Loreen BartleÜbergossenes Leben

 

Sag, bist du glücklich? In diesem Moment, wo du dein Kind lachend in eine Umarmung ziehst, sag, denkst du vielleicht unterbewusst daran was du mir angetan hast? Zerfrisst dich dieses Wissen von innen heraus? Dein Vater steht neben dir. Er trägt einen Anzug und hat einen seligen Gesichtsausdruck. Dennoch weiß ich, dass er einer dieser Menschen ist, die glauben, sie könnten sich alles erlauben. Sein Blick wandert zur mir und verweilt so lange auf meinem Gesicht, dass es schon fast unangenehm wird. Spürt er auf einer komischen Art und Weise, dass ich derjenige sein würde, der seine Familie für immer entzweien wird?

 

Endlich wendet er sich ab und ich hole ein vergilbtes Bild aus meiner Hosentasche. Es ist ein Familienporträt. Eines von der Sorte, die man seinen Verwandten schickt, um zu zeigen, was für eine perfekte Familie man ist. Drei Personen sind auf dem Bild zu sehen. Mutter, Vater und Kind. Eine kleine Bilderbuchfamilie. Die Frau hält das schüchtern lächelnde Kind an der Hand, während der Vater mit einem strahlenden Lächeln die Hand auf die Schulter seiner Frau gelegt hat. Alles in diesem Bild schreit nach „Wir sind völlig normal“. Ich weiß jedoch ganz genau, dass sie es nicht waren. Jeder hat seine Leichen im Keller und ich würde alles daran setzen, dass diese das Licht der Welt erblicken. Du gehst nun langsam mit deiner Familie zurück in dein wunderschön hergerichtetes Heim. Deine Tochter springt fröhlich lachend neben dir her, während du selbst wie immer überglücklich bist, dass du sie hast. Sie ist dein einziger Lichtblick, oder?  Ihr geht an mir vorbei. Kurz schaue ich hoch und hege die kleine Hoffnung, dass du mich erkennst, doch wie erwartet tust du es nicht. Stattdessen wirfst du mir einen leicht angewiderten Blick zu. Du glaubst, ich sei nur ein herumlungernder junger Mann, oder? Oder ist es doch meine Herkunft?  Aber warum um alles in der Welt hast du mich nur vergessen?

 

Eigentlich ist es auch egal. Als ihr weg seid, schaue ich nochmal die Frau auf dem Bild genauer an und anschließend nochmal zu der Frau von eben. Sie ist es tatsächlich… es wird Zeit, dass auch dich deine Vergangenheit wieder einholt.

 

Maria

 

Drei Wochen schon sind vergangen, seitdem ich das Buch in der Bücherei vorgemerkt habe. Oft lese ich romantische Bücher, welche, bei denen man schmunzelt, weil es so kitschig ist. Ich brauche diese Idylle im Vergleich zu meiner Arbeit im städtischen Blumenladen, wo mir meine Kunden eigentlich jedes Mal ihre eigene Geschichte zu den Blumen, die sie bei mir holen, erzählen. Von einem Heiratsantrag bis hin zu dem geliebten Opa der gestorben ist, sie alle kommen irgendwann zu mir.

 

Leicht lächelnd betrete ich kurz darauf die Bücherei. Ich möchte gerade zur Begrüßung ansetzen, als mir auffällt, dass etwas anders ist. Nicht die Frau mit dem aschblonden Haar, das ich so beneide, sondern ein junger Mann sitzt nun vor dem Computer. „Hallo. Ich bin Maria Seifert! Ich bin hier wegen des vorgemerkten Buches!“ Doch er schaut mich eine Weile einfach nur mit einem intensiven Blick an und wendet sich dann dem Computer zu. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, aber woher? Ich habe nie Kontakt zu Menschen seiner Herkunft. Dann aber beginnt er aus dem nichts lautlos zu lachen und holt das Buch aus einem der Schränke.

 

Mit einem perplexen Blick nehme ich das Buch an. Kopfschüttelnd drehe ich ohne eine Verabschiedung um und verlasse den Laden. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass ich irgendetwas übersehen habe. Nur was?

 

Zuhause angekommen setze ich mich auf meinen beigefarbenen Sessel und schlage das Buch auf. Sofort fällt mir ein kleiner Zettel auf, der mit Hilfe von Klebeband auf die erste Seite geklebt wurde. Normalerweise hätte ich ihn einfach ignoriert, doch auf diesem kleinen unscheinbaren Zettel steht in kleinen, aber fein säuberlich geschriebenen Buchstaben „Lauf nicht mehr weg.“  Neugierig reiße ich das dünne Papier ab und beäuge dessen Rückseite, die von Anfang an etwas durchschimmert.

 

 „Schau in deinen Briefkasten.“

 

Nicht mehr und nicht weniger. Keine Unterschrift. Nur diese vier Wörter, die mir aber schon jetzt die schrecklichsten Gedanken durch meinen Kopf gehen lassen. Ist das ein schlechter Scherz? Langsam stehe ich von meinem Sessel auf und ziehe meine dünne Strickjacke eng um mich. Vor der Haustür angekommen schaue ich mich kurz um, auch wenn eigentlich klar ist, dass niemand auffälliges dort stehen würde. 

 

Ich habe wirklich viel erwartet, doch ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass ein altes Handymodell ohne jegliche Verpackung dort liegen würde. Ich nehme es an mich und gehe schnell hinein. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagt mir, dass Judy erst in einer Stunden von der Schule zurückkommt. Genug Zeit also, um das Handy genauer zu betrachten.

 

Es ist ein sehr altes Modell einer unbekannten Marke, dennoch spüre ich eine komische Verbindung zu diesem Handy. Es kommt mir bekannt vor, obwohl ich mir sicher bin, dass ich es noch nie zuvor gesehen, geschweige denn benutzt habe. Schließlich beginne ich wahllos auf irgendwelche Tasten zu drücken in der Hoffnung, dass es sich irgendwie anschaltet. Tatsächlich. Plötzlich beginnt der kleine Bildschirm zu leuchten und ich zucke ungewollt zusammen. Eine ganze Zeit passiert nichts und ich starre einfach nur auf den vorinstallierten Startbildschirm. Gerade als ich das Handy einfach weglegen will, fällt mir auf, dass eine ungelesene SMS auf dem Telefon ist.

 

„Gehe auf die Galerie und schaue dir das Foto dort an.“

 

Ich lese mir die Nachricht mehrfach durch und frage mich zunehmend, welches Ziel der Unbekannte damit verfolgt. Dennoch wähle ich mit leicht schwitzigen Händen die Galerie aus.

 

Erst ist es ganz still, doch dann hallt ein spitzer Schrei durch das gesamte Haus.

 

Aus etwas vollkommen Harmlosen wurde ein Objekt des Grauens. Das Telefon droht mir aus der Hand zu fallen. Dabei ist auf dem Bild gar nicht so viel zu sehen. Ich kann mich gar nicht mehr an so viele Dinge erinnern, aber ich weiß nur noch, dass ich hastig zurück zu meinen Eltern gezogen war, weil ich mich von meinem Ex-Freund getrennt hatte. Doch etwas auf dem Bild stimmte nicht mit meiner Erinnerung überein. Das ist es, was mir solche Angst bereitet.

 

Zu sehen ist ein weißes blutverschmiertes Kleid, sowie mein vor Wut verzerrtes Gesicht. Unbändige Wut mit einem Hauch von Mordlust. Das ist wohl das Wort, dass meinen Zustand auf dem Bild am besten beschreibt, doch in meiner Erinnerung habe ich einfach nur meine Koffer gepackt und bin zu meinen Eltern gefahren… Was ist nur passiert? Das Bild muss doch gefälscht sein.

 

Überfordert lasse ich mich auf meinen Sessel fallen, als erneut das Handy vibriert. Fast schmeiße ich es einfach in irgendeine Ecke, doch als das Handy kurz darauf ein zweites Mal vibriert, bin ich zu aufgeregt und öffne die Nachrichten mit klopfendem Herzen.

 

„Das war die Nacht die unser Leben verändert hat… erinnerst du dich daran, wie du uns mit einem Schlag die Lebensfreude genommen hast?“

 

„Ich will, dass du endlich gestehst, Veronika. Ich will, dass dein Leben genauso zerstört ist wie meins.“

 

Gestehen? Was sollte ich denn gestehen? Woher wissen diese Personen von meinem verhassten Zweitnamen? Ich fahre mir durch die Haare und überlege, was ich jetzt am besten tun könnte. Die Polizei zu rufen wäre jetzt die erste Option, die mir einfällt, doch wohlmöglich werden sie es genauso wie ich für einen schlechten Scherz halten. Ich klammere mich an die naive Vorstellung, dass es mich wirklich nicht betrifft und lege das Handy weg. Ein Scherz, ja, das wird es wohl sein.

 

Er

 

Ich starre auf mein Handy und überlege wie du wohl reagiert hast, als ich dir das Foto gezeigt habe. Hattest du Angst, als du nicht einordnen konntest, woher das Bild stammt? Ich kann mir gut vorstellen, dass du dich auf dein Bett geschmissen und gehofft hast, dass das alles nur ein schlimmer Albtraum ist. Aber keine Sorge, es wird noch schlimmer.

 

 Du hast bestimmt schon überlegt, das Handy einfach zu entsorgen. Genauso wie du uns aus deinem Leben entsorgt hast, als wir nicht mehr in deinem Leben passten. Aber dieses Mal wirst du mich nicht so einfach los. Seit Jahren freue ich mich schon auf dein Gesicht, wenn wir uns das erste Mal richtig gegenüber treten und du erkennst, an wem du letzte Woche zweimal vorbei gegangen bist, ohne es zu realisieren.

 

Gerade stehe ich mit meinem Wagen vor der Schule deiner Tochter und warte. Sie müsste jeden Moment rauskommen. Zu gerne würde ich beobachten, wie du vergeblich darauf wartest, dass dein geliebtes Kind nach Hause kommst. Stunde um Stunde machst du dir mehr Gedanken, bis du dich schließlich fragst, ob das Verschwinden mit meinen Nachrichten zu tun hat. Weitere Stunden vergehen. Niemand ist da, der dich in dieser aussichtslosen Situation unterstützt, denn du hast keinen Mann. Auch deinen Vater möchtest du raushalten. Du hast Angst, dass er sich zu sehr aufregt und du ihn ebenfalls verlierst. Oder gibt es noch einen weiteren Grund, weshalb du ihm nicht vertraust?

 

Das Mädchen kommt endlich fröhlich lachend heraus. Um ehrlich zu sein, habe ich sie seit meinen Beobachtungen noch nie traurig erlebt. Ich knie mich vor ihr hin. Niemandem fällt auf, dass ich hier bin. Sie alle sind zu sehr damit beschäftigt endlich in ihr wohlverdientes Wochenende zu kommen. Judy will weggehen, sagt, sie dürfe nicht mit Fremden reden. Vor allem nicht mit welchen, die aus einem anderen Land kommen. Ich hole das Familienfoto aus meiner Hosentasche und erzähle ihr eine kleine Geschichte. Sie ist noch klein, erst sieben Jahre alt. Natürlich besitzt sie noch diese kindliche Naivität, die mir jetzt sehr zugute kommt. Ich erzähle die Geschichte zu Ende und lächle sie vorsichtig an.  Erst starrt sie mich mit großen Augen an, doch dann springt sie glücklich in meine Arme und steigt mit mir in den Wagen.

 

Maria/Veronika?

 

Es ist schon spät abends, als Judy immer noch nicht zuhause ist. Ich habe auch schon alle mir bekannten Freunde angerufen, doch keiner meint, sie gesehen zu haben. Es ist, als hätte sie sich in Luft aufgelöst, doch noch immer wage ich es nicht daran zu denken, dass ihr Verschwinden mit den Nachrichten zusammenhängen könnte. Seit dem letzten Versuch, ihren Aufenthaltsort herauszufinden, sitze ich wie versteinert auf meinem Sessel und halte das Handy mit einem festen Griff in der Hand. Immer wieder schaue ich auf das Bild und versuche eine Verbindung herzustellen, doch es will mir einfach nicht gelingen.

 

Viel zu sehr schwirren meine Gedanken um meine Tochter. Tausende schreckliche Möglichkeiten über ihren Verbleib gehen mir durch den Kopf. Der mögliche Täter weiß wohl, wie er einer Mutter mit einem Schlag jegliches rationale Denkvermögen rauben kann. Meine Tochter ist die einzige, die ich noch habe. Hat er sie vielleicht deswegen entführt? Will er mich brechen? Aber wozu? Oder ist sie einfach noch länger herumspaziert und hat die Zeit vergessen? Gott, es ist, als ob ein riesiges Loch in meinem Leben klafft. Ein Loch, das mich zu einem Geist meiner selbst macht. Einerseits hege ich die Hoffnung, dass er sich zu dem Verschwinden bekennt, aber andererseits hoffe ich auch noch immer, dass sie jeden Moment mit einem schuldigen Gesicht durch die Tür spaziert. Egal in welcher Form, ich möchte einfach nur, dass diese Ungewissheit verschwindet.

 

Ich werde aus den Gedanken gerissen, als das Telefon in meiner Hand zu vibrieren beginnt.

 

„Gehe in den Blumenladen.“

 

Erst taucht meine Tochter nicht mehr auf, und jetzt auch noch der Blumenladen? Der Gedanke, dass er nun auch noch meinen einzigen Zufluchtsort mit seiner Anwesenheit beschmutzt haben könnte, hinterlässt ein starkes Gefühl der Hilflosigkeit in mir. Ich habe ein schlechtes Gefühl. Am liebsten würde ich diese Nachricht einfach ignorieren, doch es gibt die Möglichkeit, dass er derjenige sein könnte, der Judy in seiner Gewalt hält. Würde ihr wegen mir etwas zustoßen, könnte ich mir das niemals verzeihen. Also streiche ich mir kurz durch die Haare und mache ich mich dann entschlossen auf den Weg in dem Glauben, dass das alles nun ein Ende nehmen würde.

 

Als ich mich kurz darauf ankomme, sehe ich, dass das Licht im Inneren eingeschaltet ist. Zu dieser Uhrzeit eigentlich unmöglich. Er ist also hier. Ich verfluche mich dafür, dass ich nicht daran gedacht habe, etwas zur Verteidigung mitzunehmen. Gehetzt schaue ich auf meine Rückbank und finde tatsächlich eine kleine Gartenschaufel.

 

Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich die Tür öffne. Der Laden sieht anders aus, als ich erwartet hatte. Von einem Menschen ist keine Spur.  Es ertönt ein leises Scheppern. Die Schaufel ist mir aus der Hand gefallen. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich auf den Boden vor mir. Rosa Lilien liegen in Form eines Herzens auf diesem. Sie lösen etwas in mir aus. Ist es eine Form von Geborgenheit?

 

Nein, es ist noch mehr. Die Geborgenheit ist ein Teil davon, aber auch etwas Beklemmendes macht sich in mir breit. In der Mitte ist etwas platziert, dass mir mein Frühstück beinahe wieder hochkommen lässt. Mein Kopf beginnt zu pochen. Zwischen den Lilien steht ein rotes Samtkästchen. In diesem liegt ein Ehering. Er sollte Glücksgefühle auslösen, ein Gefühl von Wärme, doch ich beginne nur zu zittern. Eine Erinnerung blitzt auf. Er sah so wunderschön aus, als er mir damals überglücklich den Ring ansteckte. Wir waren ganz allein bei der Zeremonie, denn wir wussten, dass meine Eltern nur alles ruinieren würden. Überall um uns herum waren Lilien, seine Lieblingsblumen. Unter Schock knie ich mich hin und greife nach dem Kästchen.

 

Unter dem Ring liegen zwei Fotos. Mir steigen Tränen in die Augen und ich habe das Gefühl, dass mich jemand in eine bodenlose Tiefe geworfen hat. Das, was ich für mein Leben gehalten habe, ist eine einzige Lüge. Vorsichtig nehme ich das erste Bild in die Hand. Es ist ein Ultraschallbild. Datiert auf das Jahr 2002. Wieder blitzen Erinnerungen auf von meinem Mann, wie er meine Hand hielt, als mich die nächste Wehe traf.

 

In der anderen Hand halte ich das Familienfoto. Es war entstanden, kurz bevor alles den Bach runter gegangen war und doch war zu dem Zeitpunkt alles perfekt. Ein stechender Schmerz breitet sich in meiner Brust aus und ich vergesse zu atmen. All diese Dinge, einfach vergessen. All diese Erinnerungen, die nun einfach jahrelang in meinem Kopf weggesperrt waren. Ich greife nach dem Handy, welches ich schon etliche Male in der Hand gehalten habe, denn es war mal mein eigenes. In einem anderen Leben jedenfalls.

 

Ich wähle das Bild von mir in diesem grässlich schönen Kleid, dass er mir mal geschenkt hatte, nochmal aus und sehe es nun mit anderen Augen. Nichts ist gefälscht daran. Ein Schluchzen dringt durch meine Kehle und ich fühle mich elendig wie noch nie zuvor. Ich habe ihn ermordet… und das nur, weil meine Eltern mich jahrelang von der Untreue meines Mannes und Falschheit meiner Ehe überzeugt haben. Warum habe ich mich so manipulieren lassen? Der Stich in meinem Herzen jedes Mal, wenn meine Eltern nicht zu Familienfeiern gekommen waren oder wie sie sich über jeden noch so kleinen Fehler wochenlang beklagten.

Wann um alles in der Welt hatte ich angefangen diese Worte ernst zu nehmen? Ab wann habe ich geglaubt, dass Jaes Herkunft wirklich eine Rolle spielte? Wieder sehe ich meine eigene Erinnerung wie einen Film vor mir abspielen. Der Abend, an dem es passiert war. Sie haben uns gegeneinander ausgespielt. Ich glaubte er hätte mich betrogen. Wieso hatte ich nur auf meine Eltern gehört? Jae stand einige Meter vor meinem Auto auf der Straße mit unserem Kind an der Hand, doch ich wollte einfach nur weg. In meiner Wut dachte ich er würde zur Seite springen, sobald ich beschleunigen würde, doch er tat es nicht…

 

 „Hallo Mama“

 

Schnell schaue ich auf und blicke zu den beiden Personen, die nun vor mir stehen. Erst jetzt fällt mir auf, wie oft ich in das Gesicht des jungen Mannes geblickt habe, ohne dass mir aufgefallen war, dass ich in die fast mandelförmigen Augen meines eigen Fleisch und Blut geblickt habe.

 

„D-Du warst es… die ganze Zeit.“

 

Danach schaue ich zu Judy, welche mit einem traurigen Blick vor ihrem Bruder steht. Sie sehen sich fast gar nicht ähnlich. Sie hat viel von mir geerbt. Zum Glück, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Henry nickt und erst jetzt fällt mir die lange Narbe auf Arm auf. Wieder tauchen verschiedene Bilder in meinem Kopf auf. Mein Sohn, wie er mit angsterfüllten Augen seine neue Kamera in der Hand hält während er neben seinem sterbenden Vater auf dem Asphalt liegt.

 

 Das Blut an meinem Kleid, als ich unter Schock und wütend versuche ein Verbandszeug rauszukramen … leicht zitternd greife ich nach ihm, doch er weicht zusammen mit Judy zurück. Erst jetzt sehe ich, dass er genauso viel Angst und Unsicherheit verspüren muss wie ich. Er wendet sich zu seiner Schwester und bittet sie erst einmal ins Lager zu gehen. Sie weigert sich und möchte lieber bei mir bleiben. Ich nehme sie mit einem leisen Schluchzen in den Arm und versichere ihr, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Auch, wenn ich selbst gerade das Gefühl habe, erneut alles zu verlieren. Als sie schließlich weg ist, setzt er sich auf einen kleinen Plastikstuhl und vergräbt sein Gesicht in den Händen.

 

„Deine Eltern haben dafür gesorgt, dass alle glaubten es wäre ein Unfall gewesen. Sie schafften es sogar, alle zu überzeugen, dass er dich jahrelang missbraucht hat. Dabei war es dein Vater der dich jedes Mal schlug, wenn du dich für deine Liebe eingesetzt hattest. Für die Polizei hat alles gepasst“, murmelt er in einem weinerlichen Ton und schüttelt mit dem Kopf. Das ist das erste Mal, dass er irgendwie doch noch wie ein Kind wirkt.

 

„Aber als ich im Krankenhaus war, warst du nicht bei mir… und auf der Kamera habe ich dann dieses schreckliche Bild gefunden und realisierte nach und nach was passiert war. Du hast es vielleicht im ersten Moment nicht gewollt, aber du hast es in Kauf genommen, dass du uns ernsthaft verletzt… und am Ende musste Papa mit seinem Leben zahlen.“ Er fährt sich durch das Gesicht und trotz der Situation verspüre ich den Drang, ihn in den Arm zu nehmen.

 

Ich stehe langsam wieder auf und will gerade etwas sagen, als er schon wieder fortfährt. „Natürlich kam es deinen Eltern ganz recht, dass dich dieses Ereignis so traumatisiert hat. Du hast alles vergessen. Du hast mich vergessen. Offiziell warst du seitdem nämlich nicht mehr psychisch in der Lage, dich um mich zu kümmern, also zogst du zurück zu deinen Eltern während ich zu meiner Oma abgeschoben wurde.“

 

Plötzlich beginnt er auf einmal hysterisch zu lachen und holt ein kleines Messer aus seiner Hosentasche, doch ich bin zu benommen, um auch nur zurückzuweichen.

 

„Ich habe nie verstanden wieso du es getan hast. Du warst doch immer so liebevoll… aber du weißt gar nicht, wie oft ich davon geträumt habe, dass ich derjenige sein würde, der dein Leben ebenso leichtfertig nimmt!“ Kurz sehe ich den Hass in seinen Augen, doch noch bevor ich zurückweichen kann, deutet er mit dem Messer auf das Lager. „Und dann, als ich das erste Mal hier ankam“, er hält kurz inne. „Mein einziger Wunsch war es, dich zu verletzen. Aber dann habe ich Judy gesehen und beschlossen, dass wenigstens sie die Chance auf eine schöne Zukunft haben sollte. Bei einer Familie, die sie nicht manipuliert. Du hast kurz nach dem Ereignis von deiner Schwangerschaft erfahren, oder?“

 

Es fühlt sich alles so surreal an. Ich muss viel zu viel verarbeiten und doch sickert eine einzige Sache durch meinen überforderten Kopf und so starre ich ihn kurz atemlos an.

 

„Du willst, dass ich gestehe. Das kann ich nicht tun… Du kannst mir das nicht antun! Das kannst du Judy nicht antun!!“

 

„Ich kann und ich werde sie mitnehmen, sobald das Gericht von deiner Tat und den rassistischen Veranlagungen deiner Eltern erfährt. Du hast mir meinen Vater genommen und dir selbst einen Teil deiner Persönlichkeit. Aber am schlimmsten ist es, dass du sogar deinen eigenen Sohn vergessen hast.“ Er schüttelt mit dem Kopf. „Das kann ich dir nie verzeihen.“

 

Meine Schultern hängen herunter und ich fühle mich, als hätte ich gerade erst ein Stück von mir wiedererlangt und doch wird es mir direkt wieder entrissen. Dennoch weiß ich, dass ich langsam Verantwortung übernehmen muss genauso, wie er es nun jahrelang tun musste. Aber konnte er ihr wirklich ein besseres Leben bieten? Henry ist doch mindestens genauso kaputt wie ich. Wenn ich mich weigere, was passiert dann? „Ich kann doch nicht einfach mein ganzes Leben aufgeben… Judy braucht ihre Mutter!“

 

„Nein. Was sie braucht, ist ein Zuhause und so wie die Situation derzeit ist, lasse ich nicht zu, dass meine Schwester unter diesem Einfluss aufwächst.“

 

Er deutet auf das Handy. „Ruf an.“

 

„Was, wenn ich es nicht tue?“

 

Kurze Zeit passiert nichts, doch dann beginnt er wieder leise zu lachen.

 

„Wenn du es nicht tust… ja, was passiert, wenn du es nicht tust?“ Er hält inne und mit einem Mal springt er auf und reißt meinen Kopf leicht zurück.  Dann bringe ich Judy um, verstanden!? Dann hast du deine kleine Tochter trotzdem verloren.  Nur bei mir ist sicher! Nur ich kann auf sie aufpassen“ schreit er. Henry hat denselben Blick aufgesetzt wie ich damals, als ich in den Wagen gestiegen bin.

 

Unter Tränen schaue ich zu ihm auf. „I-Ich mache es! Nur bitte tue ihr nicht weh.“ So oder so. Ich würde meine Tochter nun verlieren. Aber irgendwie bin ich es ihm und auch meiner ersten und einzigen großen Liebe schuldig. So haben wir alle etwas verloren. Ich meine kleine Tochter, Henry seinen Vater und Jae sein Leben. Vielleicht war unsere Familie, unser Leben, auch zu perfekt, am Anfang zumindest. Ein bisschen so, als ob man einer Pflanze zu viel Wasser gegeben hat und sie langsam verblüht, obwohl man keine Ahnung hat, warum. Sie bekommt Licht, Wärme und Wasser, aber trotzdem stirbt sie.

 

Ich schaue ihn nochmal an und habe das Gefühl, dass es vorerst wieder das letzte Mal sein wird, dass ich in das nun erwachsene Gesicht meines mehr oder weniger wiedergewonnen Sohnes blicke. Auch meiner kleinen Judy winke ich unter Tränen zu, während sie durch das kleine Fenster der Lagers schaut. Auch sie weint. Aber so ist es wohl am besten für uns alle. Ich schmiege das samtrote Kästchen an meine Brust, während ich unter Tränen das Handy an mein Ohr drücke.

 

„Guten Abend…mein Name ist Maria Veronika Seifert und ich habe jemanden ermordet.“

 

One thought on “Übergossenes Leben

  1. Liebe Loreen, danke für Deine Geschichte! Hat mir gut gefallen. Spannend geschrieben und kreative Idee. Den Titel finde ich sehr interessant. 👏 An einigen Stellen hat die Grammatik nicht ganz gestimmt und am Anfang habe ich mich gefragt, warum die Frau nicht sofort die Polizei ruft, wenn ihr Kind verschwunden ist. Am besten gefallen hat mir dennoch der Anfang.
    Arbeite auf jeden Fall weiter daran! 👋👍 Habe ein 🖤 da gelassen.

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

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