ElisaZeit heilt keine Wunden

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Die Sonne scheint hoch am Himmel. Überall am Wegesrand sind Blumen zu sehen. Maiglöckchen, Gänseblümchen, Krokusse und noch viele weitere. Es ist warm, aber nicht zu warm. Ein laues Lüftchen weht und die Bäume werfen Schatten.

Lina trägt ihre Lederjacke und lässige Sneaker. Ihre Sonnenbrille hat sie in ihr Haar geschoben. Um ihre rechte Schulter hängt ein Beutel. Lina hasst Handtaschen über alles. Die sind so umständlich, da ist ein einfacher Beutel viel angenehmer. In der linken Hand hält sie eine Kippe.

Eigentlich möchte Lina mit dem Rauchen aufhören. So oft hat sie es bereits geplant. Jedoch ist ihr immer was dazwischen gekommen. Eine Krise nach der anderen. Das Rauchen ist ihre Art damit umzugehen. Sie weiß, dass es keine gute Art ist, aber immer noch besser als Alkohol. Das Thema hatte sie auch schon durch. Fast wäre sie in der Notaufnahme gelandet mit einer Alkoholvergiftung. Jedoch wurde sie gerade noch von einem guten Freund gestoppt.

Und wie hatte er es gemerkt? Sie war für ein paar Tage nicht mehr auf Socialmedia unterwegs. Nie hätte Lina gedacht, dass es ihm auffallen würde. Benjamin hat so viel zu tun. Sie selbst ist die meiste Zeit mit ihrem Studium beschäftigt. Mathematik in Medizin und Lebenswissenschaften. Kaum zu glauben, dass sie versucht das durch zu ziehen. Mathe ist zwar ihr Ding, aber sie hat es komplett unterschätzt. Wenn sie nicht gerade in der Uni ist, lernt sie entweder zu Hause oder in der Bibliothek. Gerade sind aber Semesterferien und sie nutzt die freie Zeit anders.

Lina verbringt viel ihrer freien Zeit mit Lesen. Sie liest mittlerweile seit fünfzehn Jahren. Sie weiß gar nicht mehr, wie sie es mit fünf Jahren damals gelernt hatte.

Gerade ist sie wieder auf dem Weg zu einem Bücherladen. Ihre Bücher sind alle ausgelesen. Zwar liest sie viel ihre Thriller und Fantasy Bücher, jedoch beschäftigt sie sich im Moment auch mit einem anderen Thema vermehrt und holt sich dazu ab und zu Fachbücher.

Lina biegt zunächst um die Ecke, schnippt ihre Kippe auf den Boden, tritt sie aus und lässt ihre Sonnenbrille auf ihre Nase fallen. Sie hat keine Lust mehr. Sie kann nicht mehr. Sie ist einfach am Ende.

„Guten Tag“, sagt Lina, als sie den Buchladen betritt.

„Auch wieder hier? Schon die neuen Bücher ausgelesen?“, fragt die Mitarbeiterin sie.

Lina nickt und geht dann weiter in den Laden. Inzwischen ist sie hier gut bekannt. Mindestens einmal die Woche kommt sie her, um sich neue Bücher zu kaufen. Zunächst geht sie in die Thriller Ecke. Gerade ist ein neues Buch von einem ihrer Lieblingsautoren rausgekommen. Sie schnappt sich das Buch und schaut sich dann noch weiter um. Sie stöbert so viel in Buchläden, dass sie genug Bücher findet, die sie gerne lesen möchte.

„Hmmm“, sagt sie leise. „Da ist es ja.“

Sie zieht ein Buch aus dem Regal. Auf dem Frontdeckel steht DNA. Genau das Buch was sie jetzt braucht. Vielleicht steht da auch was Interessantes zu ihrem Problem drin.

Lina wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr, schaut sich kurz um und geht dann weiter in den Fantasy Bereich. Dort schaut sie sich nicht um, sondern greift einfach zwei Bücher aus dem Regal und macht sich dann gleich weiter auf den Weg zu den Fachbüchern. Sie traut sich kaum hierhin. Es ist ihr peinlich. Es ist ihr so peinlich, dass sie sich schon Fachbücher gekauft hatte, die sie gar nicht brauchte, nur um den Anschein zu erwecken, dass sie die Bücher für ihr Studium benötigt.

So hatte sie sich bereits Bücher über Depressionen, Rett-Syndrom und Nekrophilie gekauft. Inzwischen kauft sie aber viele Bücher über das Thema, worum sie sich wirklich Gedanken machte, PTBS. Posttraumatische Belastungsstörung. Es steht eine Vermutung im Raum, die sie klären muss. Etwas, worüber sie sich bereits lange Gedanken macht. Eine Sache, dir ihr nicht mehr aus dem Kopf geht. Etwas unheimliches, was ihr das Überleben fast unmöglich macht. Sie weiß nicht, was…

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Wie, … was?“, fragt Lina verwirrt, während sie sich verschreckt umblickt. Ihr Blick fällt auf einen jungen Mann. Er muss Anfang dreißig sein. Es verwirrt sie, dass er sie einfach anspricht.

„Ich dachte nur, weil Sie hier so in die Ferne schauen und sich seit ein paar Minuten nicht geregt haben“.

„Oh.. ähh. Nein danke, alles gut. Ich habe nur nachgedacht.“

„Wenn ich Ihnen doch behilflich sein kann, sagen sie Bescheid“, und mit diesen Worten dreht er sich um und geht weiter durch den Laden.

Lina murmelt noch ein leises: „Danke“, hinterher und dreht sich dann zum Bücherregal zurück. Diese Konversation bringt sie durcheinander.

Lina geht zur Kasse, bezahlt die Bücher, was mal wieder nicht günstig ist, da es erneut fünf Stück geworden sind und macht sich dann auf den Weg nach Hause.

Zu Hause legt sie die Unterhaltungsliteratur beiseite, setzt sich auf die Couch und schaut sich das Fachbuch genauer an. Das Buch ist noch eingeschweißt.

Sie macht sich vorsichtig daran, dass Buch vom Plastik zu befreien. Dann öffnet sie es, blättert ein wenig in dem Buch rum und da liegt es.

Ein Handy.

In einer kleinen Aushöhlung, sodass es genau dort hinein passt. Zunächst denkt sie daran, dass sie ein falsches Buch erwischt hat und es von Sebastian Fitzek ist. Er macht gerne solche Scherze in seinen Erstausgaben. Aber nein. Sie hält das Fachbuch in den Händen, welches sie haben wollte.

Es wäre klug, es dem Buchladen zu melden, aber dafür ist Lina zu neugierig. Sie nimmt das Handy vorsichtig heraus und schaut es sich zunächst von außen an. Sie sieht nichts Außergewöhnliches. Sie drückt einen Knopf und…

„Bitte Passwort eingeben. Wirklich jetzt? Was macht ein Handy in einem verschweißten Buch, wo man auch noch ein Passwort benötigt?“, fragt sich Lina mit leiser, genervter Stimme. Sie kann es sich nicht erklären.

Ihr Blick fällt zurück ins Buch und sie erkennt einen Zettel, den sie vorher übersehen hat. Auf dem Zettel steht Ist dir das Passwort etwa nicht klar? Dabei hat dir das Handy die Lösung schon verraten.

Der Tag verwirrt Lina immer mehr und mehr. Sie schaut zurück auf das Handy und ihr kommt ein Geistesblitz. Sie tippt kurz was ins Handy, klickt ok und lächelt dann kurz.

„Was für ein dämliches Passwort“, sagt sie leise. „Bitte Passwort eingeben. Wer kann denn ahnen, dass das das Passwort ist“.

Lina kann das Handy jetzt nutzen, auch wenn in ihr das Gefühl hochkommt, dass das Handy nur für sie bestimmt ist. Diese direkte Aufforderung mit dem Passwort. Sie klickt auf Kontakte. Keine Kontakte vorhanden. Wie kann sie denn noch heraus finden, von wem das Handy sein kann. Keine wirklichen Apps, keine Spiele und keine Kontakte.

Da kommt ihr eine andere Idee. Vielleicht sind Bilder auf dem Handy. Sie macht kurz ein paar Klicks, klickt dann auf Galerie und schreit laut auf. Vor lauter Schreck lässt sie das Handy fallen. Sie atmet tief ein und aus und kämpft mit den Tränen. Sie kann es nicht fassen was sie da sieht. Wie ist das möglich? Wie? Wie kommt ein Handy mit Fotos von ihr in ein Buch, welches verschweißt in einem Bücherregal im Buchladen steht?

Doch eines ist ihr jetzt klar. Das Handy ist für sie bestimmt. Jemand wusste ganz genau, dass sie dieses Buch nehmen würde. Jemand muss sie beobachtet haben. Immer wieder, sodass der Person klar wurde, dass sie diese Bücher kauft. Oder vielleicht war es der Mitarbeiter aus dem Buchladen, der das Buch vertauscht hatte, während sie umherschaute. War er überhaupt ein Mitarbeiter? Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Denn dann hätte er gewusst, welche Bücher sie immer kauft. Er muss es gewesen sein. Er war es. Bestimmt.

Lina hebt das Handy wieder auf. Es hat einen kleinen Sprung im Display. Sie macht sich daran, die Bilder genauer anzuschauen. Auf einigen ist sie im Buchladen zu sehen, auf anderen steht sie in einer Küche.

Aber das ist unmöglich. Sie hatte seit fünfzehn Jahren keine Küche mehr betreten.

Sie macht sich gleich wieder auf den Weg zum Buchladen. Sie musste den Typen einfach ansprechen. Er hat sich bestimmt nur als Mitarbeiter ausgegeben. Anders war es nicht möglich.

Aber wer war er? Wieso hat er Fotos gefälscht, wo ich in der Küche stehe? Fünfzehn Jahre war ich in keiner Küche mehr. Und ich glaube, ich weiß jetzt auch warum. Vor fünfzehn Jahren war ich allein zu Hause. Meine Eltern waren unterwegs. Keine Ahnung wo genau. Jedenfalls wollte ich mir glaube was zu Essen machen. Und ich habe ein leises Geräusch gehört, mich aber nicht weiter darum gekümmert. Aber auf einmal stand da wer in der Tür. Jemand fremdes. Und dann.. Dann..

 

Lina kommt an der Buchhandlung an und ignoriert den Rest der Gedanken. Sie hat andere Sorgen. Da hinten ist er. Der Mann. Wieso ist er noch da?

„Entschuldigung?“, sagt Lina laut, aber mit zittriger Stimme, während sie auf den Mann zu geht.

Er dreht sich um.

„Ja?“

„Wieso?“

„Wieso was?“, fragt der Mann verwirrt.

„Wieso haben Sie mir ein Handy zugespielt auf dem Fotos von mir sind? Was soll das? Was habe ich Ihnen getan?“ Lina kennt aus Büchern, dass eine direkte Konfrontation immer besser ist. Die Menschen machen dann eher Fehler und geben Dinge zu, die sie nicht zugeben wollten.

„Es tut mir leid, aber ich weiß nicht was sie von mir wollen. Wenn sie mich jetzt auch entschuldigen würden. Ich muss weiter arbeiten.“

Sie konnte es nicht fassen. „Weiterarbeiten? Sie arbeiten hier nicht. Sonst würden Sie mich kennen? Ich bin hier regelmäßig. Sie hätten nie gefragt, was bei mir los sei. Also was wollen Sie von mir? Sagen Sie mir was!“, schreit Lina mit Tränen in den Augen.

Inzwischen schauen die anderen Kunden sie beide an. Aber ihr ist es egal. Sie starrt den Mann vor ihr an. Vor Wut und Angst. Da kommt eine Mitarbeiterin auf die beiden zu.

„Was ist denn hier los Lina?“, fragt sie sie. „Wieso schreist du ihn so sehr an?“

„Wer ist das?“, fragt Lina leise.

„Das ist Herr Wolfheimer. Heute ist sein erster Arbeitstag bei uns. Was hat er denn getan?“

Damit bricht ihre Theorie zusammen.

Er kann es nicht gewesen sein. Wenn heute sein erster Arbeitstag ist, kennt er mich nicht. Und somit weiß er nicht, was für Bücher ich mir kaufe. Aber wer ist es dann gewesen?

„Lina?“, fragt die Mitarbeiterin vorsichtig.

„Nichts. Schon gut. Tut mir leid, Herr Wolf….“

„Wolfheimer. Schon in Ordnung.“

Lina dreht sich um und verlässt den Laden. Ihr ist das peinlich. Den Buchladen wird sie nie mehr betreten können.

Auf dem Weg nach Hause nimmt sie einen Umweg. Sie muss nochmal ans Wasser. Nachdenken. Und sie kennt keinen Ort, der besser geeignet ist. Die komplette Ruhe. Keine Verkehrsmittel und Menschen sind um diese Zeit auch selten dort, da es fast dunkel ist und die meisten keine Lust haben, hier nochmal her zu kommen. Aber hier kann sie nachdenken.

Lina starrt aufs Wasser. Die letzten Sonnenstrahlen kitzeln ihr Gesicht.

Also der Mann war es anscheinend nicht. Aber wer dann? Die Person muss auch regelmäßig im Buchladen sein. Sie muss mich kennen? Muss wissen, welche Bücher ich kaufe. Oder doch wer von der Uni? Irgendjemand, der was mitbekommen hat? Nein, nicht möglich. Ich habe niemanden gegenüber erwähnt, dass ich Bücher gerne lese. Geschweige denn, dass ich mir Fachbücher kaufe. Und ganz sicher nicht, über welche Themen.

Arbeit auch nicht. Familie habe ich nicht mehr. Ich bin schon immer die Einzelgängerin gewesen. Also doch wer aus dem Buchladen? Vielleicht eine andere Mitarbeiterin? Oder jemand ganz fremdes? Jemand, der mich schon lange beobachtet hat?
Aber wer? Und wie? Wie ist das möglich? Die ganzen Fotos. Die auch noch gefälscht sind zum Teil.

„Mama, ich habe Angst. Ich brauche dich“, flüstert Lina leise.

Auf einmal hört sie ein Knacken hinter sich. Während sie sich umdreht, wischt sie ihre Tränen weg.

Doch die Person, die dasteht, kennt sie nicht. Sie versucht wen zu erkennen, aber sie kann nur grobe Gesichtszüge ausmachen.

„Soso, du vermisst also deine Mami?“, fragt eine höhnische Stimme.

„Wer sind sie?“, fragt Lina. Sie hält sich am Geländer fest und geht langsam rückwärts. Vorsichtig bedacht, nicht zu stürzen. Aber sie muss weiter ins Licht kommen.

„Habe ich dir Angst gemacht?“, fragt die Stimme.

Lina antwortet darauf nicht. Sie geht weiter rückwärts und die Person folgt ihr.

„Hast du das Handy gefunden und Bilder darauf von dir entdeckt? Großartig siehst du da aus. Die Fotos kommen gut zur Geltung, nicht wahr?“, fragt die Stimme immer höhnischer.

„Was wollen Sie von mir?“, fragt Lina erneut.

Die Person ignoriert sie. „Ich meine solche Gesichtszüge. Immer fest entschlossen. Deine Größe.. Ich meine, wow. Dein langes Haar, welches so schön im Wind weht. Und deine Augen, deine Brüste. Dein ganzer Körper ist ein Spektakel.“

„Lassen Sie mich bitte in Ruhe.“

„Aber nicht doch. Ich tue dir doch gar nichts. Wir unterhalten uns nur. Mehr ist es nicht.“

Lina kann das hämische Grinsen hören. Ihre Angst steigt. Sie sieht nur eine Möglichkeit…

„Dann erzähl mal was von dir“, sagt sie.

„Aber aber. Gerade reden wir doch über dich. Nicht so bescheiden sein. Du bist doch so toll. Mit fünf schon in den Nachrichten gewesen. Also wirklich.“
„Ist das so? Was ist daran so toll?“, während Lina das fragt macht sie sich bereit umzudrehen und weg zu laufen. Ihre einzige Chance. Ihre Chance an die Straße zu kommen und ein Auto anzuhalten.

„Was daran so toll ist? Mit fünf Jahren schon berühmt? Mehr kann man als junge Lady doch nicht wollen, oder?“

Lina hört jetzt auf zu reden. Sie muss sich vorbereiten.

„Na jetzt antworte mir schon. Du dumme Göre! Ignorier mich nicht!“, schreit er mit solch einer Wut, dass Lina eine Gänsehaut bekommt.

Sie kann nicht anders. Sie dreht sich um und läuft. Läuft so schnell sie nur kann den kleinen Hügel hinauf. Sie hört Schritte hinter sich, doch sie dreht sich nicht um. Oben an der Straße angekommen blickt sie sich kurz um und läuft dann nach rechts. Sie muss nur zu der nächsten Kreuzung kommen. Dann hat sie es geschafft. Dann ist sie in Sicherheit. Dann..

Lina stolpert und fällt hin. Ihr Schnürsenkel ist aufgegangen. Gerade möchte sie sich aufrichten, da hört sie die Person hinter sich.

„Warum läufst du denn einfach weg? Wir haben doch nur geredet.“

Lina dreht sich auf dem Boden um. Über ihr steht ein Mann. In der ausgestreckten Hand hält er einen Revolver.

„Was wollen Sie von mir?“, fragt Lina mit Tränen in den Augen. „Was habe ich Ihnen getan?“

„Aber aber. Nicht so schnell. Der Reihe nach. Die Fotos.“

„Was ist damit?“

„In denen bist du in einer Küche.“

„Das habe ich gesehen. Aber das ist unmöglich. Die haben sie gefälscht.“

„Natürlich habe ich das. Aber warum?“

„Woher soll ich das denn wissen?“, fragt Lina verunsichert. Währenddessen versucht sie aufzustehen.

„Nicht so schnell. Wenn du aufstehen willst, dann schön langsam.“

Lina steht langsam auf und lässt den Mann nicht aus den Augen. Er muss Anfang/ Mitte dreißig sein.

„Und ja die Fotos. Ich habe gehofft dir damit auf die Sprünge zu helfen. Die Küche war doch eindeutig. Erinnerst du dich nicht? An die Einrichtung deiner Eltern?“

„Moment. Wollen Sie sagen, dass das die Küche meiner Eltern ist?“

„Natürlich. Dass du dich daran nicht erinnerst.“

„Ich war fünf. Wie soll mich da an sowas erinnern? Außerdem….“, Lina brach im Satz ab.

„Ja? Na los, erzähl schon. Sag was du sagen wolltest. Ich weiß es zwar schon, aber ich möchte es aus deinem Mund hören. Jetzt sag schon! Oder muss ich dir auf die Sprünge helfen?“, fragt er hämisch und wedelt mit dem Revolver umher.

Lina atmet tief durch. „Damals als ich fünf war, war ich allein zu Hause und wollte mir gerade was zu essen machen. Und ich weiß nicht mehr wie, aber da stand auf einmal ein Mann im Türrahmen. Er sah mich und hat mich gefragt, wo meine Eltern seien. Ich sagte, sie seien unterwegs. Da ist er nähergekommen und hat gesagt, dass alles gut wäre. Er sei kein böser Mann. Er wollte mir was zeigen. Dafür sollte ich mich auf den Boden legen. Das habe ich gemacht. Und dann… dann….“ Lina schossen die Tränen ins Gesicht. Sich daran zu erinnern und es zu erzählen, das war zu viel.

„Und was dann?“, fragte der Mann aggressiv.

„Dann hat er mich vergewaltigt“, sagte Lina leise, nachdem sie nach Luft rang.

Ein paar Sekunden herrscht Stille.

„LÜGE!“, schreit der junge Mann auf einmal so laut, dass sich Lina erschreckt. „Der Mann hat dich nicht vergewaltigt. Es ist alles eine Lüge. Du tust nur so, als ob du keine Küche betreten könntest. Das wurde alles von deinen Eltern inszeniert. Also halt dein Maul! Hör auf, sowas zu erzählen! Ich.. Ich werde dir jetzt dich Wahrheit erzählen.“

Lina schaut ihn an und weicht langsam zurück. Millimeter um Millimeter.

„Deine Eltern haben der Polizei lügen erzählt. Der Mann, der dich vergewaltigt haben soll, ist mein Bruder. Er sitzt seitdem im Gefängnis. Aber er hat dich nicht vergewaltigt. Das würde er nie wagen. Deine Eltern wollten ihm was anhängen, weil sie Probleme mit unserem Vater hatten. Angeblich irgendwelche Aktien. Oder Veruntreuung. Was weiß ich. Aber deine Eltern haben es an meinem Bruder ausgelassen. Er konnte nichts dafür.“

„Das ist eine Lüge. Meine Eltern hätten sowas nie gemacht. Ich wurde vergewaltigt. Das hat damals auch ein Arzt festgestellt.“

„Dann wurde der Arzt halt bezahlt.“

„Und selbst wenn. Ich kann bis heute keine Küche mehr betreten. Wie erklärst du dir das bitte?! Wie?!“

„Das haben dir deine nichtsnutzigen Eltern eingeredet. Du warst fünf. Du wirst dich kaum an was erinnern.“

„Ich glaub dir nicht. Meine Eltern würden sowas nie tun. Dein Bruder hat mich ohne Grund vergewaltigt. Vielleicht war das seine Rache, für eure Eltern.“

Lina wusste nicht, woher sie den Mut nahm, aber er war da.

„Er hat dich nicht vergewaltigt. Kapier das doch. Und du bist geschädigt? Ich bin geschädigt! Mein Bruder ist für die Anschuldigungen ins Gefängnis gekommen. Meine Eltern haben den Verlust nicht verkraftet und sind gestorben. Seitdem bin ich allein. Ich habe niemanden mehr!“, der Mann wurde leiser. Lina glaubt Tränen zu hören.

„Was wollen Sie jetzt von mir?“, fragt Lina ruhig.

„Das du der Polizei sagst, dass alles eine Lüge war. Du sagst ihnen, dass es nicht stimmt, was damals gesagt wurde. Dann werden die Untersuchungen erneut gemacht und mein Bruder kommt frei. Mehr will ich nicht.“

„Es stimmt aber. Außerdem geht es nicht so einfach. Die Polizei muss es erstmal glauben und die Untersuchungen gehen dann auch Monate.“

„Dann verkauf es der Polizei halt glaubhaft. Aber mach es einfach. Und wenn er dann in ein paar Monaten frei ist, ist es besser als in ein paar Jahren. Also mach es. Das ist keine bitte!“

Lina weiß nicht was sie tun soll. Sie muss auf eine Chance hoffen. Eine Chance um zu flüchten. Da fällt es ihr ein. Sie muss einfach so tun, als ob ein Auto kommen würde. Dann kann sie davon laufen.

„Ok“, sagt sie leise und hebt darauf gleich ihre Hand. „Hier. Hilfe“, ruft sie.

Es hat bewirkt, was es bewirken soll. Der Mann dreht sich um und Lina nutzt die Chance, dreht sich ebenfalls um und beginnt zulaufen. Ohne zu wissen, dass da tatsächlich wer steht.

Der Mond scheint hoch am Himmel.

Dann fällt ein Schuss.

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