine Stimme aus der Sprechanlage und lässt mich zusammen zucken. Beinahe schütte ich dabei die Tasse Schwarztee über die Tastatur. Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich muss augenblicklich schlucken. Wieder kralle ich meine Fingernägeln in mein Fleisch, bis es schmerzt.

„Ja?“, sage ich und betrete sein Büro. Er sitzt hinter seinem gläsernen Schreibtisch und schiebt sich seine Brille zurecht. Die Sonne scheint durch das Fenster und fällt seitlich auf ihn, so dass seine ordentlich gekämmten Haare golden leuchten und die Augen in einem ozeanblau hervorstechen.

Ich muss es ihm schon lassen, so wie er da sitzt, wirkt er so, als könnte er keiner Fliege etwas zu Leide tun. Sein Körper sitzt aufrecht, ist athletisch und strahlt diese Ruhe aus, als hätte er immer als unter Kontrolle. Doch seine Fassade gerät jetzt ins Wanken. Ich sehe es an den Schweissperlen auf der Stirn und das leichte Zittern an den Lippen.

„Bitte verschiebe heute meine letzten zwei Patienten. Ich habe einen Notfall zu Hause.“, sagt er und tippt etwas in seinem Computer, ohne mich anzusehen. Ich erkenne zum ersten Mal Angst in seinem Gesicht.

„Ist etwas passiert, Tim?“, frage ich meinen Chef.
„Ja, Patriza ist zu Hause gestürzt und ich muss unbedingt nach Hause.“

„Oh, ist ihr etwas zugestossen?“ Ich halte mir die Hand vor den Mund, weil ich glaube, dass man bei einer solchen Nachricht so reagiert.

„Nichts schlimmes“, räuspert er sich, „etwas den Rücken gezerrt und ein paar blaue Flecken.“

„Oh. Ja, selbstverständlich, ich erledige das sofort.“

Ich schließe die Tür. Und ich fühle es aufsteigen. Eine Aufregung, wie am Weihnachtsmorgen, bevor man endlich seine Geschenke auspacken darf. Er hat es gefunden. Es geht los.

Wie Heroin

Ich drücke das Gaspedal durch. Der Motor heult auf. Schon wieder diese lästigen Fahrer, die ständig die linke Spur behindern. Ich betätige das Fernlicht, woraufhin sich der weiße Honda vor mir nach rechts bewegt. Die Sonne liegt bereits über dem Horizont, taucht die Straße in rötliches Licht und blendet mich. Ich brettere über die Autobahn, jedoch ohne genaues Ziel.

Ich bin zu aufgewühlt, als dass ich nach Hause gehen könnte. Ich kann mit Patrizia nicht darüber sprechen. „Wiederhole die Tat vom Juni 1983  bis Montag oder dieses Video wird dich ruinieren.“ Wie ein Blitz schiesst der Satz nochmals in meinen Kopf. Jetzt oder nie, denke ich mir. Der Motor heult nochmals auf, als ich beschleunige und die zunehmende Geschwindigkeit drückt mich in den Ledersitz. Ich schleiße meine Augen und lasse das Lenkrad los. Ein Autounfall. Selbstunfall. Ja, das wäre doch ein vernünftiger Ausweg. Es passiert jeden Tag. Ich sterbe als liebevoller Ehemann, Vater und hervorragender Chirurg. Ein Vibrieren im Sitz und piepsen eines Signaltons lässt mich meine Augen aufreissen. Ich habe das Sicherheitssystem meines Mercedes vergessen, der den Wagen wieder zurück auf die Spur lenkt, sobald er unkontrolliert über den Mittelstreifen fährt. Es soll vor Unfällen durch Sekundenschlaf schützen. Scheisse! Jetzt kann man sich damit nicht einmal umbringen. Wütend schlage ich aufs Lenkrad.

Nein, ich kann das nicht! Verflucht! Ich habe zu viel, wofür es sich zu Leben lohnt.

Max und Paul sind bald in der Pubertät, wohl die nervenaufreibendste Zeit für Eltern, aber ich möchte sie aufwachsen sehen. Möchte sehen, was aus ihnen wird und sie dabei unterstützen. Sie brauchen einen Vater an ihrer Seite und ich liebe sie zu sehr. Und meine Frau Patrizia, meine beste Freundin und die Liebe meines Lebens. Sie war immer für mich da und hat sogar sich selbst an hinterster Stelle gesetzt, um für die Kinder zu sorgen, damit ich die Praxis aufbauen konnte. Mir zerschmettert es das Herz, wenn ich sie mir in Schwarz an meinem Grab vorstelle. Wieso habe ich das bloß getan? Wieso konnte ich mich nicht zurück halten? Wieso bin ich nicht normal? Ununterbrochen wirbeln diese Gedanken durch meinen Verstand. Es begann vor einigen Jahren und ich weiß nicht einmal, woher sie kamen. Zu beginn verdrängte ich sie. Ich schämte mich, fand es abstossend. Doch sie breiteten sich wie eine Seuche immer mehr aus und setzten sich regelrecht in mein Hirn ein. Und je mehr ich dagegen ankämpfte, umso mehr nahmen sie Besitz von mir und ließen mir keine Ruhe. Ich bin doch kein schlechter Mensch, sagte ich damals zu mir. Nein! Jeder der mich kennt, würde mich als zuverlässig, humorvoll und liebevoll beschreiben. Ich bin kein Psychopath. Ich bin kein Widerling. Aber dann war dann doch dieses Verlangen da, das ich nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Und da blieb mir nichts anderes übrig. Ich musste es ausleben. Ich sagte zu mir: Nur das ein Mal. Danach werde ich nie wieder daran denken. So etwas sagt wahrscheinlich auch ein Junkie zu sich selbst, bevor er sich den ersten Schuss Heroin in die Adern schiesst. Doch dann geschah etwas unerwartetes. Es befriedigte mich. Nicht auf diese sexuelle Art, wie wenn man einen Orgasmus erlebt. Es war viel intensiver und befreiender, als alles was ich zuvor erlebt habe. Es war diese Kontrolle, diese Macht, die ich verspürte. Ich fühlte mich so unzerstörbar und nicht wie der picklige Teenager im Schulflur damals. Und genau dieses Gefühl hatte so hohes Suchtpotenzial wie Heroin. Ein Schuss und du willst mehr, koste es was es wolle.
Auf einmal schießt dieser Blitz in mein Hirn, so dass ich den Blinker setzte und auf dem Pannenstreifen anhalte. In der Praxis konnte ich mir das Handy nicht genauer ansehen, zu hoch war das Risiko, dass jemand in mein Büro hereinplatzt. Ich nehme es nochmals zur Hand und suche die Kontakte durch, Anruflisten, SMS-Liste. Doch nichts. Es ist leer. Nur dieses Video von mir. Ich schlucke schwer und schlage mit dem Kopf gegen das Lenkrad. Wer zur Hölle weiß davon? Ich betrachte die Aufnahme genauer. Der Patientenstuhl ist zu sehen. Die Narkoseflasche und die Sauerstoffflasche. Der regungslose Körper. Der geblümte Rock, die roten Pumps. Ich kann mich an sie erinnern. Sie war etwas ganz besonderes. Hatte grosse Zahnarztangst. Brach bei der Erstbesprechung sogar in Tränen aus. Doch ich brachte sie mit der nötigen Geduld und dem Taktgefühl dazu, mir zu vertrauen.

Angstpatientinnen biete ich Sondertermine am Wochenende an. Ich sage ihnen, dass es dann ruhiger ist und die Ruhe sich positiv auf die Angst auswirkt, was auch stimmt. Ich arbeite dann alleine, obwohl es schwierig ist und ich fast doppelt so lange brauche.

Dann trifft es mich wie ein Schlag. Erst jetzt fällt mir die Perspektive auf, aus der es gefilmt wurde. Es muss von meinem PC im Behandlungszimmer gemacht worden sein. Schnell ziehe ich mein anderes Handy aus der Jackentasche und wähle mit hämmerndem Herzen die Nummer der IT- Sicherheitsdienstes, der gegen Hackerangriffe und Datenklau schützen soll. Nach wenigen Freizeichen meldet sich eine Stimme.

Frühlingserwachen

„Hat es geklappt?“, lese ich die SMS und antworte: „Ja. Er hat es gefunden. Es geht los.“

Schnell lösche ich die Nachricht wieder. Ich schiebe das Handy in meine Tasche und richte meinen Blick aus dem deckenhohen Fenster des Gemeinschaftsraums in der Psychiatrie. Es ist einer dieser Frühlingstage, die den Sommer bereits greifbar machen. Der Himmel ist azurblau, die Kirschblüten und Magnolien blühen und lassen die Bäume so aussehen, als wären sie grosse Blumensträuße. Ein Vogelschwarm überzieht den Himmel und Bienen schwirren über den Tulpen im Garten. All das kann sie nicht mehr wahrnehmen. Ich blicke ins Gesicht meiner jüngeren Schwester, Anna. Wo einmal ein Leuchten in ihren Augen war, sind jetzt nur noch zwei leere Augäpfel, wie bei einer Porzellanpuppe. Die gebräunte Haut, jetzt blass. Die Lippen früher immer in einem Beerenton geschminkt, sind rissig und trocken. Ihre Gestalt dürr und zusammengesunken. Sie hat seit Jahren nicht gesprochen und starrt nur in die Leere.

Eines Tages kehrte Anna in apathischem Zustand heim. Unzählige Versuche sie zum Reden zu bringen, scheiterten. Sie sprach seit diesem Tag nicht mehr und wir wussten, es musste ihr etwas schlimmes zugestossen sein. Sie liess sich die Weisheitszähne entfernen und kam erst am späten Abend heim. Niemand wusste, was geschah. An ihrem Körper waren keine Gewaltspuren, nichts deutete auf einen Überfall hin. Der Eingriff verlief laut meinem Chef komplikationslos. So landete sie schließlich hier in der Psychiatrie und wird seitdem durch namenhafte Psychiater therapiert, doch bis jetzt ohne Ergebnis. Anna war früher immer ein sehr feinfühliger und sensibler Mensch gewesen. Sie hatte dieses große Helfersyndrom und stellte alle anderen an erster Stelle. Sie war mitten in der Ausbildung zur Altenpflegerin, als das geschah. Danach musste sie alles abbrechen. Ihre Seele zerbrach von einem Tag auf den anderen.

Vor einigen Wochen erfuhr ich schließlich, was ihr zugestossen ist. Und ich habe das Gefühl, sie nun besser verstehen zu können. Denn ihr Erlebnis kann man nicht laut aussprechen, es ist einfach zu grässlich.

Tränen schießen mir in die Augen und ich fühle sie über meine geschminkten Wangen rollen. Sie tropfen auf den Tisch, wo ich Annas Hand in meine nehme. Er hat mir nicht nur Anna genommen, sondern auch die ganze Familie zerstört. Ihr Schicksal stieß ein Keil in die Ehe meiner Eltern, so dass sie sich nach dreissig Jahren scheiden ließen. Übrig ist nur noch diese leblose Hülle. Und dafür hat er den Tod verdient.

„Anna“, flüstere ich und drücke ihre Hand, die sich anfühlt, wie die einer Leiche. Ich wünschte mir so sehr, dass sie mich endlich ansieht, mir in meine Augen blickt, stattdessen spiegelt sich darin der Himmel. Ich vermisse sie so.

„Ich weiß, was dir zugestossen ist. Ich habe es herausgefunden.“

Bei dieser Vorstellung muss ich schlucken und unterdrücke den Drang auf den Tisch zu kotzen. „Glaub mir, er wird dafür büßen.“, flüstere ich. Ich streichle über ihre trockenen Haut und da fühle ich es. Sie sieht mich an und drückt meine Hand. Mein Herz setzt für einen Moment aus.

Schlaflos

Ich werfe die Bettdecke weg. Mir ist zu heiß und der Schweiß klebt an meinem Körper. Die ganze Nacht wälze ich mich hin- und her. Ein Wunder, dass Patrizia nicht schon längst von meiner Unruhe aufgewacht ist. Die Sicherheitsfirma konnte nichts herausfinden. Es gab keinerlei Anzeichen auf einen Hackerangriff. Derjenige muss seine Spuren gut verwischt haben. Ausserdem habe ich das Handy in einem Technikladen auf den Besitzer überprüfen lassen, doch nichts. Die Sim-Karte kann nicht zurück verfolgt werden. Meine Gedanken überschlagen sich und geben mir keine Ruhe. Es lag einfach im Flur meiner Praxis. Ich kontaktierte die Patienten, die ich an diesem Tag behandelt hatte, doch keiner vermisste ein Handy. Meine Angestellten wussten auch nichts davon.
Immer wieder stelle ich mir dieselbe Frage: Wer weiß davon und wie kann ich denjenigen aufhalten? Über den Selbstmordversuch wissen nur wenige Freunde bescheid. Aber sie alle würden mir niemals so etwas antun, oder doch? Nein! Niemals. Ich habe noch drei Tage Zeit, bis mein Leben zerstört wird.

Plötzlich durchschneidet ein Signalton die Stille in der ich liege und mein Herzschlag setzt aus. Reflexartig drehe ich meinen Kopf zu Patrizia, die immer noch tief schläft.

Gott sei Dank! Langsam öffne ich die Schublade meines Nachttisches, wo ich das Handy aufbewahre und blicke auf das leuchtende Display. Mit zittriger Hand schnappe ich es mir und trete auf den Flur hinaus, um es zu lesen. Mit hämmerndem Herzen öffne ich die Nachricht.

Nachtspiel

Es ist weit nach Mitternacht und ausser das Licht des Bildschirms, vor dem ich sitze und die Straßenbeleuchtung, die durch das Fenster die Wände gelblich färbt, ist die Wohnung dunkel. In dieser Atmosphäre fühle ich mich wie in einem Versteck, so als ob ich dann bei dem was ich hier tue, nicht erwischt werden könnte. Der Kühler meines PC’s läuft auf Hochtouren und der Wodka in meiner Kehle brennt wie Feuer. Ich verziehe das Gesicht und wische mir den Mund mit dem Ärmel meines Pyjamas ab.

Ich gehöre zu einer Hackergruppe die sich FeminiHacks nennt und nur aus Frauen besteht. Seltsamerweise stellen sich die Leute bei Hackern immer einen dicken, pickligen Nerd vor, der ungeduscht hinter seiner Chipstüte und einer Cola Flasche sitzt und die Wohnung tagelang nicht verlässt. Aber tatsächlich gibt es immer mehr Frauen und diese Frauen gehen täglich ihren gewohnten Job nach. Ob Verkäuferin an der Kasse, Kosmetikerin, Ökonomin oder sonst was. Nachts brechen wir aus unserem geordneten Leben aus und kämpfen hinter dem Bildschirm für die Rechte der Frauen. Mich hat die Technik bereits in Kindertagen fasziniert, so dass ich ganze PC Gehäuse auseinander geschraubt habe. Da sich meine Eltern kein Studium leisten konnten, lebe ich so meine Leidenschaft dafür aus. Außerdem, verdiene ich so fast das dreifache meines Jahresgehaltes und das tue ich nur für Anna, damit sie in einer der besten Kliniken stationiert sein kann.

Gerade bin ich dabei, die Daten eines Online Portals für Seitensprünge zu klauen. Diese wollen wir dann veröffentlichen und die Schweine an den Pranger stellen. Wir setzten uns dort ein, wo die Frauenstimmen sonst nicht wahrgenommen werden. Wir haben schon Daten von Grosskonzernen geklaut, die ihren Frauen einen verschissenen Lohn zahlen und ihnen damit gedroht, es öffentlich zu machen. Und wie durch ein Wunder, klappt es dann plötzlich mit der gerechten Bezahlung. Es ist also für mich ein Kinderspiel, mich in einen Fremden PC einzuloggen. So einfach, wie mit Knetmasse einen Ball zu formen. So tat ich es auch bei Tim Fischer und schaltete die Kamera an, während er gerade bei seiner Sonderbehandlung war, wie  er es nennt.

Ich weiß noch, wie ich mich in den Mülleimer unter meinen Tisch übergeben musste, als ich dabei zusah. Noch immer kann ich die Kotze riechen, wenn ich daran denke.

Tik-tak

Ich öffne die Nachricht und klicke auf das angehängte Foto. Es zeigt eine Verpackung von Paracetamol und unten steht geschrieben: „Tik-tak, die Uhr läuft.“ 

Damit versuchte ich mir damals das Leben zu nehmen. Ich schlucke schwer.

„Schatz, was ist los?“, reißt mich Patrizia’s Stimme aus der Starre und ich schrecke so fest zusammen, das ich das Handy fallen lasse. Hastig bücke ich mich und verstecke es hinter dem Rücken.

„Nichts, ich kann nur nicht schlafen.“, flüstere ich, um die Kinder nicht zu wecken. Aus dem Schlafzimmer dringt das warme Licht der Tischlampe in den dunklen Flur. Ihre weibliche Silhouette zeichnet sich wie eine Sanduhr ab. Sie tritt ein Schritt näher und nun fällt das Licht auf ihr Gesicht.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, sagt sie und scheint zu bemerken, dass ich ihr etwas verheimliche.

„Was hast du da?“, blickt sie auf meine Hände. Mein Herz klopft und mein Hirn rattert.

„Nichts, Schätzchen. Es ist nur ein Kollege, der einen Notfall hat und einen Rat von mir braucht.“

„Wieso versteckst du es dann vor mir?“ Sie verschränkt ihre Arme vor die Brust. Gott bewahre, wenn sie das sehen würde!

„Reflex?“, sage ich scherzend.

Für einige Sekunden weilt ihr Blick auf mir, so als ob sie überlegen würde, ob sie mir das abkaufen kann. Patrizia kennt mich in- und auswendig. Wir haben uns im Studium kennengelernt. Sie wollte Ärztin werden, doch machte die Schwangerschaft ihr einen Strich durch die Rechnung. Ich sehe sie an und konzentriere mich darauf, ein neutrales Gesicht aufzusetzen. Ihre dunklen Locken hat sie zu einem Dutt gebunden, ihre Lippen wirken immer so intensiv, als würde sie Lippenstift tragen.

„Hm, okay.“, sagt sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

„Bleib nicht zu lange wach. Morgen früh fahren wir zu meinen Eltern für den Brunch.“

Erleichtert nicke ich ihr zu.

Sie schließt die Tür hinter sich und ich lösche sofort das Foto. Die Erleichterung über meine Lüge überkommt mich so stark, das ich auf die Knie zusammensacke. Am liebsten würde ich wieder losheulen, doch ich reiße mich zusammen. Ich klicke nochmals das Video an und weiß, dass ich es vernichten muss, doch etwas sträubt sich dagegen. Die Aufnahme fängt den ganzen Patientenstuhl ein. Ich beobachte mich dabei, wie ich meine Arbeitshose und die Boxershorts ausziehe. Ich schiebe ihren geblümten Rock hoch, spreize ihre schlaffen Beine, wo die roten Pumps an ihren Füssen baumeln. Ich lege mich auf die narkotisierte Patientin. Sie spürt nichts. Ich stoße zu, immer wieder, härter, bis der ganze Behandlungsstuhl vibriert. Schnell schalte ich es ab. Wende den Kopf ab. Widerlich, Tim. Wie kannst du so etwas nur tun? Gleichzeitig bemerke ich meinen Ständer in den Shorts. Ich bin krank.

Ruhe vor dem Sturm

Es ist Samstag morgen und die Supermärkte platzen wegen den letzen Besorgungen vor dem Osterfest bereits aus allen Nähten. Ich parkiere mein Auto auf dem Praxisparkplatz und wühle in meiner Tasche nach dem Schlüssel, während ich auf die Eingangstür zulaufe. Die Praxis ist geschlossen und Tim hat mit seiner Familie bestimmt etwas vor, so dass ich ungestört sein kann.

Ich schließe die Tür auf und trete durch die Milchglastüre in den Empfangsbereich. Ich starte den Computer und warte bis er hochgefahren ist. Mein Herz klopft. Ich bin nervös, weil ich gerade dabei bin, Daten der Praxis zu klauen, um meinen Chef zu ruinieren. Der Chef, dem ich vor zehn Jahren meine Loyalität und Unterstützung versichert habe. Er ist die Sorte, die sich eigentlich jeder Angestellte wünscht. Er hat Verständnis, wenn man einmal früher gehen muss. Wenn man krank ist, fragt er nicht wann man wieder arbeiten kommt, sondern bittet einem, einen Tag länger zu Hause zu bleiben. Die Sorte, die einem Anerkennung schenkt, wenn man Überstunden macht und der einem manchmal sogar den Schwarztee an den Empfang bringt. Er ist mehr ein Kumpel-Typ, als wirklich ein Chef. All dass passt nicht zu dem Teufel auf dem Video. Es ist, als hätte er eine andere geheime Identität. Aber hat die nicht jeder von uns? Führt nicht jeder von uns irgend ein Doppelleben? Egal ob es der Fussballer ist, der Schwul ist und sich den männlichsten Sport ausgesucht hat, um es zu überspielen. Oder die Fleischverkäuferin, die eigentlich Vegetarierin ist und sich gegen Massentierhaltung einsetzt, aber auf den Job finanziell angewiesen ist? Schließlich führe ich auch ein Doppelleben. Wenn man mich ansieht, würd man nie darauf kommen, was ich Nachts in meiner Wohnung so treibe und dass ich mich mit PC’s besser auskenne, als mit Schminke oder Backrezepten. Ein unscheinbare, durchschnittliche Frau, die in der Masse untergeht.

Ich öffne unser Programm, wo die Daten der Patienten, Agenda und die Behandlungen dokumentiert sind.

Ich scrolle in die Einstellungen und wähle die Funktion aus, mir nur die Wochenenden einzublenden. Es war kein Geheimnis, dass er an Wochenenden arbeitete. Aber es war eins, das er alleine war. Er hat uns immer gesagt, er hätte einen Studenten der ihm dabei behilflich ist. Da er an der Universität Referate hält, hat das niemand in Frage gestellt.

Ich kopiere mir die Namen und Kontaktadressen auf ein separates Dokument und drucke es aus. Ich staune über die Anzahl der Namen. Über vierzig Frauen, die von der Tat nichts wissen und darunter einen Namen, den ich kenne. Anna Stein. Meine Schwester. Vor drei Jahren ließ sie sich die Weisheitszähne an einem Samstag entfernen, da sie von den Schichten im Altersheim nicht anders konnte. Ich wollte eigentlich mitkommen, doch ich lag mit einer Magen-Darm Grippe flach. Vielleicht war die Magen-Darm Grippe auch kein Zufall gewesen, denke ich mir jetzt.

Gerade als ich das Blatt aus dem Drucker nehme, öffnet sich die Praxistür und Tim Fischer steht in der Tür. Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich bin wie versteinert.

„Lisa? Was tun sie hier?“, sagt der Teufel.

Das Dokument

Ich bin genauso überrascht wie Lisa, die mit aufgerissenen Augen hinter dem Empfang steht. Ihre kurzen Haare ordentlich gekämmt, der Körper wie erstarrt.

„Lisa?“, wiederhole ich und schiele auf das Blatt in ihrer Hand. Ich trete um die Rezeption, nähere mich ihr, doch sie weicht einen Schritt zurück, als hätte sie Angst vor mir. Ich blicke auf den Monitor, wo ich das offene Dokument mit weiblichen Namen erblicke. Namen, die mir durchaus bekannt sind. Ich zähle eins und eins zusammen, brauche einen Moment um zu verstehen, dass von ihr das Video kommt. In meinem Bauch braut sich etwas zusammen und beginnt zu kochen. Ich fühle meine Kiefermuskeln anspannen.
„Lisa?“, wiederhole ich jetzt langsamer. Ich möchte ihr das Blatt entreissen, doch sie duckt sich flink und drängt sich an mir vorbei. Sie möchte gerade die Tür verlassen, als ich ihr nachrufe: „Du warst das mit dem Video!“ Sie bleibt stehen und dreht sich mit feindseliger Mine um.

„Wieso?“, frage ich. Plötzlich bricht sie in lautes Gelächter aus, fast wie Maria damals in der Schule.
„Ist dass dein Ernst, Tim?“

Die Theke der Rezeption liegt jetzt zwischen uns.

„Was denkst du denn, wieso ich das tue?“, fragt sie und hält das Blatt in die Luft.

Dieses Dokument wird mich ruinieren, wenn das in die falschen Hände gelangt. Ich muss es ihr unbedingt entwenden.

„Du hast Anna’s leben zerstört! Dass meiner Familie und meins auch! Deine widerliche Tat hat mir meine Schwester genommen!“, schreit sie. Ich sehe nun in ihren Augen Tränen glitzern. Ich fühle mich ertappt, beschämt, doch ich überspiele dieses Gefühl.

„Na los, geh schon. Du hast keine Beweise außer dieses Dokument mit den Namen. Was sagt das schon aus? Ich bin ein angesehener Chirurg und du nur eine einfache Assistentin. Was glaubst du, wem man glauben wird?“

Wieder lacht sie. Diesmal so, als hätte ich einen schlechten Witz erzählt.

„Wow. Ich hätte nicht gedacht, so etwas aus deinem Mund zu hören. Wie abschätzend du sein kannst. Wer bist du eigentlich, Tim? Sag schon? Ein Perversling? Ein Vergewaltiger? Wer?“

Sie steht mit angewiderter Mine da. Ich schlucke unsicher und blicke wieder auf das Dokument in ihrer Hand. Ich laufe um den Empfang und sie weicht instinktiv zurück.
„Komm schon, Lisa. Gib mir einfach das Blatt und niemand muss etwas davon erfahren. Du behältst deinen Job und alles ist so wie immer.“

Ich höre sie mit der Zunge schnalzen.

„Ich habe zu Hause einen ganzen Ordner voll mit deinen dreckigen Videos. Alles Beweise. Die Polizei wird sich sicherlich dafür interessieren. Aber du hast ja noch bis Montag Zeit, um die Veröffentlichung zu verhindern.“

Gerade als sie aus der Tür marschieren will, packe ich sie an der Kapuze ihres Sweatshirts und ziehe sie zurück. Sie wehrt sich. Ihre Finger klammern sich um meine Hände. Sie tritt Rückwärts nach mir und versucht mir in meinen Penis zu treten.
Doch, ich bin stärker und reiße sie zu Boden.

„Tim, hör auf! Lass mich sofort los!“ Ich blicke in ihr Gesicht, das Angsterfüllt ist. Die Augen weit Aufgerissen, Tränen strömen darüber, die Farbe rot wie ein Krebs.

„Gib mir das Blatt!“, fordere ich sie auf.

„Nein!“, schreit sie und versucht sich zu wehren. Sie versucht mich zu schlagen, doch ich kann ihre schwachen Fäuste fassen.

„Ich sage es ein letztes Mal. Gib mir das Dokument und alles wird gut.“

„Lieber sterbe ich vorher!“, sagt sie und spuckt mir ins Gesicht.
Ich sehe Rot, die lodernde Wut entlädt sich und ich nehme den spitzen Brieföffner, den ich zuvor in meine Hose gesteckt habe zur Hand und ramme es ihr in die Brust.
Bluts spritzt auf mich, als hätte jemand einen Kübel Farbe auf eine Leinwand geschmissen. Ihre Fäuste erschlaffen, ihr Atem röchelt und aus ihrem Mund strömt dunkelrotes Blut, wie aus einer sprudelnden Quelle. Schließlich fällt ihr Kopf auf die Seite.

Ich blicke auf das blutdurchtränkte Dokument, das neben ihr liegt. Das Adrenalin in meinem Körper lässt nach, der Rausch flacht ab und nun kommt der Schock. Ich blicke zu meiner treuen Assistentin, die in ihrer Blutlache liegt. Was habe ich bloß getan? Ich schließe meine Augen und Tränen jagen über meine Wangen. Wenigstens ist jetzt mein Geheimnis mit ihr gestorben. Gerade als ich aufstehen möchte, klingelt das fremde Handy. Nein! Das kann doch nicht sein! Es signalisiert eine eingegangene SMS. Unbekannter Absender: „Der Countdown läuft.“

Lisa war es nicht!

Nach Hause

Es ist Abend und ich bin endlich zu Hause angekommen. Was für ein Tag. Seufzend schalte ich den Motor meines Wagens aus und bleibe noch einen Moment sitzen. Noch immer schießt mir Lisa’s totes Gesicht in den Kopf, das Bild von ihrem blutdurchtränkten Körper.

Dabei wollte ich doch nur etwas in der Praxis holen, das ich vergessen hatte. Danach wäre ich zum Sport und Einkaufen gefahren. Stattdessen schrubbte ich Lisas Blut vom Boden der Praxis und musste die Leiche loswerden. Ich brachte sie in ein Waldstück, das etwa eine Stunde von meiner Praxis entfernt liegt und verbrannte sie dort. Danach zog ich meine Sportsachen an und schmiss die anderen unterwegs in irgend einen Müllcontainer. Noch immer, klebt der Gestank des verkohlten Körpers an mir. In meinen Haaren und auf der Haut. Er hat sich hineingefressen und ich befürchte, egal wie lange ich mich unter der Dusche schrubben werde, ich würde diesen Duft nie abwaschen können. Ich blicke in mein Spiegelbild im Rückspiegel, wo mich meine geröteten Augen ansehen. Darunter zeichnen sich dunkle Schatten ab. Ein Ausdruck voller Schuld, die Augen eines Mörders.
Sie war unschuldig, jagt es mir durch den Kopf und ich stoße einen Schrei aus.
Ich steige aus den Wagen. Meine Beine fühlen sich an, wie Pudding. Kurz stütze ich mich am Wagen ab, um nicht zusammen zu brechen. Reiß dich zusammen Tim, befehle ich mir.

Ich schließe die Haustüre auf und trete hinein. Sehne mich nach der Normalität, die mich darin empfangen sollte. Doch etwas ist anders. Es ist diese Stille. Ein ungutes Gefühl spüre ich in der Bauchgegend und sofort schießt mein Puls in die Höhe. Ist ihnen wohl etwas zugestossen? Am Hacken im Eingangsbereich fehlen ihre Jacken, dort wo die Schuhe sein sollten, sind keine. Ich betrete das Wohnzimmer, blicke mich um. Alles sieht sonst unverändert aus. Doch dann sehe ich es, als ich auf den Wohnzimmertisch blicke. Ein Revolver und ein Briefumschlag liegt dort. Ich schlucke und ahne schreckliches, als ich den Brief öffne.

Der Brief

Tim, wenn du das hier liest, bin ich weg. Ich habe Max und Paul mitgenommen.
Wohin wir gefahren sind, brauchst du nicht zu wissen. Es geht uns gut. Wir sind wohlauf, das versichere ich dir. Ich bitte dich, unterlass jeglichen Versuch, uns zu kontaktieren. Du wirst nicht erfahren, wohin wir gefahren sind. Du hast mir keine Wahl gelassen.
Tim, ich weiß von deinem Geheimnis. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich kam an einem Samstag in deine Praxis, als du deine Sondertermine hattest und wollte dich bitten, Paul vom Fussballtraining abzuholen. So spähte ich kurz in dein Behandlungszimmer und sah dich. Du warst dabei eine narkotisierte Patientin zu ficken. Ich stürmte aus der Praxis und saß daraufhin eine Stunde im Auto. Ich schrie, bis mir meine Kehle brannte, weil ich zu Hause vor den Kindern keine Möglichkeit dazu hatte. Das geschah vor gut fünf Wochen. Fünf Wochen durchlitt ich täglich die Hölle. Jedesmal wenn du mich geküsst hast, wir Sex hatten oder du mich in den Arm genommen hast, hätte ich dich am liebsten von mir weggestoßen und dir ins Gesicht gespuckt. Ich unterdrückte den stetigen Würgreflex. Ich war wütend, doch vielmehr wahr ich entrüstet und beschämt, dass ich deine andere Seite an dir nicht früher gesehen habe. Ich habe mich damals in dich verleibt, weil du ein so feinfühliger Mensch bist. Du spürst die Emotionen anderer, ohne sie danach fragen zu müssen. Du warst der liebevollste und fürsorglichste Mensch, denn ich kannte. Ich vertraute dir, und wir überstanden sogar die schlechten Zeiten. Solche, an denen wir an uns und unserer Liebe gezweifelt haben, doch wir kriegten die Kurve, weil wir uns liebten. Weil ich dich so liebte, Tim. Wir hatten auch unzählige schöne Zeiten und Momente des Glücks, wie die Geburt unserer Kinder. Das alles hast du zerstört, ruiniert. Denn der Mann, der jetzt vor mir steht, ist ein Monster, ein Teufel, ein Widerling. Das bist du, Tim. Ein Widerling, der weggesperrt gehört. Ich hatte Angst, dich damit zu konfrontieren. Ich hatte um mich Angst. Denn weiß Gott, wozu du noch fähig sein könntest. Wenn du schon so etwas tun konntest und Abends nach Hause kommen, und mit uns zusammen Abendessen und Filme schauen konntest, als wäre nichts passiert. Während du die Seelen dieser Frauen zerstört hattest, ohne dass sie davon wussten.Ich erzählte Lisa von dem, was ich gesehen habe, da ich wusste, dass sie sehr vertraut mit dir war. Sie erzählte mir von ihrer Schwester Anna, die in der Psychiatrie sitzt, seit man ihr die Weisheitszähne entfernt hat. Sie kam zu sich während der Narkose, habe ich recht? Du machst eigentlich nie Fehler diesbezüglich, doch dieses eine Mal war einfach die Dosis etwas zu schwach eingestellt gewesen, so dass sie dich auf ihr vorfand, während du sie am ficken warst. Sie schrie und schlug um sich und du stelltest die Dosis dann zu hoch ein, damit sie Ruhe gab. Dummerweise hast du die Sauerstoffzufuhr nicht höher gestellt, so dass ihr Gehirn unterversorgt war. Es traten Folgeschäden ein, Tim. Sie kann nicht sprechen, weil ihr Sprachzentrum dabei geschädigt wurde. Zu deinem Glück kann sie nichts erzählen. Habe ich recht? In ihrem Behandlungsprotokoll hast du alles ordnungsgemäss eingetragen, und so stellte niemand Fragen. Denn du bist ja der Beste deiner Branche, nicht Wahr?

Ich war es, die dich in den Suizid treiben wollte. Lisa war nur meine helfende Hand gewesen, also gib ihr nicht die Schuld dafür. Sie kann sich in PC’s hacken und ich habe sie beauftragt, dich dabei zu Filmen, um dich damit erpressen zu können. 

Ich will nicht, dass du weiterlebst und ich will den Ruf dieser Familie nicht zerstören. Wie würde es Max und Paul wohl in der Schule ergehen, wenn alle ihre Freunde und die Eltern wissen, was für ein Schwein ihr Vater ist. Was würde aus meinem Umfeld werden?  Mein Eltern würden dich nicht mehr ansehen können. Ich kann ihnen das nicht antun, denn sie leiben dich als wärst du ihr eigener Sohn. Das weisst du. So etwas würde auch durch die Medien gehen. Die Reporter brennen auf eine solche Story, um sie in den Nachrichten zu bringen. Die Menschen würden dich verachten, würden dich als Monster sehen. Also bitte ich dich, tu uns allen einen Gefallen. Greif nach dem Revolver daneben und beende es. Tu es uns zu liebe. Vernichte diesen Brief und schreib einen Abschiedsbrief. Du weisst, die Selbstmordrate bie Zahnärzten ist sehr hoch. Keiner wird Fragen stellen. Tu es, damit wir unser Leben weiterleben können und ich nie wieder darüber sprechen muss. Alle würden dich in Guten Erinnerungen behalten. Ich schwor dir die Liebe vor Gott damals, doch ich kann dich nicht mehr lieben. Du bist der Teufel und du gehörst in die Hölle. 

Ich falte den Brief zusammen und weine so heftig, wie nie zu vor. Ich habe alles verloren. Mein ganzer Körper zittert und zwischen meinen Tränenfilm blicke ich zum Revolver.

Dann wird alles schwarz.

6 thoughts on “Sonderbehandlungen

  1. Sehr, sehr geil…am Anfang etwas verwirrend, weil man erst einmal erkennen muss das du über zwei verschiedene Personen in der Ich Perspektive schreibst. Vllt wäre es besser gewesen eine Person in der Ich Perspektive und die andere in der 3 Person..aber das nur am Rande. Deine Wortwahl finde ich klasse, es kommt irgendwie authentisch rüber. Auch das vulgäre finde ich sehr passend…gefällt mir richtig gut und hätte es meiner Meinung nach sicherlich auch verdient in der Anthologie zu erscheinen.

    LG Frank aka leonjoestick

  2. Eine spannende und gut erzählte Geschichte. Die Motive sind gut und plausibel herausgearbeitet und mit dem Ende hast Du mich erfolgreich überrascht 😃👍.
    Auch mich hat allerdings der Wechsel der ich-Perspektiven ein wenig irritiert. Man muss jedesmal wieder ein bisschen neu reinkommen, da wäre eine andere Erzählweise etwas stimmiger, zumal gerade Tim Fischer auf mich in seiner Ausdrucksweise nicht immer wie ein Mediziner wirkt (als solcher würde er z.B. einfach sagen „eine Packung Paracetamol“ aber nicht „eine Verpackung von Paracetamol“). Auch, dass die Anrede der Protagonisten untereinander wechselt („Lisa, was machen sie hier?“ – Im anschließenden Absatz sind beide per Du) irritiert etwas. Wie gesagt, das sind nur Kleinigkeiten mit deren Überarbeitung Du Deine gute Geschichte noch besser machen kannst.

  3. Hey, sehr gute Geschichte, mit einer guten Grundidee. Die Vorstellung, dass so etwas während einer Narkose passieren könnte ist sehr verstörend. Dein Schreibstil gefällt mir sehr gut und erzeugt eine gute Spannung beim Leser. Dass Du aus zwei verschiedenen Perspektiven geschrieben hast, gefiel mir sehr gut, Du könntest es aber z.B. indem Du immer den jeweiligen Namen drüber schreibst noch etwas deutlicher machen. Die Idee mit dem Brief hat mir auch sehr gut gefallen und hat zu einem überraschenden Ende geführt
    Sehr gut, hast Dir ein ♥️ von mir verdient!

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

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