Ina2020Tausend Fotos

 

Dienstag, im April 2020 – Das Handy

 

 

Charly heißt eigentlich Charlotte. Die meisten nennen sie Charly nur ihre Eltern sagen Lotti zu ihr. Wenn sie sauer sind natürlich Charlotte. Sie trägt heute eine silbergraue Tunika mit schmaler schwarzer Hose, kurze, flache Lederstiefel und ihre ebenfalls schwarze Lederjacke. Wohlfühlklamotten. Sie summt die eingängige Melodie des 80er-Jahre-Hits, welcher aus der Mark-Levinson-Stereoanlage ihres Lexus dröhnt vor sich hin. Die bekannte Strecke durch die City bis zum Büro fährt sie wie in Trance. Corona macht‘s möglich, Arbeitstage nur mit administrativen Aufgaben in völliger Ruhe – kaum gestört durch das Telefon – zu erledigen. Seit 6 Monaten arbeitet Sie als Jobcoach für den besten Bildungsträger der Stadt. Kein eLearning, hier findet noch richtiger Unterricht mit kompetenten und sympathischen Dozenten statt. Seit 3 Monaten hat sie jetzt die Festanstellung, zwar befristet in der Probezeit, aber sie macht sich keine Sorgen. Läuft. Außerdem hat sie den weltbesten Chef, einen gutaussehenden Mitvierziger mit Humor.

 

 

 

Im Büro wird Charly allerdings nicht nur vom netten Vorgesetzten erwartet. Die Geschäftsführerin ist da, Frau Richter. In Erwartung einer weiteren Corona-Krisen-Sitzung kommt sie der Bitte der beiden nach und eilt mit Notizbuch und Stift zum Gespräch. Im Plauderton eröffnet das Management ihr nun, dass die Firma noch lange an den Folgen der Corona-Auflagen leiden wird und ihr Vertrag hiermit gekündigt wird, in der Probezeit, mit 14tägiger Frist. Die 2 Wochen kann sie den ihr zustehenden Urlaub nehmen. Als Verhandlungsprofi weiß Charly, dass sie jetzt ein existenzielles Problem hat; Stress, der alle Synapsen kappt. Sie ist sprachlos, was für sie Seltenheitswert hat. Na klar, nach Corona wird man – wie vor der Festanstellung auch – gern wieder mit ihr als Freiberuflerin zusammenarbeiten.

 

 

 

Wie betäubt findet sich Charly einige Minuten später an ihrem Rechner wieder. Zieht die Daten ihrer Klienten, die sie nach ihrem „Urlaub“ als freie Mitarbeiterin weiter coachen wird auf ihren privaten Stick, denn der Zugriff auf das Firmennetzwerk wird ihr ab morgen nicht mehr möglich sein. Registriert sich auf der Seite der hiesigen Agentur für Arbeit. Packt ihre privaten Sachen zusammen. Zwischendurch in der Mittagspause holt sie aus dem Lexus noch ein paar Einkaufstaschen, um das Nötigste mitnehmen zu können. Ihre Bücher wird sie später irgendwann holen.

 

 

 

Nachmittag. Ihr letzter Feierabend als pädagogische Mitarbeiterin des Unternehmens. Immer noch unter Schock verlässt sie die Firma, verstaut die Taschen im Auto und setzt sich auf die Bank am Rande des Parkplatzes. Ein schattiges Plätzchen, wie schön. Sie raucht eine ihrer E-Zigaretten, auf die sie letztes Jahr umgestiegen ist. Zum Abgewöhnen sozusagen. Neben ihr auf der Bank sitzt … ein Handy. Lag das eben schon da? Sieht aus wie ihres, nur in rot. Sofort schaut sie in ihre Tasche, ja, ihr iPhone hat sie dabei. Sonnengelb leuchtet es aus dem Krimskrams des Tascheninhaltes heraus. Das fremde Handy liegt einfach so da. Charly schaut sich um, vielleicht ist ja der Eigentümer noch irgendwo in der Nähe. Aber sie sieht niemanden. Dienstagnachmittag, die Stadt ist wie ausgestorben seit Inkrafttreten der Ausgangssperre.

 

 

 

Als ihr Handy klingelt sieht sie, dass Anne dran ist, ihre beste Freundin. „Hi Süße, dich schickt der Himmel. Ich bin gerade meinen Job los geworden. Scheiß Corona. Stehe total neben mir.“ Anne ist mindestens so entsetzt, wie sie selbst: „So ein Mist. Dabei haben wir doch gestern noch im Garten geschwärmt, wie perfekt es gerade trotz der Seuche alles so läuft!“ Charly seufzt. „Ja, menno, was soll ich jetzt bloß machen? Und neben mir liegt ein rotes Handy. Haha, rotes Telefon.“

 

Sie schaut auf das Handy und ist zum zweiten Mal an diesem Tag blass vor Entsetzen. Jede Farbe weicht innerhalb von Millisekunden aus ihrem Gesicht.

 

 

 

„Das iPhone hat gerade eine Nachricht bekommen.“ flüstert Charly. „Ja und? Wieso ist das so interessant?“ fragt Anne zurück. Charly schluckt. „Weil auf dem Sperrbildschirm ein Foto von mir und meiner Tochter ist. Das gleiche, welches ich auf meinem Sperrbildschirm hab.“ „OmG, wie gruslig. Was machst du jetzt damit? Bist du noch in der City? Bei deiner Firma oder besser gesagt Ex-Firma? Dann könntest du das Handy doch gleich mal zur Polizei bringen. Die Polizeidirektion ist doch ganz in der Nähe, 5 Minuten Fußweg.“ Charly denkt kurz nach. „Ok Süße, ich mach das mal. Melde mich später bei dir und berichte, wenn ich nach Hause komme.“ Zum Glück ist Anne nicht nur ihre Freundin sondern auch ihre Nachbarin.

 

 

 

Sie steckt ihr eigenes Handy ein und holt aus dem Auto ihre Stoff-Handschuhe und eine Tüte für das rote Telefon. Muss ja nicht sein, dass sie es anfasst und noch Fingerabdrücke darauf zurück lässt. Mit dem roten Handy in der Tasche fühlt sich selbige gleich 10 Kilo schwerer an.

 

Charly rennt über die Straße, nimmt die Abkürzung durch einen Hof und läuft zügigen Schrittes über den befahrenen Platz zur Polizeidirektion. Hier war sie gestern noch zur Chorprobe, weil sie Sopranistin im hiesigen Polizeichor ist. Der nette Pförtner, der immer Montagabend da ist, ist allerdings nicht da. Stattdessen ein unfreundlicher Typ, der sie anschaut, als wäre sie eine lästige Erscheinung. Er erklärt ihr auch gleich, dass sie hier falsch ist „Ein gefundenes Handy müssen Sie ins Fundbüro bringen!“ „Aber das Foto von mir…“ stammelt Charly. Der Polizeibeamte verliert langsam die Geduld.  „Haben Sie das mal in einem sozialen Netzwerk veröffentlicht? Ja? Dann hat sich jemand ihres Bildes bedient. Das kommt jeden Tag zigmal vor und ist erstmal keine Straftat. Bringen Sie das Handy ins Fundbüro. Hier ist die Adresse.“ Er schiebt ihr einen Flyer unter der Glasscheibe durch. Entgegen ihrer Gewohnheiten lässt sich Charly abwimmeln. Sie steckt die Tüte mit dem Handy wieder ein und läuft zurück zu ihrem Auto. Fährt nach Hause.

 

 

 

Zu Hause wird sie in der Gartenecke im Hof schon von Anne erwartet. Der Kaffee tut super gut und bei einer E-Zigarette versuchen nun beide gemeinsam, die Ereignisse des Tages zu verdauen. Schließlich sagt ja schon ein Sprichwort, dass geteiltes Leid halbes Leid sei und an dem Spruch ist offensichtlich was dran. Eine Stunde später zieht sich Charly in ihre Wohnung zurück, füttert ihre beiden Katzen und wechselt die Kleidung. In Zeiten von Corona kann man nicht vorsichtig genug sein. Outdoor-Kleidung wird täglich gewechselt und kommt in die Wäsche. Sie zieht sich in ihren Zuhause-bequemen-Look mit einem Salamibrot auf die Couch zurück. Die Tüte mit dem fremden Handy liegt auf dem Tisch. Vorsichtig öffnet Charly die Tüte und lässt das Telefon auf den Tisch gleiten. Sie nimmt es in die Hand als wäre es ein zerbrechliches Gut. Wischt über das Display in alter Gewohnheit und … es öffnet sich. Ihre Face-ID funktioniert auf einem fremden Handy? Wie geht das denn? Neugierig öffnet sie die Foto-App. 1.224 Fotos. Von ihr. Mit ihren Eltern, ihren Töchtern, fast alles Fotos, die sie auch auf ihrem Handy hat. Aber nur drei oder vier davon hat sie mal im Netz gepostet. Beim genauen Hinsehen entdeckt Charly allerdings auch jede Menge Fotos, die sie nicht selbst gemacht hat. Heimlich geschossen. Sie vor ihrem Rechner im Büro, sieht aus, wie mit der Webcam gemacht. Sie zuhause im Wohnzimmer, abends. Erschrocken zieht sie gleich mal spontan die Gardinen zu. Das hätte sie mal vorher machen sollen. Wohnen im Erdgeschoss hat eindeutig nicht nur Vorteile.

 

 

 

Doch das Telefon birgt noch mehr Überraschungen, u. a. eine App bei einem Singleportal mit ihrem Profil. 32 Nachrichten. Nein danke, die liest sie jetzt lieber nicht.

 

 

 

Am Ende des Tages stellt sie sich folgende Fragen; Wieso lag das Handy nach Feierabend auf der Bank in der Nähe ihres Autos? Warum lässt sich das iPhone mit ihrer Face-ID öffnen? Und nicht zuletzt; Wer hat da so ein abartiges Interesse an ihr? Sie ist Mitte Fünfzig, etwas pummelig, blond, Brillenträgerin. Kein Promi, keine Schönheit, nicht reich. Also was soll das alles? Wieso betreibt jemand einen solchen Aufwand, um sie zu schockieren und zu verunsichern? Sie redet sich ein, dass sie ganz gelassen ist und verbannt das Handy in die unterste Schublade ihres Sideboards. Das Rätsel lässt sich jetzt nicht lösen.

 

 

 

Einige Sekunde zieht sie in Erwägung, sich ihrer Tochter Julia, die ältere ihrer beiden Mädchen anzuvertrauen. Julchen ist Informatikerin, vielleicht könnte sie ihr helfen. Aber nein, sie möchte niemanden aus der Familie in dieses Desaster hinein ziehen.

 

 

 

Sie kuckt auf YouTube das Video 10.000 Fotos von Harald Pons und beschließt danach, diesen Tag zu beenden.

 

 

 

Charly verbringt eine unruhige Nacht im Halbschlaf, auf jedes Geräusch hörend. Heute beruhigt sie nicht einmal das sonore Schnurren ihrer beiden Birmchens, die es sich auf dem Kopfkissen neben ihr zum Einschlafen gemütlich machen. Die Wohnungstür hat Charly doppelt verriegelt und doch fühlt sie sich nicht sicher.

 

 

 

Mittwoch – Das Netzwerk

 

 

 

Ohne Job zu sein hat nicht viele Vorteile. Eigentlich nur einen, den des Ausschlafens. Jedoch auch ohne den gestellten Wecker ist Charly schon vor ihrer normalen Zeit des Aufstehens wach. Unausgeschlafen wankt sie in die Küche und macht Kaffee. Routiniert füttert sie die beiden Katzen, schiebt das Brötchen zum Aufbacken in den Ofen und stellt im Wohnzimmer den Fernseher an. Während sie sich von den Nachrichten des Frühstücksfernsehens berieseln lässt checkt sie auf ihrem Handy die eMails. Alles wie immer. Nichts deutet darauf hin, dass sich so dunkle Wolken über ihr zusammenziehen. Das rote Telefon lauert im Sideboard, gut weg gepackt.

 

 

 

Charly reflektiert kurz die letzten 24 h. Gerade noch war ihr Leben in allerbester Ordnung und plötzlich bricht das Chaos aus; Job weg, dafür das Handy eines perversen Stalkers in der Schublade. Läuft. Zwar rückwärts und bergab, aber immerhin. Selbst für jemanden, der proaktiv mit Konflikten umgeht ist die Situation bedrohlich. Ihr Spiegelbild im Badezimmer trägt auch nicht gerade zur Erheiterung bei. Charly findet, dass sie ziemlich verkatert aussieht. So ganz ohne Party ist das echt übel. Sonst wüsste sie wenigstens, wieso sie so schlecht aussieht.

 

 

 

Während des Frühstücks überlegt sie, wer sich mit einer solchen Situation wie ihrer auskennt, an wem sie sich wenden könnte. Ihr fällt Jens ein, der prominente Kriminalpsychologe, bei dem sie 2008 als Mediatorin ein Seminar zum Thema Amokprävention an Schulen gemacht hat. Ist 12 Jahre her und sie zweifelt ein bisschen daran, dass sie einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen hat. Aber egal, sie hat seine Kontaktdaten in ihrem iPhone und ruft ihn kurz entschlossen an. Tatsächlich erinnert er sich natürlich nicht an sie. Und doch hat sie Glück, er ist Corona-bedingt im Homeoffice und hat tatsächlich Zeit und Lust, mit ihr zu sprechen. Was sie erfährt macht sie trotzdem nicht froh; jährlich gibt es in Deutschland 27.000 gerichtsanhängige Fälle von Stalking. Nur 10 % aller Fälle schaffen es allerdings bis vor Gericht, demzufolge hoch ist die Dunkelziffer. Von diesen 27.000 potenziellen Tätern werden allerdings nur ca. 400 wirklich verurteilt. Dabei ist das Anti-Stalking-Gesetz, welches es seit 2007 gibt, an dem Jens damals mit gearbeitet hat wirklich gut. Gibt eine Grundlage für die Verurteilung der Täter. Aber die Beweislast liegt bei den Opfern und meistens reicht selbige leider nicht aus. Der Rat vom Profi, den Charly aus dem Telefonat mitnimmt ist ein Stalking-Tagebuch zu führen. „Aber wieso das denn? Ich hab doch das Handy.“ wendet Charly ein und muss sich anhören, dass es vermutlich dabei nicht bleiben wird. „Wie kann ich diesen gerade begonnenen Albtraum denn beenden?“ hakt sie verzweifelt nach. Jens setzt sie ins Bild „Nur indem dein Stalker konfrontiert wird mit einem gleich starken oder stärkeren Gegner als er selbst wird der Täter aufhören. Also such dir Verbündete. Und halte durch.“ Sie verabschieden sich und Charly verspricht, ihn auf dem Laufenden zu halten.

 

 

 

Ok, das war jetzt erstmal ein Anfang, wenn auch kein guter. Wo soll sie denn jetzt einen starken Partner her nehmen? Charly denkt an ihren Ex, den sie letztes Jahr in die Wüste geschickt hat. Unmittelbar nachdem er angefangen hat, immer mehr seiner Freizeit mit einer 20 Jahre jüngeren Freundin zu verbringen. Torsten, der Depp. Der Gedanke an ihn hebt ihre Laune nicht wirklich. Aber könnte er vielleicht der Stalker sein? Sich rächen wollen an ihr, weil sie sich so unsanft von ihm getrennt hat? Aber nein, Charly verwirft die Idee wieder; von der Freundin seines Kollegen weiß sie, dass Torsten sich ziemlich schnell getröstet und wieder neu verliebt hat.

 

 

 

Also was kann sie jetzt tun? Sie scrollt durch ihre Kontaktliste. Bei C wird sie fündig. Sandra C., sie hat sie kennen gelernt vor ca. einem Jahr auf der Buchvorstellung eines Freundes. Sandra war Mitautorin eines Buches über Lebenswege von Menschen, die sich einer Mission verschrieben haben. Die ehemalige Kriminalkommissarin hat in Berlin eine Firma gegründet, um in Fällen von Stalking den Betroffenen helfen zu können und natürlich auch um präventiv dagegen unterwegs zu sein.

 

Charlys nächster Anruf gilt Sandra. Auch sie nimmt sich Zeit, fragt nach, gibt Tipps, bietet Hilfe an bis hin zum Personenschutz falls erforderlich. Und ja, sie würde ihr auch einen Freundschaftspreis machen.

 

 

 

Nachdem das Telefonat beendet war checkt Charly ihre Möglichkeiten. Trotz des preislichen Entgegenkommens von Sandra würde Recherche und ihr Schutz sicher auf eine knapp vierstellige  Investition hinaus laufen. Unglücklicherweise war vor der Corona-Krise schon Charlys persönliche Finanzkrise da und durch den Verlust ihres Jobs hat sich die Lage noch verschärft. Schlechtes Timing für eine Investition, selbst wenn diese noch so sinnvoll scheint.

 

Inzwischen ist es Nachmittag geworden und Anne hat per WhatsApp gerade nachgefragt, ob sie Zeit und Lust für einen Kaffee im Hof hat. Und ob. Charly wirft sich die erstbeste Strickjacke über und schnappt sich die eZigarette für einen Plausch mit Anne.

 

 

 

Draußen scheint die Sonne und in Kombination mit der gut gelaunten Anne ist das die perfekte Grundlage für einen gemütlichen Nachmittag unter Freundinnen. Sie plaudern und lachen und rätseln, was es mit dem roten Handy auf sich hat. Charly schwört jeden Eid, die Mails auf dem Singleportal nicht zu öffnen.

 

 

 

Abends überlegt sie wieder, wie es weiter gehen soll. Vielleicht war die Idee von dem Polizeibeamten gar nicht so übel? Wenn Charly das iPhone im Fundbüro abgeben würde, wäre sie es zumindest los. Aber dann läuft draußen trotzdem noch ein Irrer rum, einer, der Fotos von ihr macht und ihre Webcam auf dem Firmenrechner gehackt hat. Ob ihre Kollegen aus der IT-Abteilung herausfinden können, wer der Hacker ist?

 

 

 

Diese Nacht schläft Charly wieder wesentlich besser. Denn sie hat nun einen Plan.

 

 

 

Donnerstag – Resilienz; Wie Phönix aus der Asche?

 

 

 

Am Donnerstag während des Frühstücks fasste Charly den Entschluss, dass sie jetzt erst einmal etwas für sich tun muss. Schade, dass die Schwimmbäder gerade geschlossen sind. Ein paar Bahnen im lauwarmen Wasser zu ziehen hat für sie in Situationen, in denen sie top Ideen brauchte immer eine sehr inspirierende Wirkung. Ersatzweise entscheidet sich Charly für einen Spaziergang an der Elbe, die gerade 5 min Fußweg von ihrer Wohnung gelegen dazu einlud.

 

 

 

Unterwegs überlegte sie, was ihr in der Vergangenheit in schwierigen Zeiten geholfen hat. Nach dem Tod ihres Mannes zum Beispiel hat ihre Familie sie unterstützt. Ihre Eltern waren für sie da und sind auch immer eingesprungen, wenn sie einen Babysitter für ihre damals noch winzige, drei Monate junge Tochter gebraucht hat. Das unterstützt die These der Glücksforscher, die in umfangreichen Studien herausgefunden haben, dass der Mensch nur die drei großen G’s braucht, um glücklich zu sein; Gesundheit, Gemeinschaft und Geld. Bis auf ausreichend Liquidität hat sie also alles. Das ist doch ein wunderbarer Anfang.

 

 

 

Wie machen andere das, wie Phönix aus der Asche aufzusteigen und an Krisen zu wachsen? Wie besiegt man die Angst? Charly fällt der isländische Farmer ein, welchen sie auf einer Urlaubsreise mit Anne 2011 kennenlernte. Olafur Eggertsson, der Farmer, der zum Helden wurde. Er wohnt am Fuße des Ejavöllajölkulls und hat beim Ausbruch des Vulkans 2010 im wahrsten Sinne Haus und Hof verloren. 2011, ein Jahr danach zeigte er ein Video über das entsetzliche Naturschauspiel. Er erzählte Charly und Anne, dass er nur die Leben seiner Familie, seiner Mitarbeiter und seiner 200 Tiere retten konnte. Alles andere, sein Lebenswerk mehrerer Jahrzehnte war verloren. Das Video hatte er übrigens auch selbst gedreht und Charly fragte ihn, wo er die Gelassenheit dafür hergenommen hat. Daraufhin schaute er seine Frau, die er im Arm hatte, verliebt an und meinte, dass Aufzugeben keine Option war. Im Gegenteil; er hatte überlebt und er sah es als Zeichen. Er sammelte die Vulkanasche von seinem Land, lagerte sie in riesigen Silos und düngte seine Felder damit. Plötzlich wuchsen Pflanzen, die nirgendwo sonst auf Island gedeihen. Raps zum Beispiel, aus dem er jetzt Öl herstellt. Mittlerweile beliefert er ganz Island mit seinem Rapsöl und hat damit ein florierendes Business aufgebaut. Er wird von den Isländern als Held gefeiert.

 

 

 

Diese Geschichte hatte Charly schon einige Male Klienten erzählt, die z. B. nach 20 Jahren durch eine Standortverlegung ihre Jobs verloren haben. Jetzt erinnert sie sich daran und nimmt sich vor, auch nicht aufzugeben.

 

 

 

Am Abend lud sie das rote Telefon auf. Nicht, dass dem Beweisstück am Ende noch die Energie aus geht. Obwohl, das wäre vielleicht auch eine Lösung. Ausgegangen und vergessen in der Schublade. Was wird der nächste Schritt ihres Stalkers sein?

 

 

 

Freitag – Das Geschenk

 

 

 

An das gemütliche Frühstück morgens könnte Charly sich glatt gewöhnen. So ganz ohne Zeitdruck in den Tag zu gehen hat was.

 

 

 

Als es am Vormittag klingelt schaut sie kurz aus dem Fenster, ob sie das DHL-Lieferauto sieht. Sie näht gern, ihr neues Hobby und hat erstmals Stoffe online bestellt, weil ja die Geschäfte zu sind. Nun ist sie mordsmäßig gespannt darauf, wie die Qualität ist. Stoff muss berührt werden und sich wunderbar anfühlen. Das ist über eine Website nicht möglich, daher wird es eine Überraschung sein. Aber draußen steht das DHL-Fahrzeug nicht. Wer könnte das sonst sein?

 

 

 

Charly öffnet die Tür und sieht einen bunten Rosenstrauß und eine Flasche ihres Lieblings-Champagners vor sich. Dazwischen schaut ein junger Mann heraus und begrüßt sie mit „Hi Mom!“ Mit weichen Knien erkennt Charly Marc, ihren Mann. Sie hat Fotos von ihm aus jungen Jahren, genauso sah er mit 20 aus. „Kann ich dich umarmen?“ fragt der junge Doppelgänger. Oh mein Gott, diese Stimme. Charly bricht in Tränen aus und nickt. Ihr fällt ein, dass sie noch immer an der Wohnungstür stehen und jetzt macht er tatsächlich einen Schritt auf sie zu. Umarmt sie kurz, so gut das mit den Blumen und dem Champagner in der Hand halt geht. Sie macht einen Schritt rückwärts und bittet ihn in ihr Domizil. Stammelt noch „Öhm, ich war auf Besuch nicht vorbereitet, kuck dich nicht so um…“ obwohl es eigentlich ganz aufgeräumt aussieht. Aber man weiß ja nie. Er drückt ihr die Rosen in die Hand und folgt ihr in die Küche, wo sie mechanisch erst nach einem Taschentuch, dann nach einer Vase greift. Es trifft sich gut, dass der Champagner gekühlt ist. Sie nimmt zwei Sektgläser und die Flasche und bittet ihn, ihr ins Esszimmer zu folgen.

 

 

 

„Mein Name ist Simon Heubaum“ beginnt er seine Geschichte zu erzählen. „Als Teenager fiel mir auf, dass ich meinen Eltern nicht wirklich ähnlich bin und als wir in Bio einen Blutgruppentest für Blutspenden machten kam heraus, dass ich mit ihnen auch nicht wirklich biologisch verwandt bin. Ich habe Fotos von meiner Mutter gesehen, die aufgenommen wurden, als sie mit mir schwanger war und konnte mir keinen Reim darauf machen. Also habe ich meine Eltern solange genervt, bis sie mir erzählt haben, dass sie sich 1998 für eine Embryonenspende entschieden hatten. Das war damals in Europa noch nicht üblich oder möglich. Deshalb sind sie dafür in die USA geflogen.“ Simon machte eine Pause und Charly ergänzte „So kamen sie in das Pacific Fertility Center in San Francisco“. „Ja, genau“ bestätigte Simon. „Meine Mutter hat sich drei Embryonen einsetzen lassen und am 19. Januar 1999 kam ich zur Welt. Ich bin in Berlin aufgewachsen und nachdem ich herausgefunden hatte, dass meine Eltern nicht meine biologischen Eltern sind, wollte ich natürlich wissen, wer meine echten Eltern sind und wie sie sind und überhaupt. Als ich volljährig war, begann ich mit der Recherche und es hat fast drei Jahre gedauert, bis ich die Information hatte. Meine Eltern hatten damals nur Fotos von euch gesehen und wussten, dass ein Arzt und eine Krankenschwester die Spender waren. Die Amis haben ja andere Gesetze und es war nicht einfach, den damaligen Chefarzt ausfindig zu machen. Noch schwieriger ist es gewesen, von ihm dann die entsprechenden Daten zu bekommen. Dich dann zu finden hat allerdings nur 5 Minuten gedauert. Du bist ja im Netz echt ziemlich präsent. Und ja, das rote Handy ist von mir.“

 

 

 

„Das ist eine ziemlich besch… ungünstige Art, Kontakt zu mir aufzunehmen. Hast du mich heimlich fotografiert? Ein Profil für mich bei Thinder angelegt und meine Webcam im Büro gehackt? Warum? Eine einfache WhatsApp oder ein Anruf wäre auch gegangen. Oh mein Gott…“ Charly ist völlig aufgelöst und sucht nach Worten.

 

 

 

„Ja, das stimmt zwar, aber ich wollte dich einfach erstmal aus der Ferne kennenlernen. Und ich fand, trotz deiner 4.500 Facebook-Freunde bist du einfach zu oft allein. Immer nur mit Anne zusammen. Lass uns darauf anstoßen, dass ich dich gefunden habe. Und dann erzählst du mir alles, ok? Wie kam es dazu, dass ihr eure Embryos gespendet habt? Außerdem interessiert mich natürlich auch, wo mein Vater also dein Mann ist. Habe ich noch Geschwister?“

 

 

 

Nach dem ersten Schluck Champagner sprudelt es aus Charly heraus, ihre Geschichte, darüber, wie sie mit ihrem Mann zusammengekommen ist. Sie waren damals Anfang der 90er beide noch verheiratet, allerdings nicht miteinander. Charly hatte schon eine Tochter, die damals 8 war und auch Marc, ihr Mann hatte schon zwei Töchter aus seiner ersten – ansonsten ziemlich lieblosen – Ehe.

 

Nachdem sie zwei Jahre befreundet waren und inzwischen beide geschieden passierte es, dass nach tausendmal berührt ihre Beziehung zueinander sich veränderte und sie sich heftig ineinander verliebten. Sie lebten und arbeiteten zusammen, Charly als Krankenschwester in seiner Landarztpraxis. Die Patienten mochten sie und die kleine Patchworkfamilie wuchs zusammen. Als sie eines Tages ein gemeinsames Kind wollten stellte sich heraus, dass es bei Charly gynäkologische Probleme gab und so kamen sie zu Dr. Zouves nach San Francisco. Von den 21 Embryonen wurden drei eingesetzt und 9 Monate später wurde ihre gemeinsame Tochter Sarah geboren. Deine Schwester.“

 

 

 

„Das Mädchen auf den Fotos mit dir? Ich dachte mir das schon. Sie sieht mir voll ähnlich oder?“ fragt Simon nach. „Wo ist sie? Kann ich sie kennenlernen?“

 

Charly lachte. „Vielleicht. Bestimmt. Sie studiert Mathe in Kaiserslautern und schreibt gerade ihre Bachelor-Arbeit. Sie weiß, dass sie vielleicht noch Geschwister hat und natürlich werden wir sie fragen. Du hast auch noch eine Halbschwester, Julia.“

 

 

 

„Great, die würde ich auch gern kennenlernen. Was ist nach der Geburt von Sarah passiert? Wo ist mein anderer Vater? Weißt du, ich war eigentlich zuerst voll sauer auf euch und hab mich gefragt, wie ihr es übers Herz gebracht habt, eure Babys bzw. Embryos zu spenden – also wegzugeben.“

 

 

 

„Wir haben mit der Klinik einen Vertrag gemacht. Bestandteil von diesem war auch eine Klausel, die besagte, was mit den restlichen 18 Embryos werden soll, falls einem von uns oder beiden etwas passiert. Da gab es drei Möglichkeiten; entweder sie sollten vernichtet werden, der Wissenschaft zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden oder eine Embryonenspende für andere kinderlose Paare. Wir hatten in der Klinik auch einige andere deutsche Pärchen kennen gelernt und entschieden uns so für die dritte Möglichkeit. Wir waren uns sicher, dass – falls uns wirklich etwas passiert – die Babys bei Eltern, die sich so dringend Kinder wünschen, dass sie so einen Weg gehen, wunderbar behütet aufwachsen würden. Leider ist mein Mann tatsächlich drei Monate nach Sarahs Geburt tödlich verunglückt.“

 

 

 

„Oh, das tut mir leid“ antwortet Simon. „Ich hätte ihn gern auch kennengelernt.“ Charly schluckt. „Ja, das wäre toll, ist wirklich sehr traurig. Marc hätte sich bestimmt riesig gefreut, dich zu sehen. Er hat immer gesagt, dass er nur Mädchen kann, smile. Ich habe in den letzten 20 Jahren gelernt, ohne ihn zu leben. Aber ich träume manchmal heute noch von ihm. Aber erzähl mir doch bitte endlich bisschen was von dir. Wie bist du groß geworden? Welche Hobbys hast du? Wofür interessierst du dich so?“

 

 

 

Simon erzählt; von seinen Eltern, die beide Lehrer sind, aber einen gesunden Humor haben, davon, dass er als Kind Fußball gespielt hat und ihm das Lernen leicht gefallen ist und von seinem Medizinstudium in Berlin, was ihm alles abverlangt. Er hat wenig Zeit für Hobbys, aber die Tage auf den Spuren seiner Herkunft mussten jetzt einfach sein. Charly will wissen, wie er das gemacht hat, dass sie das Handy mit ihrer Face-ID öffnen kann und er gibt zu, ein Foto von ihr auf Originalgröße kopiert zu haben. Nach dem Champagner bestellen sie sich Pizza und reden, reden, reden. Sie entdecken Gemeinsamkeiten und finden Unterschiede und wissen genau, dass sie in Verbindung bleiben wollen. Eine seltsame Vertrautheit unter Fremden, die beide verlegen macht. Aber sie schmieden gemeinsame Pläne; Simon wird seine Schwestern kennenlernen und Charly ganz sicher auch seine Eltern. Das Geheimnis ist keins mehr und die Familie wird größer. 

 

One thought on “Tausend Fotos

  1. Hallo Ina

    Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen.
    Du hast definitv Talent.
    Sie hat mich gefesselt und berührt.
    Danke für viele schöne Momente.

    Man merkt und spürt, dass du dir viele Gedanken bezüglich des Aufbaus gemacht hast. Bezüglich der Protagonisten.
    Kompliment.

    Das Ende war gut, und ich persönlich fand es überraschend und super.

    Die Handlung war nachvollziehbar und schlüssig.
    Du hast deinen ganz eigenen Stil.
    Das bewundere ich.

    Arbeite an dir, lass deine Geschichten immer von einer weiteren Person gegenlesen, und bitte….. schreib weiter.

    Vielleicht halte ich irgendwann ein Buch von dir in meinen Händen.

    Das hättest du verdient.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen. Sie heißt “Die silberne Katze” .
    Über einen Kommentar oder ein Like würde ich mich sehr freuen.
    Danke dir.
    Pass auf dich auf.
    Swen Artmann

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