Doria DondlVERLETZT

Prolog

Sie fühlte sich wie in einem Alptraum gefangen, wie in eine Vergangenheit zurückversetzt, in die sie nie wieder hatte blicken wollen. Als sie das Video auf dem fremden Smartphone geöffnet hatte, hatte sie mit allem gerechnet, aber nicht hiermit. All die alten Gefühle, die sie so lange versucht hatte hinter sich zu lassen, brachen wieder über sie herein. Sie war wieder 17, gelähmt vor Angst, unfähig zu schreien oder sich zu wehren. Fanny Waslovic, 26 Jahre alt und Psychologin, starrte auf den kleinen Bildschirm in ihrer Hand und gleichzeitig dem wahrhaftigen Grauen ins Gesicht.

1

12 Stunden davor…

„Ich kann es kaum erwarten, dich morgen Abend wieder in die Arme zu schließen, Liebling!“, hauchte Albert ins Telefon.
Fannys Herz am anderen Ende der Leitung klopfte plötzlich ein wenig schneller. Die Beziehung zu ihrem Albert war noch frisch. Nach einigen Abendessen in schicken Restaurants in der Wiener Innenstadt und einer gemeinsamen Nacht in seiner Loftwohnung mit Blick auf die Votivkirche, nannten sich die beiden nun ein Paar. Albert war ein gefragter Anwalt, 15 Jahre älter als Fanny. Er stand mit beiden Beinen im Leben und betreute Klienten rund um den Globus, weshalb er viel unterwegs war, aber morgen Nachmittag sollte er am Wiener Flughafen landen. Fanny hatte extra eine Therapiesitzung verschoben, um ihn persönlich am Terminal empfangen zu können. Ihre Beziehung war gespickt mit kleinen Aufmerksamkeiten. Mal trudelte ein riesiger Blumenstrauß in Fannys Praxis ein, mal fand sie Pralinen und Kärtchen mit liebevoll formulierten Worten vor ihrer Wohnungstür. So ließ sich die lange Zeit, in der sie einander nicht sahen, leichter überbrücken.

Fanny musste los in ihre Praxis, ihre erste Klientin für heute saß bestimmt schon im Wartezimmer und es würde ein langer Tag werden, aber sie liebte ihren Job. Rasch beendete sie das Telefonat, schickte ein paar Küsschen durch die Leitung und trat aus ihrer Wohnung in der Nähe des Wiener Stadtparks. Die Luft duftete herrlich an diesem Frühlingsmorgen. Für Mitte März blühten schon ungewöhnlich viele Bäume und Sträucher, was vermutlich mit dem milden, frostlosen Winter zu tun hatte.

Mit der eigenen Praxis im ersten Bezirk hatte Fanny sich einen Traum erfüllt. Nur 20 Minuten Fußweg trennte ihre Wohnung von ihrem Arbeitsplatz. Die Entscheidung, Psychologie zu studieren, hatte sie mit 17 gefällt. Nach einer schwierigen Zeit, die sie gezwungen war durchmachen, war ihr klar, sie wollte Menschen helfen, vor allem Frauen. Sie wollte dazu beitragen, dass traumatisierte Personen wieder den Weg in einen normalen Alltag finden konnten, ohne Panikattacken oder Alpträume, die Nächte zur Hölle machten, ohne Depressionen und Angstzustände. Ihr selbst hatte eine Therapie geholfen, um von den Erlebnissen in jener kalten Winternacht Abstand zu gewinnen, als sie nach einem Discobesuch auf dem Heimweg auf einer verlassenen Bahnhofstoilette von einem Unbekannten mit Schimaske auf brutalste Weise vergewaltigt und schwerverletzt zurückgelassen wurde. Erst am nächsten Morgen wurde sie gefunden und sofort ins Spital gebracht. Die Diagnose Gehirnerschütterung, Platzwunde am Hinterkopf, zahlreiche Hämatome an Armen und Oberschenkeln und schwere Abschürfungen am Scheideneingang waren gar nicht das Schlimmste gewesen. Die psychischen Folgen dieser Nacht machten ihr viel mehr zu schaffen und ließen sie durch die Hölle gehen, auch deshalb, weil der Täter nie gefasst wurde und Fanny jahrelang unter Alpträumen und Verfolgungsangst gelitten hatte.

Heute, neun Jahre danach, konnte sie aber sagen, sie war darüber hinweg, die körperlichen Wunden waren längst verheilt, die seelischen mittlerweile auch und sie konnte wieder positiv in die Zukunft blicken, wozu ihre neue Beziehung zu Albert sicherlich positiv beitrug.

„Guten Morgen, Frau Waslovic, Sie sehen heute wieder umwerfend aus!“ Fannys Sprechstundenhilfe empfing sie wie jeden Morgen mit einem breiten Lächeln, das ihre nikotinvergilbten Zähne zum Vorschein brachte. Lisa war Mitte 30, kleidete sich aber wie eine 15-jährige im Neon-Wahn. Heute war Neon-Pink an der Reihe. Der viel zu enge und viel zu grelle Rock rutschte ihr beim Sitzen ständig nach oben und zeigte ihre braungebrannten Oberschenkel und bei genauem Hinsehen auch ihren violetten Slip. Fanny nahm sich nun schon seit Wochen vor, ihren Kleidungsstil anzusprechen und angemessenere Outfits zu fordern, hatte bisher aber nicht den Mut dazu, auch, weil ihre Klienten die fröhliche und unkomplizierte Art ihrer Sprechstundenhilfe so sehr schätzten und sie oft Komplimente für die überaus freundliche Art ihrer Mitarbeiterin bekam. Mit Lisas Vorliebe für knappe und bunte Kleidung konnte sich Fanny aber beim besten Willen nicht anfreunden, sie selbst hielt es lieber schlicht und bedeckt. Nach dem traumatischen Erlebnis in ihrer Jugend hatte sie ihren Kleidungsstil verändert. Auch sie hatte es früher geliebt, sich knapp zu kleiden, die Röcke konnten gar nicht kurz und die Ausschnitte nicht tief genug sein. Sie hatte den Moment geliebt, wenn sie eine Bar oder Disco betreten hatte, diesen Augenblick, wenn plötzlich die Blicke der Männer und auch der vieler Frauen auf sie gerichtet waren. Fanny war eine Frau, die die Aufmerksamkeit ungebremst auf sich zog. Ihre dunkelroten Haare, die sie jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel sah, an ihre Mutter erinnerten, und ihr in sanften Wellen bis zu den Schulterblättern reichten, ihre glatte, leicht gebräunte Haut und die weiblichen Rundungen machten sie zu einer Erscheinung. Früher hatte sie es geliebt, damit zu spielen, den Männern den Kopf zu verdrehen, und sich oft auch auf mehr als nur ein Gespräch und ein Getränk eingelassen. Die Affären hatten jedoch nie lange gedauert und heute war sowieso alles anders. Die Beziehung zu Albert war die erste nach ihrer Vergewaltigung, auf die sie sich eingelassen hatte und bis jetzt fühlte sie sich gut damit.

„Das habe ich vorhin neben unserem Fußabstreifer gefunden, dürfte jemandem aus der Tasche gefallen sein“, riss Lisa Fanny aus ihren Gedanken und streckte ihr ein Smartphone entgegen. Fanny nahm es an sich und drehte es kurz in ihrer Hand.
„Keine Ahnung, wem das gehören könnte, haben Sie schon versucht, eine Nummer aus den gespeicherten Kontakten zu erreichen?“.
„Nein, ist durch einen Code gesperrt.“
„Dann bringen Sie es doch bitte nach Ihrem Dienst zur nächsten Fundstelle, ich habe heute wirklich viel zu tun“, erwiderte Fanny. „Und schicken Sie mir bitte die erste Klientin herein!“ Damit verschwand sie in ihrem Behandlungszimmer.

2

Er beobachtete sie, sah, wie sie mit ihrer Klientin sprach, wie sie den Stift in der Hand hielt und ihn nachdenklich immer wieder zum Mund führte. Als im Gebäude gegenüber ihrer Praxis eine Wohnung frei geworden war, hatte er nicht lange überlegt. Die Miete für das kleine Appartement fraß zwar all seine Ersparnisse und würde es noch länger dauern, müsste er sogar einen Kredit aufnehmen, doch das war es ihm wert. Wenn er erst fertig mit ihr war, würde sie nicht mehr arbeiten können, sie würde sich selbst in Therapie befinden, in irgendeiner Psychiatrischen Klinik ans Bett gefesselt, dann bekam sie endlich, was sie verdiente. Viel zu schnell hatte sie sich seiner Meinung nach von der Vergewaltigung erholt, viel zu früh war sie wieder auf die Beine gekommen. Er beobachtete jeden ihrer Schritte, wusste von ihrem neuen Liebhaber – er hatte auch ihn gestalkt – und, dass Schritt eins seines Plans aufgegangen war, das Smartphone befand sich in ihrer Praxis, die dumme Tussi von Sprechstundenhilfe hatte es wie geplant brav vor der Tür aufgesammelt und mit hineingenommen. Nun musste er dafür sorgen, dass die Neon-Braut es auf dem Schreibtisch liegen ließ und Fanny es noch einmal in die Finger bekam. 

3

Der Tag war düster gewesen. Trotz des Sonnenscheins und der milden Luft draußen waren die Gespräche in ihrem Behandlungszimmer heute wieder von Kälte, Gewalt, Wut und Depression erfüllt gewesen. Seit etwa einem halben Jahr führte Fanny nun ihre Praxis und immer wieder gab es Tage, an denen sie sich schwer von den Geschichten der traumatisierten Frauen lösen konnte und die dunklen Gefühle mit nach Hause nahm. Sie verabschiedete sich von der letzten Klientin für den heutigen Tag und trat ebenfalls aus dem Behandlungsraum. Lisa hatte die Praxis schon vor einer Stunde verlassen und genoss den Abend bestimmt mit einem Glas Wein auf ihrem Balkon. Auch Fanny würde sich einen gemütlichen Abend machen und die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Albert am nächsten Tag beflügelte sie. „Mist!“, fluchte sie laut. Auf Lisas Schreibtisch lag nach wie vor dieses Smartphone, wo war ihre Sprechstundenhilfe nur wieder mit ihren Gedanken gewesen? Langsam und erschöpft ließ Fanny sich auf dem Bürostuhl nieder und besah das Gerät in ihrer Hand. Wenn sie es irgendwie schaffen würde, einen Kontakt daraus zu wählen, würde sie sich eventuell den Weg zum Fundbüro ersparen, auf den sie nun wirklich keine Lust mehr hatte. Das Smartphone bis morgen einfach liegen zu lassen, war keine Option. Die Person, der es gehörte, war bestimmt schon auf der Suche danach. Ping. Gerade war darauf eine Textnachricht eingegangen. Wenige Sekunden lang erschien ein Teil der Nachricht auf dem Bildschirm.

Unbekannte Nummer. Nachricht: 0111.

Fanny versuchte auf die Nachricht zu tippen, da war der Bildschirm auch schon wieder schwarz. 0111? Plötzlich musste sie lächeln. Am ersten November hatten sie und Albert sich das erste Mal gesehen. War das wieder eine seiner Überraschungen und Lisa hatte das Smartphone gar nicht vergessen, sondern war in die Sache eingeweiht? Ein warmes, wohliges Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus und ihr Puls beschleunigte sich. Sie tippte den vierstelligen Code in das Zahlenfeld ein. Ping – der Bildschirm entsperrte sich und eine neue Nachricht ging ein.

Unbekannte Nummer. Nachricht: Liebe Fanny, schlaues Mädchen, ich habe hier ein Video für dich.

Im Anhang befand sich eine Video-Datei. Kurz stutze sie. Albert nannte sie für gewöhnlich nicht „schlaues Mädchen“. Was hatte das hier zu bedeuten? 0111 kam ihr wieder in den Sinn. Das Datum ihres ersten Treffens. Die Videobotschaft musste von Albert sein. Mit schweißnassen Fingern tippte sie auf die Video-Datei. Zuerst konnte sie nicht viel erkennen, das Bild war stark verpixelt und verwackelt. Auf weißem Hintergrund schien sich etwas Rotes zu befinden. Plötzlich wurde die Kameraführung ruhiger und das Bild ein wenig schärfer.

Das Blut gefror ihr in den Adern, wie im Schock starrte sie auf den Bildschirm, unfähig zu handeln. Sie blickte in ihr eigenes, blutverschmiertes und verschwollenes Gesicht. Nackt und bewusstlos sah sie sich selbst in der Bahnhofstoilette liegen, neben der verchromten Kloschüssel, an der sie sich die Platzwunde zugezogen hatte, vor neun Jahren, im Jänner 2011.  0111. Da brach das Video auch schon ab. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, ihre gesamte Welt schien in sich einzustürzen. Der Alptraum von damals tauchte ihr Leben wieder in düsteres Licht.

Was sollte sie tun? Einfach nach Hause gehen und das Ganze vergessen, oder das Smartphone zur Polizei bringen und Anzeige erstatten? Anzeige gegen Unbekannt? Die Fahndung nach ihrem Vergewaltiger war längst abgeschlossen und sie sah sich nicht im Stande, noch einmal der Polizei alle Ereignisse von damals zu schildern. Plötzlich fühlte sie sich ganz alleine. Albert hatte sie ihr Trauma noch nicht anvertraut, zu früh erschien es ihr für eine solch große Offenbarung, zu sehr fürchtete sie sich davor, die frische, zerbrechliche Liebe damit zu belasten.

Tante Margit! Ihr konnte sie sich anvertrauen. Nachdem Fannys Eltern viel zu früh bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, nahmen ihre Großeltern sie auf ihrem Bauernhof in einer ländlichen Gegend auf. Im Nebengebäude lebten ihre Tante und ihr Onkel, die sich immer rührend um sie gekümmert hatten. Obwohl Fanny in ihrer frühen Jugend ihre Eltern verloren hatte, durfte sie auf dem familiären Bauernhof, bis sie nach Wien ging, um zu studieren, noch einige Jahre voller Geborgenheit und Fürsorge erleben. Ihre Großeltern waren in den letzten beiden Jahren verstorben, nun hatte sie nur noch ihre Tante und ihren Onkel, die zwar eine Zugstunde entfernt lebten, aber bei Problemen immer zur Stelle waren.

„Fanny, was ist los?“, meldete sich Tante Margit mit besorgter Stimme. Hatte sie etwa am Klingeln schon gehört, dass etwas nicht stimmte?

„Tante Margit“, – Fanny versagte die Stimme, mit aller Kraft versuchte sie, die Tränen zu unterdrücken – „es ist etwas Schreckliches passiert!“ Der Wall war gebrochen und die Tränen schossen nur so aus ihr heraus. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, erzählte sie von dem Smartphone und dem verstörenden Video darauf. Tante Margit hörte zu, ohne Fragen zu stellen, dann sagte sie etwas, das Fanny stutzen ließ.

„Ich will dir nicht zu nahetreten, aber vielleicht hat dein neuer Freund etwas damit zu tun.“

Albert? Das war unmöglich. Natürlich, sie kannten einander noch nicht lange und bis auf seinen Beruf und dass er viel unterwegs war, wusste Fanny nicht viel über ihn, aber warum sollte er sie so verletzen wollen, und woher hätte er überhaupt dieses Video?

„Wir machen uns Sorgen um dich, Fanny. Sei vorsichtig, du weißt so wenig über diesen Mann. Ich wollte dich nicht verunsichern, aber die Geschichte eures Kennenlernens scheint deinem Onkel und mir doch ein bisschen eigenartig.“

Was war in ihre Tante gefahren? Sie verstand die Fürsorge, aber Albert war doch harmlos. Das Kennenlernen war ihr wie ein wunderbarer Zufall vorgekommen. Konnte das inszeniert gewesen sein? Als Fanny vor einigen Monaten dabei gewesen war, einen Coffee to go in einem Kaffeehaus nahe ihrer Wohnung zu holen und sich gerade zum Gehen umdrehte, begrüßte sie den gutaussehenden Fremden hinter sich mit einem Schwall heißen Kaffees aus ihrem Becher, der natürlich prompt auf seinem strahlend weißen Hemd landete. Anstatt sie zu verfluchen, lächelte dieser nur und meinte, das Einzige, wie sie diesen Fauxpas wiedergutmachen könne, wäre, einem gemeinsamen Abendessen zuzustimmen. In jedem anderen Fall hätte sie abgelehnt, aber Albert strahlte etwas aus, das ihr verriet, dass sie ihm vertrauen konnte. Und was war schon gegen ein Abendessen in einem gut besuchten Restaurant einzuwenden? Hätte sie sich so in ihm täuschen können? Was war, wenn er sich absichtlich so nah hinter sie gestellt hatte, um diesen Vorfall zu provozieren? Zweifel stiegen in ihr auf.

„Liebes, setz dich in den nächsten Zug und verbringe die Nacht bei uns, du solltest jetzt nicht alleine sein. Wir warten am Bahnhof auf dich!“, beendete Tante Margit das Gespräch.

4

Die Nacht im Gästezimmer ihrer Tante war unruhig verlaufen. Am Abend hatten sie noch lange gesprochen, Tante Margit, Onkel Norbert und sie. Die beiden waren mehr als nur Onkel und Tante für Fanny, aber das Misstrauen, das sie Albert gegenüber aufbrachten, verunsicherte sie. Sie hatte doch immer gedacht, sie könne sich auf ihre Menschenkenntnis verlassen. Und dann hatte Onkel Norbert etwas gesagt, das Fanny zum Nachdenken gebracht hatte.

„Dieser Albert ist ohnehin zu alt für dich. Warum suchst du dir nicht einen Mann in deinem Alter?“

Nicht die Aussage an sich hatte sie gestört, sondern, dass ihr Onkel über Alberts Alter Bescheid wusste. Fanny konnte sich nicht erinnern, es jemals angesprochen zu haben, dass er um einiges älter war und zu einem persönlichen Treffen war es bisher noch nicht gekommen. Sie wollte sich zuerst zu 100 Prozent sicher sein, bevor sie ihn ihrer Familie vorstellte. Woher wusste ihr Onkel also davon? Hatten die beiden ihr nachspioniert oder heimlich Untersuchungen über Albert im Internet angestellt und waren möglicherweise auf etwas gestoßen, vor dem sie sie zu schützen versuchten?

Während der einstündigen Zugfahrt nach Wien am nächsten Morgen untersuchte Fanny das fremde Smartphone auf mögliche Hinweise. Darauf war rein gar nichts gespeichert. Keine Apps, keine Fotos, keine Kontakte – nichts. Nur diese Textnachricht mit dem Video. Sie musste die kurze Aufnahme noch einmal genauer unter die Lupe nehmen, sie war die einzige Möglichkeit, um etwas über den Vergewaltiger herauszufinden. Das Filmchen dauerte nur knapp 40 Sekunden. Die ersten zehn davon waren unbrauchbar für eine Analyse, da sie viel zu unscharf waren. Die verbleibende halbe Minute des Videos betrachtete Fanny immer und immer wieder, aber darauf war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. In ihrer Praxis angekommen, hatte sie noch 20 Minuten Zeit, bis Lisa eintrudeln würde. Sie spielte das Video auf ihren Computer und besah es sich noch einmal auf dem größeren Bildschirm. Da war doch etwas! Fanny stoppte das Bild und zoomte auf die verchromte Kloschüssel. Ihr stockte der Atem, was sie sah, riss ihr den Boden unter den Füßen fort. Nein, das konnte nicht sein. In der Spiegelung sah sie das Handy, mit dem gefilmt wurde, und was viel schlimmer war, die Hand, die es hielt. Diese steckte in einem dunkelgrauen Handschuh, mit der roten Aufschrift IBS – dem Emblem der kleinen Firma, für die ihr Onkel vor neun Jahren gearbeitet hatte.

5

„Frau Waslovic, sind Sie schon hier? Tut mir leid, ich habe gestern das Smartphone in der Eile ganz vergessen. Irgend so ein Idiot hat, als ich schon auf dem Weg aus der Praxis war, angerufen und gemeint, auf der Straße wäre jemand verletzt, ich solle sofort nach unten kommen. Hab natürlich alles stehen und liegen lassen und bin nach unten, da war aber überhaupt niemand. Hab nach der Aufregung einfach nicht mehr an das Handy gedacht, ich hoffe, Sie sind mir nicht bös´?!“ Lisa stöckelte in hautengen und nicht ganz blickdichten neongelben Leggins zu ihrem Schreibtisch und schaltete ihren Computer ein. Die blondierten Haare hatte sie heute zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, große neongelbe Creolen hingen an ihren Ohren. In ihrer Aufmachung wirkte sie, wie einem Musikvideoclip aus den 80ern entsprungen.
„Kein Problem, Lisa! Was haben Sie eben gesagt, es hat einen Anruf gegeben?“. Fanny kam, immer noch vom Schock gezeichnet, langsam aus ihrem Behandlungsraum.

„Ja, komisch, oder? Ein bisschen früh für einen Aprilscherz.“ Lisa blickte von ihrem Computer hoch. „Sie sehen gar nicht gut aus, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ja… nein, eigentlich nicht. Können Sie sich an die Stimme des Mannes erinnern?“

„Naja, sie klang normal. Dem Dialekt nach schien er aus einer ländlichen Gegend zu kommen, oder zumindest nicht aus Wien, warum?“

Fannys Onkel sprach üblicherweise in einem ländlichen Dialekt, aber das taten doch viele. Das Bild des Handschuhs in der Spiegelung der Toilette ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Das konnte doch nicht sein. Die Polizei hatte damals natürlich auch in ihrem näheren Umfeld nach dem möglichen Vergewaltiger gesucht, weshalb auch ihr Onkel verhört wurde. Er schied aber sofort als Verdächtiger aus, nachdem die Schwangerschaft bei Fanny festgestellt worden war. Onkel Norbert hatte Monate zuvor eine Sterilisation durchführen lassen. Fanny hatte bis dahin nichts davon gewusst, aber das war auch kein Thema, das man vor versammelter Familie am Mittagstisch besprach. Auf Drängen ihrer Großeltern und der Tante hatte sie eine Abtreibung durchführen lassen. Ein stechender Schmerz durchzog ihren Unterbauch, wenn sie daran dachte. Sie wusste, das kleine Wesen in ihrem Inneren hatte nichts dafürgekonnt und es gab Tage, an denen sie weinend unter der Dusche zusammenbrach und sich wünschte, es behalten zu haben.

„Hier, hören Sie selbst“, hörte Fanny Lisa sagen, „ich zeichne die Telefonate grundsätzlich auf.“

Kommen Sie schnell nach unten, hier auf der Straße ist jemand verletzt. Schnell, sonst könnte es zu spät sein, hörte Fanny in breitem, ländlichem Dialekt die Stimme ihres Onkels aus dem Telefon sprechen. Wie war das möglich?

Fanny entschied sich zu dem Einzigen, das ihr im Moment richtig erschien, sie musste ihren Onkel zur Rede stellen und die Sache klären, und zwar sofort. „Lisa, sagen Sie all meine Termine für heute ab, ich habe etwas Wichtiges zu erledigen!“ Damit verließ sie eilig die Praxis und ließ ihre Sprechstundenhilfe verblüfft zurück.

6

Fanny war fest entschlossen, die Sache auf der Stelle zu klären – und zwar persönlich. Mit pochendem Herzen trat sie auf die Straße, als sie ein plötzlicher dumpfer Schmerz zusammensacken ließ. Wie hinter einem fleckigen Schleier sah sie eine männliche Gestalt, dann wurde sie in das Innere eines Transporters gezerrt, bevor sich nach einer weiteren Schmerzexplosion in ihrem Kopf alles schwarz färbte.

7

Schweißgebadet saß er hinter dem Steuer seines Transporters. Mist! Was war nur losgewesen in der Praxis? Die Sprechstunden-Tussi hatte auf dem Telefon herumgedrückt, dann war Fanny plötzlich entsetzt aus dem Raum gestürmt. Er musste seinen Plan über Bord werfen und blitzschnell handeln und hatte sich dabei in große Gefahr begeben. Was, wenn ihn jemand beobachtet hatte? Zu seinem Glück war sie nach dem festen Schlag mit der Brechstange, die er immer in seinem Transporter mitführte, lautlos zusammengesackt und so früh am Morgen waren noch nicht viele Menschen unterwegs. Einen weiteren Schlag hatte es gebraucht, um sie KO zu schlagen und für die nächste Zeit ruhigzustellen. Eigentlich hatte er sie nur psychisch fertigmachen wollen, in den nächsten Tagen sollten immer wieder kleine Videos mit Details der Vergewaltigung auf dem Smartphone eingehen. Doch die Neon-Tussi hatte offensichtlich ihr Gespräch gestern aufgezeichnet, und seine Nichte seine Stimme darauf erkannt. Irgendwie musste er sie beseitigen, doch davor sollte sie noch Qualen zu spüren bekommen. Seit sie zu ihnen auf den Bauernhof gezogen war, hatte sein Leben nur noch aus Scham und Frust bestanden. In dem kleinen Ort hatte sich schnell herumgesprochen, womit seine kleine Nichte die Wochenenden verbrachte – mit Saufgelagen und Sex, er wollte gar nicht wissen, wie viele Männer es waren. Wie eine Nutte hatte sie ausgesehen und die Dorfburschen hatten Bilder von ihr in eindeutigen Posen untereinander verschickt. Der Spott des ganzen Ortes war sie gewesen und jemand musste ihr einen Denkzettel verpassen. Es war so einfach gewesen. Sturzbetrunken war sie mit dem Zug mitten in der Nacht angekommen – so wie jeden Samstag. Er hatte auf sie gewartet, auf dem einsamen Bahnhof, mit der Schimaske über dem Kopf, gelacht hatte sie zuerst, dachte, das sei ein Scherz, doch es sollte ihr eine Lehre sein. Klack hatte es gemacht, als ihr Schädel auf der Toilettenschüssel aufgeschlagen war, kurz war sie benommen, dann wachte sie immer wieder auf und starrte schockiert zu ihm hoch, unfähig, einen Ton von sich zu geben.

Am nächsten Morgen kam der Anruf aus dem Krankenhaus. Man hätte sie auf der Bahnhofstoilette gefunden, sie sei vergewaltigt worden. Natürlich waren alle schockiert, aber Margit hatte gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie hatte ihn zur Rede gestellt, gefragt, ob er etwas damit zu tun hatte. Er hatte es für die Familie getan, jetzt würde sie bestimmt nicht mehr herumhuren, würde sich endlich anständig verhalten, nicht mehr die gesamte Familie zum Gespött machen. Margit war zuerst zusammengebrochen, dann hatte er ihr gedroht, er würde ihr das Leben zur Hölle machen, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen zu jemandem sagte. Sie kannte ihn, seine aggressive Ader, seine herrschsüchtige Art und willigte ein. „Hast du verhütet?“, hatte sie gefragt. Nein. „Und wenn sie schwanger ist? Man wird den Täter suchen, auch im engsten Kreis, man wird DNA-Proben nehmen. Du musst dich sterilisieren lassen“, hatte sie gesagt, „in Tschechien, wir bezahlen den Arzt, er soll das Datum fälschen, wir tun so, als wäre der Eingriff schon vor Monaten erfolgt.“ Die Hure war tatsächlich schwanger gewesen, welch ein Glück, dass er auf seine Frau gehört hatte. Niemand hatte Verdacht geschöpft, der Onkel, der sich schon vor Monaten aus privaten Gründen einer Sterilisation unterzogen hatte, konnte unter keinen Umständen der Täter sein. Doch der bestechliche Arzt hatte mächtig gepfuscht und nun bekam er seit neun Jahren keinen mehr hoch. Wegen dieser Hure lief er sein restliches Leben mit diesem erbärmlichen, schlaffen Schwanz herum, dafür musste sie büßen.

Zusammengesackt und gefesselt saß sie vor ihm auf dem Stuhl, vertrocknetes Blut klebte auf ihrer Stirn und ihrer Wange. Er hatte sie über die Tiefgarage in ihre Wohnung geschafft. Auch, wenn alles schnell gehen hatte müssen, er hatte Vorkehrungen getroffen, Handschuhe übergezogen, er wollte nicht wegen eines kleinen Fingerabdrucks an der falschen Stelle ein Leben lang ins Gefängnis. Der Knebel im Mund stand ihr gut, ihre Lider begannen zu flackern. Er wartete noch, bis sie ganz bei Sinnen war, um das zu beenden, was er begonnen hatte, sie sollte noch ein bisschen leiden, bevor er ihr den Gnadenstoß versetzte.

Aus großen Augen sah sie ihn an – verängstigt, aber kein bisschen erstaunt. „Ich wusste es!“, spie sie ihm entgegen, als er den Knebel aus ihrem Mund entfernte. „Du bist ein schlaues Mädchen, ich habe nie verstanden, warum du dich zur Dorfmatratze degradieren hast lassen. Wie hast du es herausgefunden?“ „Die Handschuhe… in der Spiegelung der Toilette.“ Er ließ einen anerkennenden Pfiff los. „Dann bringen wir das jetzt wohl am besten zu Ende.“ Langsam fischte er einen Strick aus seiner Hosentasche und ging einen Schritt auf sie zu. Er hatte sich dazu entschlossen, sie zu erwürgen, das machte keine Sauerei und er musste danach seine Kleidung nicht wechseln. „Warum jetzt?“, presste sie zwischen den Zähnen hervor. „Weil du nichts aus deiner Lektion gelernt hast, dir wieder irgendeinen Typen angelst, mit einem Fremden ins Bett springst, weil ich wegen dir meine Männlichkeit verloren habe, weil mein Schwanz zu nichts mehr zu gebrauchen ist!“ Kochend vor Wut stürmte er auf sie zu und zog den Strick um ihren Hals. Schweiß trat ihr auf die Stirn, sie versuchte zu schreien, doch es war nicht mehr zu hören, als ein heiseres Hauchen, die Welt um sie herum schien sich zu drehen, wieder tauchte dieser Schleier vor ihren Augen auf, ein ohrenbetäubendes Rauschen ertönte in ihrem Kopf – und plötzlich fühlte sie sich frei.

8

Mit einem tiefen Atemzug riss sie die Augen auf. Albert stand vor ihr. Zu ihren Füßen lag Onkel Norbert, Blut sickerte langsam aus seinem Kopf auf den Parkettboden. „Alles in Ordnung?“ fragte Albert atemlos, während er vorsichtig ihre Fesseln löste. „Nein“, wollte sie sagen, dann blickte sie ihm tief in die Augen. „Alles in Ordnung“, seufzte sie.

3 thoughts on “VERLETZT

  1. Wow! Was soll ich sagen? Das hier ist meine 30. Geschichte die ich lese und mit Ausstand eine der besten! Wenn nicht sogar DIE beste! Spannung von Anfang bis Ende, weiche Übergänge, toller Schreibstil, super böse mit logischen Zusammenhängen.
    Das hier ist dir wirklich gelungen!
    Auf das deine Geschichte es ins EBook schafft!:)

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