MarieStille

 

Stille. 52 Tage Stille. Peter spürt, wie sich sein Nacken verkrampft. Erst schleichend, dann immer stärker bis er einen stechenden Schmerz in seinem Kopf spürt. Seit 52 Tagen sitzt er im Dunkeln. Im Dunkeln seiner Gedanken. 52 Tage ist es her seit sein Leben völlig auf den Kopf gestellt worden ist. 52 Tage an denen er sich gefragt hatte, wer er ist und wie das passieren konnte?

 

Es ist ein kühler Dienstagmorgen. Peter steht wie jeden Morgen zusammen mit ein paar wenigen Pendlern, die auch schon um diese Uhrzeit zur Arbeit müssen am Potsdamer Hauptbahnhof. Es zieht. Er schlingt seinen Schal enger um seinen Hals. Für April ist es noch ungewohnt kalt. Wie jedes Jahr um diese Zeit geht es Peter nicht besonders gut. Seine Gedanken kreisen dann besonders um seine Vergangenheit und sein Herz schmerzt dann besonders. Er spürt, wie er Gefahr läuft sich in seinen Gedanken zu verlieren, als sein Zug angesagt wurde und wenig später einfuhr. Er fährt immer so früh nach Berlin, da der Zug zu dieser Zeit bis auf einige wenige Menschen leer ist. In seinem Abteil sitzen nur vier weitere Personen. Alle haben Kopfhörer auf den Ohren und sind in ihrer eigenen Welt gefangen. Peter setzt sich auf einen leeren Vierer-Platz. Kurz bevor der Zug den Potsdamer Hauptbahnhof wieder verlässt, steigt ein ungewöhnlich großer Mann ein. Er ist dunkel gekleidet und hat die Kapuze fast vollständig ins Gesicht gezogen. Er lässt seinen Blick durch das Abteil gleiten. Sein Blick bleibt nur für den Bruchteil einer Sekunde an Peter kleben. Ein kaum merkliches Lächeln kriecht über das Gesicht des Mannes. Mit langsamen Schritten bewegt er sich auf Peter zu und setzt sich ihm gegenüber. Dieser Mann hatte etwas unheimliches, denkt Peter. Es war nicht seine Größe und auch nicht der Fakt, dass man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Ihm umgab etwas Düsteres. Etwas was direkt aus seiner Seele kam und sich im Zug ausbreitete. Kurz dachte Peter darüber nach sich woanders hinzusetzen, genauer gesagt, dachte er darüber nach, das komplette Abteil zu wechseln. Irgendwas in ihm sagte ihm aber, dass er lieber sitzen bleiben sollte. Er hatte gelernt auf sein Bauchgefühl zu hören und blieb. Viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens verlernt auf ihre natürliche Intuition zu hören, dabei wissen wir oft von allein, was das Richtige ist. Peter versucht sich gedanklich von dem finsteren Mann zu lösen und lässt seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Für viele ist das Pendeln großer Stress, für Peter bedeutete diese Zeit im Zug Ruhe. Ruhe um seine Gedanken zu ordnen und runterzukommen. Nur wenige Augenblicke bevor der Zug den Bahnhof Berlin-Charlottenburg erreicht, steht der Mann auf. Unweigerlich blickt Peter in seine Richtung. Die Blicke der Männer treffen sich. In den Augen des düster aussehenden Mannes funkelt etwas. Peter‘s Atem stockt. Er kennt diesen Mann. Er kann das Gesicht gerade nicht zuordnen, aber er war sich sicher, dass er ihn in seinem Leben bereits begegnet war. Dann war der Mann auch schon vor der Zugtür, ausgestiegen und in der breiten Masse untergegangen. Peter atmet durch. Was hatte das alles zu bedeuten? Er spürt wie er durch die Aufregung angefangen hatte zu schwitzen. Er lockert seinen Schal, als sein Blick auf das Handy fiel, welches vor ihm auf dem Tisch liegt. Der unheimliche Mann muss es vergessen haben. Peter versucht die Situation zu überblicken und überlegt, was er jetzt machen soll. Seine Gedanken fuhren Achterbahn. Peter ist hin und hergerissen. Auf der einen Seite hat er das Gefühl, dass dieser Mann Unheil bedeutet. Dass er bedeutet, dass er weit in die Vergangenheit zurückgeworfen werden könnte. Aber andererseits, wie soll er von meinem Geheimnis wissen? Er war sich zwar sicher, dass er diesen Mann schon einmal gesehen hatte, nur könnte er auch einfach einer seiner Kunden gewesen sein. Er starrt auf das vor ihm liegende Handy. Wie von allein streckt er seine Hand aus und hebt es an. Vorsichtig drückt er die Taste, die das Handy aufleuchten lässt. Ein schwarzer Hintergrund zeigt ihm die Uhrzeit. In diesem Augenblick fährt der Zug auch schon in den Berliner Hauptbahnhof ein. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit um nachzudenken. Ich werde das Handy heute Nachmittag in einem Fundbüro abgeben, dachte er noch und ließ das Telefon in seine Tasche gleiten.

 

 

 

Das Büro von Peter ist sehr freudlos eingerichtet. Er hatte nicht, wie vieler seiner Kollegen seinen gesamten Hausstand mit in das Büro genommen. Vielen mag das trostlos vorkommen, für ihn ist es eine Hilfe sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren. Die Arbeit. Die Arbeit als Bankberater war nicht unbedingt sein absoluter Traumjob und er trägt damit nicht unbedingt zum gesellschaftlichen Wohl bei, aber John verdient damit immerhin genug, um sich eine schöne 3-Zimmer-Wohnung in der Potsdamer Innenstadt leisten zu können. Vier Stunden war er bereits auf Arbeit. Oft spürte er gar nicht, wie schnell die Zeit verrinnt. Plötzlich vibriert es in seiner Tasche. Das Handy. Im Laufe des Tages hatte er schon fast den merkwürdigen Morgen verdrängt. Die Neugier packt ihn. Das Handy vibriert erneut als er es aus der Tasche zieht. Er wirft einen Blick darauf. „Code:1511“ – sein Herz beginnt zu rasen. Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass ihm nach all den Jahren wieder diese Zahlenkombination vor Augen kommt. Nach all den Jahren des Verdrängens? Und was hatte das zu bedeuten? In dem Moment vibriert das Handy erneut. Eine weitere SMS. „Eingeben!“ Langsam fügten sich die Puzzleteile in seinem Kopf zusammen. Geistesgegenwärtig drückte er den Home-Button des Handys und das Code-Eingabefenster erschien. „1-5-1-1“ flüstert er leise als er die Kombination eingibt. Das Handy entsperrt sich. Genau in diesem Moment erscheint eine erneute Nachricht auf dem Display. ,,Fotos“. Er begriff, dass dies eine weitere Anweisung war und tippt auf das entsprechende Symbol auf dem Bildschirm. Wie konnte das sein? Wer hatte diese abscheulichen Bilder aus jener Nacht gemacht und wer war es, der hinter ihm her ist?  Er spürte, wie sich sein Magen umdrehte und er übergibt sich in den Papierkorb, der neben seinem Schreibtisch steht.

 

Er legt das Handy auf seinen Schreibtisch ab. Die Gedanken in seinem Kopf rasten. In diesem Moment vibriert das Handy erneut. „Heute Abend. 20:30, Blumenweg 3a“. Die Schrebergartensiedlung, durchfährt es seinen Kopf. Dort ist es passiert. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Es ist 16:30 Uhr, noch eine halbe Stunde bis zum Feierabend. Es klopft. Susi, die Sekretärin der Abteilung steckt den Kopf in sein Büro. Als sie ihn sah zog sie die Stirn kraus. „Alles in Ordnung Peter? Du bist ja weißer als die Wand hinter dir.“ Schnell versucht er eine unbekümmerte Miene aufzusetzen. „Alles in Ordnung. Ich habe heute nur was Falsches zum Mittag gegessen. Was gibt es?“ „Ich wollte dir nur einen schönen Feierabend wünschen. Ich hau jetzt ab. Ich habe Theaterkarten,“ Sagt sie und er erkannte in ihrem Blick, dass sie ihm seine Ausrede nicht abgekauft hatte. Aber darüber konnte er sich jetzt keine Gedanken machen. Er wünscht ihr viel Spaß und sie verschwand. In kürzester Zeit zog er den Schluss, dass er heute Abend in die Schrebergartensiedlung fahren musste. Er musste wissen, wer sein Geheimnis kennt, auch wenn er sich dafür sehr wahrscheinlich in Lebensgefahr begab.

 

Drei Stunden später sitzt er in der S-Bahn Richtung Wannsee. Es hätte angefangen stark zu regnen. Wie in einem typischen Psychothriller, denkt er.

 

Wenig später fand er sich am Gleis des Bahnhofes wieder. Er sieht auf seine Uhr „20:03“. Er steuert den Ausgang des Bahnhofes an. Nur wenige Meter dahinter erstreckten sich kilometerweit die Schrebergärten. Sein Puls beschleunigt sich. Es war jetzt fast 20 Jahre seit er das letzte Mal hier war. Augenscheinlich schien die Zeit hier aber still gestanden zu haben.

 

Er öffnet das Tor, welches den Eingang der Schrebergartensiedlung markiert. Noch immer regnet es in Strömen. Seine Schuhe waren bereits vollständig durchnässt und er spürt wie die Kälte ihm in die Zehen kroch. Um zu dem Schrebergarten 3a zu kommen, musste er dem Weg lange folgen. Und da war er dann. Unverändert. Seit 20 Jahren. Links neben dem Eingangstor befand sich ein kleines Display auf dem man den Code eingeben konnte, um Zutritt zum Garten zu bekommen. Er blickt erneut auf seine Uhr. Mittlerweile war es 20:22 Uhr. Er tippt, die ihm bekannte Zahlenfolge auf das Display „1-5-1-1“. Das Tor springt auf. Peter betritt den Garten und sieht sich um. Die Hecke, die den Garten umgab hatte angefangen zu wuchern auch von dem eigentlichen Gemüsebeet war nicht mehr viel zu erkennen. Auch der Laube sah man die Jahre an. Das Dach hatte an mehreren Stellen kleine Löcher. Es muss drinnen schrecklich aussehen, denkt er. Nicht, dass es damals sonderlich gepflegt worden war. Aber was will man auch erwarten, wenn sich 9 Jugendliche den Garten als Treffpunkt ausgesucht haben. Ein erneuter Blick auf die Uhr. 20:27 Uhr. Schon 5 Minuten stand er gedankenverloren im Garten. Peter hatte fest damit gerechnet hier jemanden anzutreffen, aber noch schien alles still, ja fast friedlich. Nach kurzer Überlegung öffnet er vorsichtig die Tür der Laube. Ihm kommt ein unangenehm fauliger Geruch entgegen. Instinktiv schiebt er seine Nase in seinen Ellbogen. Es war dunkel und soweit er sich erinnern konnte, gab es hier schon damals keinen Strom. Er zieht sein Handy aus der Hosentasche und öffnet die Taschenlampe. Er lässt das Licht durch den Raum gleiten. Überall hingen Spinnenweben, der Boden war durch die Nässe aufgequollen und überall lagen leere Bierflaschen. Er fragt sich kurz, ob es wohl noch die Flaschen von damals waren oder ob sich bereits neue Jugendliche den Garten als Treffpunkt zu Nutze gemacht hatten. Sein Blick fällt auf das zerfetzte Sofa. Er stutz. Das Sofa war nicht leer. Es sah so aus als würde dort jemand liegen. Sein Herz schlägt schneller. Er entdeckt neben sich eine dünne Holzleiste. Im Kampf würde sie ihm nichts bringen, das wusste er, aber in diesem Moment half es ihm sich an etwas zu klammern. Vielleicht hatte nur ein Obdachloser einen über den Durst getrunken und hatte sich dann in der Laube hingelegt, versuchte er sich zu beruhigen. Wie konnte es aber sein, dass er nichts hörte, außer seinen eigenen Atem, der immer schneller wurde. Mit langsamen Schritten geht er auf das Sofa zu. Mit jedem Schritt war er sich sicherer, dass es nichts Lebendiges war, was dort lag. Er beruhigt sich. Nur wenige Schritte vor dem Sofa gab die Taschenlampe preis, was dort lag. Es drehte ihm den erneut Magen um. Vor ihm liegt eine halbverweste Leiche. Er sah, dass sie einen Zettel um den Hals trug Auf den ersten Blick konnte John nicht erkennen, ob auf dem Zettel etwas stand. Er beugt sich leicht über die Leiche, dabei wird der unangenehme Geruch stärker. Endlich kann er entziffern, was auf dem kleinen Zettel steht: „Erkennst du mich?“. Im selben Augenblick spürte er warmen Atem in seinem Nacken. „Na, erkennst du sie?“ hauchte eine düstere Stimme und noch bevor Peter sich umdrehen konnte, traf ihn ein schwerer Gegenstand am Kopf und ihm wurde schwarz vor Augen.

 

Der Geruch von Rauch steigt Peter in die Nase, kurz bevor er wieder zu Bewusstsein kommt. Er kann weder Hände noch Füße bewegen. Er ist gefesselt. Sein Nacken schmerzt. Er sitzt auf einem Stuhl, der sich nicht besonders stabil anfühlt. Er richtet seinen Blick auf. Er ist in einem Wald, gefährlich nahe vor ihm brennt ein Lagerfeuer. Das helle Licht und der massive Rauch brennen ihm in den Augen.

 

„Na, Wespe bist du wach?“, fragt die Stimme, die ihn kurz vorher niedergeschlagen hatte. Ein Mann, der sehr südländisch aussieht, tritt vor Peter.  Peter sammelt alle seine Kraft „Woher kennst du diesen Namen?“ – schon seit Ewigkeiten hatte ihn niemand mehr so genannt.  „Woher ich diesen Namen kenne?“ stieß der junge Mann aus, „Ha, ich weiß alles über dich und deine dreckige Vergangenheit in dieser widerlichen Nazigruppe. Wie habt ihr euch genannt? Hitlers Bienen?“ Ja, so hießen wir, denkt Peter und allein bei dem Gedanken an seine Vergangenheit wurde ihm schlecht. „Hast du sie erkannt Bastard?“ Der Mann war jetzt nahe an Peter getreten. Peter erkennt die Wut und Verzweiflung in seinen Augen und in diesem Moment wird ihm bewusst, dass er der Mann ist, der heute Morgen das Telefon im Zug platziert hat. Er scheint also allein zu arbeiten, denkt Peter. Er wagt sich dem jungen Mann noch einmal genau ins Gesicht zu sehen. Das Gesicht sieht ihrem sehr ähnlich. Die Gedanken in Peter’s Kopf überschlagen sich. Schon beim ersten Blick auf die Leiche war ihm dieser Gedanke gekommen. Alia, denkt er und sein Herz fühlt sich an wie ein harter, grauer Stein. Leise flüstert er ihren Namen. „Ja, genau. Das ist oder besser gesagt war Alia. Du ekelhaftes Stück Dreck hast sie ermordet“ Der junge Mann spukt Peter ins Gesicht. „So war das nicht..“ versucht Peter sich zu verteidigen. Das Reden fällt ihm schwer, da die Schmerzen von seinem Nacken mittlerweile in den Kopf gekrochen sind. Er versucht sich zu konzentrieren. Er weiß, dass es jetzt es wichtig war, das Richtige zu sagen, wenn er nur einen Hauch einer Überlebenschance haben wollte. „Ich habe Alia geliebt..“, bringt Peter hervor und spürt wieder diesen Stich in seinem Herzen, wie jedes Mal, wenn ihm bewusst wurde, wie sehr er Alia geliebt hatte. Seinem Gegenüber entglitten alle Gesichtszüge. „Willst du mich verarschen?“ brüllt er. „Du willst sie geliebt haben? Du hast sie getötet. Du hast meine Schwester eiskalt getötet“ Peter schließt die Augen. Er war wieder in der Nacht als es geschah. Er war Mitglied einer sehr rechtsextremistischen Gruppierung gewesen. Sie gaben ihm Halt und waren für ihn so was wie eine Familie. Bis er Alia kennenlernte. Sie war mit ihrer Familie in das Wohnhaus von Peter gezogen und er hat sich sofort in sie verliebt. Nur hatte sie arabische Wurzeln und somit war es ausgeschlossen, dass seine Freunde, die Beziehung zwischen den beiden akzeptieren würden.  Trotz aller Steine, die den beiden im Weg lagen, war die Liebe stärker und sie führten heimlich eine Beziehung. Sie hat sich vor ihrer Familie versteckt und er vor seiner auserwählten Familie. Nur konnten sie das Geflecht der Lügen nicht lange aufrechterhalten. Schon bald fingen die lockeren Fäden an sich aufzulösen. Nur wenige Wochen nachdem sich die beiden verliebt hatten, waren seine Freunde sind hinter das Geheimnis gekommen und sie waren in ihrem kranken Wahn der Vorstellung verfallen, dass Alia Peter manipuliert haben musste. Niemals hätte sich ihr Freund sonst in eine Nicht-Deutsche verlieben können. Sie wollten Rache nehmen und sie zwangen Peter unter Folter, dazu ihnen dabei zu helfen.  Sie lauerten Alia abends auf, überfielen sie und verschleppten sie in einen Wald. Wenn sich Peter richtig orientierte, dann befand er sich in diesem Moment in dem gleichen Wald, wie damals. Seine Freunde wollten ihr nur eine Lektion erteilen, ihr zeigen, dass sie sich nicht in einen Deutschen zu verlieben hatte, dabei brachen sie ihr das Genick. Noch nie zuvor, war bei einer ihrer Aktionen jemand ums Leben gekommen. Peter weiß noch sehr genau, dass er in diesem Moment wie gelähmt war. Sein Kopf war völlig leer und er war nicht mehr imstande irgendwas zu machen.   Fast laienhaft haben seine Freund dann die Leiche von Alia im Wald verscharrt und versucht die Spuren zu verwischen. Bei der ganzen Aktion hatte Peter nur zugesehen. Aus Angst und Machtlosigkeit. Nach diesem Abend war er aus Berlin verschwunden und ist erst Jahre später wieder in die Region gezogen, bereit seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und neu anzufangen. Aber die ganze Zeit hatte er sich gefragt, warum nie ihre Leiche gefunden worden war. Ein Schlag traf ihm ins Gesicht. Der Schlag katapultierte ihn wieder in die Gegenwart. Nach all den Jahren sah Peter jetzt die Chance Antworten auf seine Fragen zu bekommen. „Wie kann es sein, dass die Polizei die Leiche nie gefunden hat?“ fragt er den jungen Mann. Und wie kann es sein, dass sie noch nicht vollständig verwest ist, fragte er sich in Gedanken, aber traute sich nicht diesen auszusprechen. „Ich nehme das selbst in die Hand. Den Bullen kann man nicht trauen. Ich habe alles selbst über dich herausgefunden. Und verdammt, du wirst dafür büßen.“ Der Mann zieht ein kleines Holzscheit aus dem Feuer und hält er an Peter’s Schuh. Dieser begann sofort zu glühen. Peter beißt sich auf die Innenseiten seiner Wangen, um einen Schrei zu unterdrücken. Er will keine Schwäche zeigen. Er musste Zeit gewinnen, wenn er sich aus dieser Lage befreien wollte. Er wusste, dass Alia’s Bruder keine Gnade kennen würde. Er versucht tief in den Bauch zu atmen, um irgendwie klare Gedanken fassen zu können. Er muss ihn davon überzeugen, dass er Alia nichts tun wollte und er unschuldig war. Peter schnaubt bei diesem absurden Gedanken. Unschuldig? Er war sicher nicht unschuldig und auch wenn er gerade Todesangst hat, wusste er, dass er eigentlich den Tod verdient hätte. Mittlerweile war seine komplette Sohle durchgebrannt und er spürte, wie seine Fußsohlen heiß wurden. Er schrie. „Halt dein Maul“ brüllt ihn Alia’s Bruder an und ohrfeigt ihn mit dem Holzscheit. Peter wimmert. Wangen glühten und er spürt wie sich die Brandwunde in seine Haut frisst. Die körperlichen Schmerzen konnten, aber die Schmerzen, die tief aus seiner Seele kamen, nicht überschatten. Tränen laufen ihm über sein Gesicht.

 

Plötzlich raschelt es in den umliegenden Büschen. Wahrscheinlich Wildschweine, denkt Peter und fand es gleichzeitig lächerlich, sich in seiner Situation darüber Gedanken zu machen. Das Rascheln wurde immer lauter und auch Alia’s Bruder hat es mittlerweile registriert und sieht sich verwirrt um. Diesen kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit nutzt Peter um sich mit letzter Kraft umzuwerfen, um wenigstens kurz die Brandwunde in seinem Gesicht auf dem nassen Waldboden zu kühlen. Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Von allen Seiten strömten Männer auf Peter und Alia’s Bruder ein. Seine Fesseln wurden gelöst und jemand flüstert ihm ins Ohr: „Lauf, du kleine Verräter-Wespe“. Peter sieht dem Mann, der noch immer mit dem Messer in der Hand neben ihm steht, erschrocken ins Gesicht, doch dieses war mit einer Maske in Form einer Biene verdeckt. Der Mann schenkt Peter nur noch einen kurzen Blick und stürzt sich dann wie die anderen auf Alia’s Bruder. Peter liegt immer noch auf dem Boden. Vorsichtig versucht er sich aufzurichten. Seine Beine schmerzen. So schnell, wie es sein Zustand zu ließ, flieht er in den Wald.

 

Seine Füße brannten, gleichzeitig kühlte der durchnässte Waldboden seine Brandwunden an den Fußsohlen. Sein Herz rast. Fast 20 Jahre lang hatte er keinen aus seiner alten Freundesgruppe gesehen. Wie konnten sie wissen, dass er heute von der Vergangenheit überrollt wird und warum hatten sie ihm das Leben gerettet. Ihm, der nach dieser schrecklichen Nacht ohne eine Nachricht gegangen war.

 

Stille. 52 Tage Stille. Seit 52 Tagen sitzt er in diesem kleinen Hotelzimmer in Frankreich. Seit 52 Tagen hatte ihn seine Vergangenheit wieder. Seit 52 Tagen fragt er sich, wer er ist. Er schaltet den kleinen Fernseher ein, der über sein Bett hing. Er wechselt die Sender so lang bis er einen deutschen Nachrichtensender fand. „Heute Morgen wurde die Leiche eines jungen Mannes arabischer Herkunft in einem Wald nahe Wannsee gefunden. Alles deutet auf Selbstmord hin. Nach ersten Erkenntnissen könnte der Mann sich aufgrund seines schlechten Gewissens umgebracht haben, da es scheint als hätte er vor vielen Jahren seine kleine Schwester ermordet. Die Schwester war lange als vermisst gemeldet und wurde nur wenige Kilometer von der Leiche des Bruders in einer Schrebergartensiedlung gefunden. Die Polizei teilte mit, dass die Familie der Geschwister schon öfter in Gewaltdelikten verstrickt waren und somit die Sachlage eindeutig scheint. Die Ermittlungen wurden eingestellt.“

 

Peter schaltet den Fernseher aus. Das Blut zweier unschuldiger Menschen klebt an seinen Händen. Sein Herz schmerzt. Er hat Alia geliebt, aber er wäre nicht bereit gewesen für sie zu sterben. Lange hat er sich eingeredet, dass er keine Wahl gehabt hätte, dass er sie nicht hätte retten können. Nun war er das erste Mal ehrlich zu sich. Er wollte sie nicht retten.

 

Er geht ins Badezimmer seines kleinen Hotelzimmers. Er holt einen elektrischen Rasierer aus seinem Kulturbeutel, schaltet ihn an und setzt in an seine Haare. Stück für Stück fallen die Haare zu Boden. Danach packt Peter seine Koffer. Bereit zurückzukehren. Zurück zu seiner Familie. Die Familie, die ich ihn gerettet hatte. Die Familie, die er nie wirklich zurückgelassen hatte.

 

 

 

One thought on “Stille

  1. Hallo Marie,
    Eine heftige Geschichte hast du dir da ausgedacht.
    Mein größtes Fragezeichen ist: wieso hat der Bruder Fotos von dem Abend gemacht, aber seine Schwester nicht gerettet und wieso ist die Leiche noch nicht verwest?

    Ich fand deine Geschichte sehr spannend, aber durch den ständigen Wechsel der Zeitformen wurde ich immer wieder unterbrochen. Du solltest dich hier auf eine Form festlegen, dann wird man dadurch nicht abgelenkt und kann sich besser auf die Geschichte einlassen.

    Wie du Anfang und Ende gestaltet hast und wie du den Titel einbezogen hast, finde ich ziemlich cool.

    Mach weiter so und viel Glück,

    Jenny /madame_papilio

    Wenn du noch Zeit für meine Geschichte hast, würde ich mich freuen: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/nur-ein-kleiner-schluessel

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