LauraMayerTotgeschwiegen

Ich stehe auf dem Friedhof, mitten in der Nacht und es ist kalt, so kalt, dass ich zittere. Seltsam, dass ich bei diesem Wetter keine Jacke trage. Der Mond wirft ein unheimliches Licht auf die Grabsteine. Es sieht gespenstisch aus, doch ich habe keine Angst. Mein Blick wandert über die vielen, kunstvoll verzierten Marmorsteine, als ich plötzlich etwas entdecke: Weiter dort hinten, etwas Abseits der anderen Gräber, ist ein frisch aufgeworfener Grabhügel. Ich erkenne es daran, dass er mit zahlreichen Kränzen, Gestecken und Lichtern geschmückt ist. Ich bin erst einmal auf einer Beerdigung gewesen, vor sehr langer Zeit, trotzdem haben sich die Bilder in mein Gedächtnis gebrannt. Ich habe das Gefühl, als müsse ich weiter herantreten. Noch bevor sich mein Verstand melden kann, haben meine Beine die Entscheidung für mich getroffen. Sie führen mich langsam, aber bestimmend hinüber zu dem Grab. Der Geruch von nasser Erde und Nelken steigt mir in die Nase. Je näher ich dem Grabhügel komme, je mehr stelle ich mir die Frage, wieso ich überhaupt hier bin? Nachts, ganz allein auf einem Friedhof. Ich will meinen Kopf in Richtung des Ausgangs drehen, doch irgendetwas hält mich davon ab. Dann stehe ich direkt vor dem hölzernem Kreuz; Genau wie damals. Ein widerlicher Schauer jagt mir über den Rücken,als ich die schwarzen Buchstaben darauf erkenne und sie sich allmählich zu einem Namen zusammensetzen. Ich möchte wegsehen, will nicht wissen wessen Name auf dem hellen Holz zum Vorschein kommen würde. Denn tief in mir, weiß ich es bereits, weiß ich, wer dort begraben liegt, doch mag es nicht sehen, dann würde es real werden. Ich spüre die feuchte Erde unter meinen nackten Zehen; glitschig und schmierig ist sie. Als ich an mir heruntersehe, erkenne ich, dass nicht nur meine Füße in schwarzer Friedhofserde getränkt sind, auch an meinen Händen klebt die matschige Substanz. Aus dem Grab dringt ein Flüstern zu mir herauf. Ich verstehe die Worte nicht, doch sie machen mir Angst und geben mir das Gefühl schuldig an etwas zu sein. Plötzlich schießen zwei lange und bleiche Arme mit dreckigen Händen aus der Erde hervor. Die verfaulten Finger umklammern meine Knöchel und ziehen so heftig daran, dass ich zu Boden falle. Ich kann nicht schreien und mich auch nicht bewegen. Niemand ist hier, der mich retten kann. Ich starre geschockt auf die bleichen Hände, an welchen der Verwesungsprozess schon deutlich zu sehen ist. Mein Herz bleibt stehen, mein Atem stockt und ich weiß, er wird mich mit sich fortnehmen…

Schweißgebadet wache ich auf. Meine kleine Nachttischlampe brennt immer noch. Kurz und unruhig geht meine Atmung, erst dann realisiere ich, dass es nur ein Traum war. Derselbe Traum wie immer, wie in jeder einzelnen Nacht. Ich wische mir mit der Hand meine blonden Haare aus dem Gesicht, welche klebrig vom Schweiß sind. Dann sehe ich mich um. Ich bin in meinem alten Kinderzimmer, im Haus meiner Eltern. Neben mir liegen noch die Bücher aus der Uni, in denen ich bis tief in die Nacht gelesen habe. Es sind zwar Semesterferien, weswegen ich auch zu Hause bin, dennoch ist mir ein guter Abschluss sehr wichtig. Noch immer verwirrt starre ich auf meine Uhr; sie zeigt kurz nach Acht Uhr morgens an. Ein tiefes Seufzen entkommt mir, während ich versuche die Gedanken an den Traum zu verscheuchen und obwohl mich dieser jede Nacht verfolgt, so brauche ich trotzdem meine Zeit, bis ich ihn verarbeitet habe. Früher war ich deswegen bei einem Psychologen, das hat mir aber nicht geholfen. Langsam komme ich in die Gänge und stehe auf um ins Badezimmer zu gehen. Dort angekommen, öffne ich als erstes den Spiegelschrank und nehme meine Medikamente ein, die sollen mir helfen mit meinen Panikattacken und Angstzuständen zurecht zu kommen. Keine Ahnung ob sie wirklich etwas bezwecken, ich nehme sie aber trotzdem. Schnell streife ich mir mein feuchtes Nachthemd über den Kopf und steige unter die Dusche. Das klare Wasser hilft mir dabei, die hässlichen Gedanken beiseite zu schieben, das rede ich mir jedenfalls ein. Als ich wieder vor dem Spiegel stehe, erkenne ich, wie müde ich aussehe; In diesem Moment war nichts von der jungen, aufstrebenden Journalistin zu sehen, welche ich in der Uni immer vorgebe zu sein. Mit dem Handtuch um meinen Oberkörper geschlungen, gehe ich zurück in mein Zimmer, um mir aus meinem Koffer ein paar Klamotten für den heutigen Tag herauszusuchen, doch schon als ich auf der Türschwelle stehe, entdecke ich etwas, was nicht in diesen Raum gehört: Ein Stück Papier, welches in meinem Fenster klemmt. Beim näher kommen erkenne ich, dass es sich um einen Brief handelt. Ich greife danach. Auf der äußeren Hülle steht nichts, kein Absender, kein Empfänger. Ich reiße den Umschlag auf und entnehme ihm ein Bild. Kurz bleibt mir der Atem weg, als ich sehe, was darauf abgebildet ist. Mein großer Bruder Jannes, sein bester Freund Timur und ich, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wann dieses Bild entstanden ist. Es war an dem Tag, an dem der Unfall passierte. Mir wird schwindelig, als ich mir unsere lachenden Gesichter ansehe. Ich drehe das Bild in meinen Händen und stelle entsetzt fest, dass jemand etwas darauf geschrieben hat: „Ich weiß was du getan hast und ich will, dass du es nochmal tust.“ Mir wird übel. Wer schreibt mir so einen Brief? Und was soll ich getan haben? Ich drehe erneut das Bild und sehe mir das Foto nochmal genau an. Es war ein Unfall, ein schrecklicher Unfall! Aber ich habe nichts damit zutun! Oder vielleicht doch? Weiß derjenige etwas, was ich nicht weiß? Meine Erinnerungen an jenen Sommertag, sind verschwommen, ich weiß nicht mehr was damals passiert ist. Panik steigt in mir auf, plötzlich stelle ich alles infrage. Timur war beim spielen mit mir und meinem Bruder versehentlich eine Klippe hinuntergestürzt, es ist ein Unfall gewesen! Das haben auch meine Eltern gesagt. Ich lasse das Foto sinken und denke angestrengt nach. Tausende Fragen wirbeln mir durch den Kopf: Warum legt mir jemand ein Bild von mir, mit rätselhaften Worten, in mein Fenster? Woher kennt mich derjenige und wieso weiß der unbekannte Schreiber wo ich mich gerade befinde? Ich schüttel mich bei dem Gedanken daran, dass ein Fremder durch mein Zimmerfenster geschaut hat und mich womöglich schon länger beobachtet. Ich setze mich auf mein Bett, als mir noch etwas einfällt: Meine Eltern haben meinen Bruder, kurz nach Timurs Beerdigung, weggeschickt. Damals erzählten sie mir, dass Jannes auf ein Internat gehen würde, erst sehr spät erfuhr ich, dass er krank ist und in einer Psychiatrie untergebracht wurde. Könnte das etwas zu bedeuten haben? Ich habe oft nachgefragt wie es ihm geht und ob er bald nach Hause kommt, meine Eltern aber erzählten mir immer nur das nötigste und irgendwann habe ich aufgehört Fragen zu stellen. Doch jetzt, da ich dieses Bild zwischen meinen Fingern halte und mich ein beklemmendes Gefühl beschleicht, weiß ich, dass ich nach Antworten suchen muss, ich muss die Wahrheit über meinen Bruder und über mich erfahren, ich muss wissen was damals wirklich passiert ist und ich muss herausfinden, wer mir diesen Brief ins Fenster geklemmt hat. Meine Gedanken überschlagen sich fast, während ich mich zu erinnern versuche. Plötzlich kommen mir auch noch meine Träume in den Sinn; könnten diese etwa unverarbeitete Erinnerungen sein? Weiß mein Unterbewusstsein, dass ich doch nicht so unschuldig bin, wie ich es all die Jahre dachte? Kann es sein, dass ich etwas mit Timurs Tod zutun habe? Alles um mich herum beginnt sich zu drehen, während ich mir die Frage stelle, wer ich eigentlich wirklich bin und ob ich zu so etwas fähig sein könnte. Ich lege das Foto samt Umschlag auf meinem Schreibtisch ab und versuche einen möglichst kühlen Kopf zu bewahren. Vielleicht ist der Brief auch einfach nur ein blöder Jugendstreich von einem der Nachbarskinder und es hat möglicherweise überhaupt nichts zu bedeuten? Ich binde mir meine langen, blonden Haare zu einem Zopf zusammen und entscheide mich für eine einfache Hose und ein T-Shirt, bevor ich nach unten gehe. Ich nehme mir vor, mit meinen Eltern über Jannes zu reden. Die Beiden wollen gerade zu einem Ausflug aufbrechen, als ich die Treppen herunterkomme. „Mama, Papa ich muss mit euch reden“ fange ich das Gespräch an. Beide wechseln einen Blick, bevor mein Vater fragt, worüber ich sprechen will. Unsicher gehe ich die letzten zwei Stufen hinunter und beiße mir kurz auf die Innenseite meiner linken Wange, das mache ich oft, wenn ich gestresst bin. Ich weiß nicht wie ich meinen nächsten Satz anfangen soll und bemerke, wie meine Eltern langsam unruhig werden. „Über Jannes!“, platzt es aus mir heraus, „Ich muss mit euch über Jannes reden, es ist wichtig“, füge ich noch hinzu und erneut tauschen meine Mutter und mein Vater einen undefinierbaren Blick aus. „Ist gut, Betty“, sagt meine Mutter. „Was möchtest du wissen?“, für einen Moment bin ich irritiert, ich habe nicht damit gerechnet, dass sie bereit ist mit mir darüber zu sprechen. Kurz überlege ich, ob ich ihnen von dem Bild erzählen soll, entscheide mich dann aber dagegen. „Was ist damals bei der Teufelsschlucht wirklich passiert und warum habt ihr Jannes fort geschickt?“ Plötzlich sehen meine Eltern sehr erschöpft aus, als hätten sie Nächtelang keinen Schlaf bekommen. Meine Mutter legt ihre Handtasche zurück auf die Kommode, mein Vater schließt die Haustür. „Sie ist jetzt alt genug Bernhard, sie sollte es wissen“, beginnt meine Mutter, sieht meinen Vater dabei jedoch nicht an. Gespannt blicke ich von einem zum anderen und spüre wie sich mein Herzschlag beschleunigt. „An dem Tag, an dem Timur starb, gingen alle von einem schrecklichem Unfall aus, jeder in der Stadt war in großer Trauer um den kleinen Timur… es war nicht fair, dass er mit seinen 13 Jahren schon gehen musste, da waren sich alle einig und bis heute weiß niemand, außer uns, was damals wirklich passiert ist…“. Ich kann die Anspannung fühlen, sie ist zum greifen nah. „Niemand außer euch weiß was passiert ist? Was soll das heißen?“ bohre ich weiter und bin mir eigentlich gar nicht so sicher, ob ich die Antwort hören will. Meine Mutter schaut mich an, ihr Blick ist irgendwie leer. „Das soll heißen, dass es kein Unfall war…“ Ich schlucke schwer und muss mich irgendwo festhalten, das Treppengeländer ist mir am nähsten. „Einige Stunden nach Timurs Beerdigung, kam Jannes zu uns und erzählte, dass er es war, dass er Timur die Schlucht hinunter gestoßen hat… und er sagte auch, er hätte es für dich getan…“ Mir wird speiübel als ich das höre. Jannes hat es für mich getan? Was soll das nur bedeuten? „Ich verstehe das nicht…und wieso kann ich mich daran nicht erinnern?“ Nun liegt Mitgefühl in ihrem Blick, als sie mir kurz über den Oberarm streicht. „Dein Arzt sagte uns, dass du ein Trauma erlitten hast, du warst schließlich mit dabei, als es passierte. Er diagnostizierte dich mit einer dissoziativen Amnesie, deswegen kannst du dich nicht erinnern“, erklärt sie „und kurz nachdem uns dein Bruder alles gebeichtet hat, haben wir ihn in eine Einrichtung geschickt, wo er gut aufgehoben ist und dir nichts mehr anhaben kann“. Jetzt bin ich noch verwirrter: „Warum sollte er mir etwas anhaben wollen?“, frage ich und habe das Gefühl, dass ich diese Frage noch bereuen würde. „Du hast seinen Blick nicht gesehen, als er sagte, er habe es für dich getan… seine Augen waren so emotionslos und dunkel“, meldet sich mein Vater zu Wort. Ich sehe ihn an und weiß nicht was ich antworten soll. „Schätzchen, bitte mach dir keine Sorgen, er ist noch immer in der Psychiatrie und wird dort so schnell nicht rauskommen“. Ich denke an das Foto und bin mir bei dieser Aussage nicht ganz so sicher, dennoch sage ich nichts. „Ja, natürlich und jetzt geht ihr besser, sonst steht ihr euch noch die Beine in den Bauch“ meine ich und zwinge mich zu einem Lächeln. Beide fragen mich ob es wirklich in Ordnung für mich ist, wenn sie jetzt gehen würden und ich sage ja, auch wenn ich nicht weiß, ob es das wirklich ist. Mein Vater sagt noch, dass ein Paket für mich angekommen sei und er es für mich reingeholt hat. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, denn ich habe gar nichts bestellt. Meine Eltern gehen und ich nähere mich mit langsamen Schritten der Küche. Ich erkenne schon von weitem ein kleines, hellbraunes, viereckiges Kästchen, was dort auf dem Tresen steht. Ordentlich verpackt ist es, aber ein Absender steht wieder nicht drauf. Mit zitternden Fingern ziehe ich es auseinander und zum Vorschein kommen ein paar Erdklumpen. Fragend ziehe ich die Stirn in Falten und nehme einen der Brocken aus seiner Verpackung heraus. Plötzlich weiß ich, was dieser bedeutet oder besser formuliert: woher er kommt. Die Erde ist aus der Teufelsschlucht, dem Ort an dem der kleine Timur sein Leben lassen musste. Die rötliche Erde ist unverkennbar. Ich ekel mich vor dem Haufen an Erde und sehe zu, dass ich sie schnell wieder im Päckchen verstaue. Gänsehaut jagt mir über den Körper und ich fühle mich beobachtet. Unsicher blicke ich mich zu allen Seiten um, kann aber niemanden sehen. Ich fische in meiner Hosentasche nach meinem Handy und lehne mich an die Theke, während ich eine Textnachricht an meinen Freund Alex verfasse. Er wohnt immer noch hier, wir sehen uns nicht mehr sooft seit ich weggezogen bin. Meine Nachricht geht durch, wird aber nicht geöffnet, Alex ist nicht oft am Handy. Fürs Frühstück ist mir der Appetit vergangen, weshalb ich wieder nach oben gehe um etwas an meiner Hausarbeit zu schreiben, das bringt mich auf andere Gedanken und einer guten Note näher. Das Fenster schließe ich und setze mich so hin, dass ich meine Zimmertür gut im Blick habe. Sobald Alex mir antwortet, werde ich ihn fragen, ob er zu mir kommt, dann erzähle ich ihm von dem Foto und dem Päckchen. Ich kann mich nicht konzentrieren: ständig geht mein Blick zur Uhr oder auf mein Handy, meine Gedanken kreisen nur noch um meinen Bruder und die Nachricht auf dem Foto. Ich brauche Antworten, doch fürchte mich vor der Wahrheit. Es ist ein seltsames Gefühl. Unten geht etwas zu Bruch. Ich schrecke auf und starre zur Tür. Er ist hier, denke ich, er ist im Haus. So leise wie möglich schiebe ich meine Bücher von meinen Knien und steige aus meinem Bett. Manchmal knatscht es, aber ich weiß wie ich mich bewegen muss, damit es keine Geräusche macht. Ich versuche nicht so laut zu atmen, was aber nicht leicht ist, denn meine Atmung geht hektisch. Vorsichtig schiebe ich die Tür auf und spähe nach draußen in den Flur. Alles ist ruhig. Ich gehe weiter und finde den Auslöser des lauten Knalls. Eine Vase ist von ihrem Stehtisch runtergefallen. Der Hund meiner Eltern sitzt seelenruhig daneben und wedelt mit dem Schwanz. Er freut sich mich zu sehen und scheint ganz entspannt zu sein. Ich atme wieder normal und räume die Scherben weg, danach lasse ich den Hund raus in den Garten. Niemand ist im Haus, nur der Hund. Allmählich beruhige ich mich wieder und setze mich erneut an meine Hausarbeit. Es ist mittlerweile früher Nachmittag. Ich habe es geschafft ein paar Seiten zu schreiben. Alex hat immer noch nicht geantwortet und ich merke, wie langsam meine Medikamente wirken, sie machen mich immer schrecklich müde. Den Hund habe ich wieder ins Haus gelassen, er liegt jetzt auf meinem Teppich. Ich fühle mich sicherer, seit er hier ist, weswegen ich vom Schreibtisch aufstehe und mich in mein Bett lege. Nur für ein kurzes Nickerchen, denke ich noch, dann wird alles schwarz und ich falle in einen unruhigen Schlaf. Als ich wieder aufwache ist es Fünf Uhr am Abend. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und greife nach der Wasserflasche auf meinem Schreibtisch, dabei gleitet mein Blick zum Fenster. Mit Entsetzen stelle ich fest, dass wieder ein Stück Papier auf dem Fensterbrett liegt, diesmal von außen. Ich stehe auf und gehe hin. Das weiße Papier flattert im Wind, es wurde mit einem Stein befestigt. Ich schiebe das Fenster auf und nehme den Umschlag an mich. Ein paar Sekunden lang starre ich ihn nur an und überlege, ob ich es wirklich wagen und den Brief öffnen soll. Ich denke an den Letzten und an das Päckchen. Beide Inhalte haben mir fast einen Infarkt verpasst und bei diesem würde es sicher nicht anders sein. Ich fasse mir ein Herz und reiße dann auch diesen Brief auf. Diesmal beinhält er kein Foto, sondern einen kleinen Zettel mit derselben krakeligen Handschrift darauf. „Du willst die Wahrheit wissen? Dann komm an den Ort, an dem alles anfing. Wenn es beginnt zu dämmern, wirst du wissen wer du wirklich bist und das zu Ende bringen, was du angefangen hast.“ Ich muss den Text mehrmals lesen, denn ich verstehe ihn nicht. Wut kocht langsam in mir hoch. Wer glaubte dieser Schreiber eigentlich wer er ist? Diesen Psychoterror will ich mir nicht länger bieten lassen. Ich bin unschuldig und habe nichts zu verbergen, also werde ich tun was er von mir verlangt und zur Teufelsschlucht gehen. Ich sehe zum Fenster hinaus. Die Sonne hat schon einen niedrigen Stand. Ich werfe den Brief in meinen Mülleimer und gehe nach unten. Vielleicht ist es verrückt und gefährlich, sich mit jemandem zu treffen, der einem Drohbriefe ins Fenster klemmt und will, dass man im fast dunkeln durch den Wald stolpert, aber eine innere Stimme in mir zwingt mich dazu der Sache nachzugehen. Ich habe sie noch nie gehört, oder doch? Ich bin mir nicht sicher. Als ich meine Schuhe anhabe, schnappe ich mir noch einen Zettel und einen Stift, auf dem ich meinen Eltern eine Notiz hinterlasse, wo ich mich befinde. Diesen klebe ich an die Haustür und mache mich schließlich auf den Weg zur Teufelsschlucht. Etwas in mir beginnt sich zu regen, während ich den Wanderweg entlang schreite, ich weiß nur nicht was es ist; Erinnerungen? Eine Vorahnung? oder doch bloß mein gesunder Menschenverstand, der mir zubrüllt, dass ich wieder umkehren soll? Es hat leicht zu regnen angefangen. Ich verschränke meine Arme ineinander, um mich ein wenig vor der klammen Kälte zu schützen, ähnlich wie in meinen Träumen. Der Boden ist nass und glitschig. Meine Schuhe sind jetzt schon voller Matsch. Irgendwo knackt ein Ast und lässt mich kurz zusammenzucken. Was mache ich nur? Denke ich und langsam wird mir bewusst wie naiv und dumm ich eigentlich bin. Ich will umkehren, doch da sehe ich bereits die Kante, welche direkt in die Teufelsschlucht führt. Genau die Stelle, an der Timur gestürzt war. Ich bin nur ein paar Schritte entfernt. Mit einem mal durchzuckt mich etwas wie ein Stromschlag: Ich sehe Timur, wie er am Abgrund steht. Er schaut zu mir und ich bin starr vor Schreck. Er streckt seine Hand nach mir aus, doch dann wird er von einer schwarzen Gestalt so heftig geschubst, dass er nach vorne taumelt, abrutscht und mit einem lauten Schrei die Felsen hinunterstürzt. Sofort stürme ich zu ihm und spähe über den Rand; doch dort unten liegt niemand. „Und erinnerst du dich jetzt wieder?“, Ich fahre so heftig zusammen, dass ich fast vorn übergekippt wäre, als ich eine tiefe Stimme hinter mir vernehme. Ich wage es nicht mich umzudrehen, höre aber wie der Fremde einige Schritte näher kommt. Jetzt gibt es kein zurück mehr. „Du bist es, der mir die Briefe geschrieben und das Päckchen geschickt hat, habe ich Recht?“ konfrontiere ich ihn mit seinen Taten, doch er lacht nur leise und als er in die Hände klatscht, zucke ich abermals zusammen. „Bingo!“, sagt er und ich kann ihn grinsen hören. „Und jetzt dreh dich endlich um, ich will dein Gesicht sehen!“, kommandiert der Unbekannte und ich tue es; langsam und mit dem Blick nach unten gewandt. Erst sehe ich nur seine Schuhe; sie sind genauso in Matsch getränkt wie meine und ich denke an meinen Traum zurück. Ich lasse meinen Blick weiter nach oben wandern, bis ich an seinem Gesicht und den blonden Haaren angekommen bin, dieselbe blonde Haarfarbe wie meine es ist. Ich erschaudere und die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. „Jannes…“, sage ich atemlos und spüre wie mein Herz schmerzhaft gegen meine Brust hämmert. „Doppel bingo!“, ist alles was er sagt, während er noch einen Schritt auf mich zukommt. „Komm ja nicht näher, sonst…!“, „Sonst was?“ schneidet er mir das Wort ab, bleibt aber stehen. „Sonst schubst du mich genauso die Klippen hinunter, wie du es bei Timur getan hast?“, Ich sehe ihn nur verwirrt an und er lacht erneut. Sein Gelächter klingt wie das eines Wahnsinnigen. „Komm schon, ich will dass du dich erinnerst, an jedes einzelne, schmutzige, blutige Detail…“ sagt er mit einem Unterton in der Stimme, welcher mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt. „Jannes…ich weiß du hattest eine schwere Zeit…aber bitte, lass mich dir helfen, wir kriegen das wieder hin…“, versuche ich ihn zu besänftigen, scheine aber damit genau das Gegenteil bewirkt zu haben. Seine Augen verengen sich zu Schlitzen und er baut sich bedrohlich vor mir auf. „Wir kriegen das wieder hin? Wir?“, brüllt er mich an. „Und wo war dieses wir als ich für deine Schandtaten in eine Irrenanstalt wandern musste? Wo war das wir, als ich deine Strafe abgesessen habe…8 Jahre lang?“ ein tiefes Knurren entkommt seiner Kehle, es hört sich fast schon unmenschlich an. Ich will zurückweichen, doch ich stehe direkt am Abgrund. „Du hast meinen besten Freund kaltblütig ermordet und dennoch habe ich für dich eingestanden, unseren Eltern erzählt ich hätte ihn die Teufelsschlucht runtergeschubst, nur damit niemand je Verdacht schöpfen könnte, dass du es warst! Und du? Du hast es einfach vergessen und dein scheiß perfektes Leben gelebt, während ich in der Klapse war!“ Jannes Worte bewegen etwas in mir; Ich sehe Bilder vor meinem inneren Auge aufblitzen; Von Jannes und Timur, von mir und wie wir im Wald spielen. Ich erinnere mich wie ich weine und schreie, während Timur nach unten stürzt. Ich sehe Jannes Augen, sie funkeln vor Zorn. Dann schauen wir gemeinsam über den Abgrund. Mir wird schwindelig als die ganzen Erinnerungen auf mich einprasseln. Bunte, knisternde Lichter tanzen vor mir hin und her und ich habe das Gefühl ohnmächtig zu werden. Mit Tränen in den Augen schaue ich Jannes wieder ins Gesicht. Er steht noch immer wie angewurzelt da; vereinzelt tropft ihm der Regen von der Nasenspitze. Er sieht genau so aus wie ich, denke ich, nur in Männlich. Aber wir sind nicht gleich, in keinster Weise. Ich werde wütend und stelle mich aufrecht hin. „Ich weiß nicht was für ein Spiel du hier mit mir spielst, aber damit kommst du nicht durch! Ich rufe die Polizei, wenn du mich nicht sofort gehen lässt!“, drohe ich ihm und jetzt bin ich an der Reihe an ihn heranzutreten. Der Wind frischt auf und hinterlässt einen kalten Schauer auf meiner Haut. Einen Moment lang sagt Jannes gar nichts, doch dann verändert sich sein Blick. Er schaut mich an wie ein Raubtier seine Beute und mir wird klar, dass ich genau das Falsche gesagt habe. „Spring“ sagt er monoton und ich schaue ihn entsetzt an. „Was?“, frage ich zurück und hoffe, dass ich mich verhört habe. „Du sollst springen, Betty!“, wiederholt er, diesmal aber lauter und kommt nochmals ein paar Schritte näher, um mich nach hinten zu drängen. „Jetzt bist du an der Reihe deine Schuld zu begleichen. Der Tag der Abrechnung ist gekommen!“, Meine Eltern hatten Recht, mein Bruder ist wirklich psychisch krank und ich bereue es hergekommen zu sein. Sollte mein Leben wirklich so enden? In den Suizid getrieben, durch meinen eigenen Bruder? Das meinte er also, als er schrieb ich solle zu Ende bringen, was ich angefangen habe. „Worauf wartest du noch?! Tu es!“ brüllt er und ich überlege fieberhaft wie ich hier jemals lebend wieder herauskommen soll. Geistesgegenwärtig, bücke ich mich und grabe meine Finger in das matschige Erdreich. Blitzschnell stehe ich wieder aufrecht und werfe Jannes eine Handvoll Erde ins Gesicht – dann renne ich los. Ich höre seinen Wutschrei hinter mir, was mich weiter vorwärts treibt. Ich muss hier weg und zwar schnell! Doch Jannes ist schneller – seine Schritte kommen mir deutlich näher. Ich vernehme seinen keuchenden Atem und dann werde ich an meinem T-Shirt gepackt und zurück gerissen. Ich schreie und schlage um mich, versuche mich von ihm loszureißen und meinem Schicksal zu entkommen. Plötzlich spüre ich, wie ich falle und Jannes auf mir landet. Ich drehe und wende mich, doch dann schlingen sich seine starken Hände um meinen Hals und mir wird schlagartig die Luft abgedrückt. Ein widerliches Grinsen legt sich auf die Lippen meines Bruders, während er dabei zusieht wie ich verzweifelt versuche seine Finger von meinem Hals zu lösen. „All die Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet, kleine Schwester“, erzählt er. „Jede Nacht habe ich davon geträumt, wie unser Wiedersehen ablaufen würde: Würden wir uns in die Arme fallen? Würdest du mir ein Lächeln schenken? Lange habe ich auf so ein Wiedersehen gehofft, aber nach ein paar Jahren, habe ich begriffen, dass das nicht fair wäre… Es wäre nicht fair dich ungestraft davonkommen zu lassen. Immerhin hast du meinem besten Freund das Leben genommen und mir meines zur Hölle gemacht… Ich war so dumm, so so dumm…ich hätte unseren Eltern die Wahrheit sagen sollen, als ich die Chance dazu hatte, dann hätten sie dich fortgeschickt und ich hätte dein Leben leben können…“, ein Schatten huscht über sein Gesicht, dann redet er unbeirrt weiter: „Ich habe dich geliebt, Betty… Ich habe dich abgöttisch geliebt und nie hätte ich es zugelassen, dass dir etwas zustößt…aber jetzt, jetzt empfinde ich nur noch Hass für dich und erkenne endlich, wer das wahre Monster in der Familie ist…“ Unter dem gnadenlosen Druck um meine Kehle, wird das atmen immer schwerer. Ich höre Jannes Worte und verstehe diese, doch sie klingen, als seien sie Meilenweit entfernt. Vor meinen Augen tanzen purpurne Schlieren und ich höre langsam auf mich zu wehren, ich habe keine Kraft mehr. Obwohl mein Körper immer noch kämpft, fühlt sich allmählich alles viel leichter an, als würde mir jemand die Last des Lebens von den Schultern nehmen. Ich schließe die Augen und lasse meine Arme nach unten sinken. Das Laub unter meinen Fingern fühlt sich kühl an und langsam, aber sicher verliere ich das Bewusstsein. Ich habe mich schon mit dem Tod abgefunden, da strömt plötzlich klare, frische Luft in meine Lungen. Ich reiße die Augen auf und nehme, wie durch einen Schleier, zwei dunkle Gestalten wahr. Ich stütze mich auf und sauge gierig die kühle Abendluft ein, als neben mir jemand zu Boden geht. Es ist Jannes, der dort nun blutend zwischen Dreck und Blättern liegt. Ich huste und spüre wie mich augenblicklich ein Schmerz durchzuckt: durch meine Lungen, hinauf bis zu meinem Hals. Zwei starke Arme schlingen sich schützend um meinen wimmernden Körper und ich vernehme den Duft von Aftershave und Honig. Ich blicke zu meinem Retter auf. „Alex?“, raune ich und höre wie er erleichtert ausatmet. „Betty! Gott sei Dank…dir geht es gut“, Ich will ihn fragen, wie er mich gefunden hat, doch da fällt es mir ein: „Die Notiz…du hast sie gefunden“ stelle ich fest und schaue ihn an. Alex hilft mir hoch und ich blicke zurück zu Jannes; er regt sich nicht. Erst in diesem Moment, sehe ich den dicken Ast, den Alex noch immer in der Hand hält. „Ich habe die Polizei gerufen, sie wird gleich da sein“, versichert er mir und stützt mich, ich kann nicht mehr aufrecht stehen, meine Beine sind wie Gummi. Als Polizei und Rettungswagen schließlich eintreffen, nehmen sie Jannes augenblicklich in Gewahrsam. Ich werde von einem der Sanitäter behandelt; mir fehlt nichts, ich werde nur ein paar blaue Flecken davontragen. Alex steht bei einem der Polizeibeamten und schildert ihm, was er beobachtet hat. Ich starre vor mich hin und beiße mir auf die Innenseite meiner Wange. Meine Beine schwinge ich, über dem Rand des Rettungswagens, hin und her, wie auf einer Schaukel. Nebenbei summe ich leise die Melodie eines Schlafliedes, welches meine Mutter mir und Jannes immer vorgesungen hat, als wir noch Kinder waren. Mein Kopf fühlt sich so klar an wie noch nie und ich habe das Gefühl, dass ich keine Albträume mehr haben werde, denn ich konnte die Wand meiner fehlenden Erinnerungen vollständig durchbrechen. Dafür sollte ich Jannes, in gewisser Art und Weise dankbar sein, er hat mir die Augen geöffnet. Ich sehe wie der Wagen, in dem er sitzt, davonrauscht und spüre ein wohliges Kribbeln in meinem Bauch. Ein zufriedenes Grinsen legt sich auf meine Lippen und als meine Eltern voller Sorge auf mich zugestürmt kommen, weiß ich, dass ich es geschafft habe; Ich konnte sie alle täuschen, es ist genau wie damals, wie an jenem Sommertag. Ich nehme die Umarmung meiner Mutter entgegen und fühle mich lebendiger als je zuvor, denn nun weiß ich, wer ich wirklich bin.

Der Friedhof liegt still da und zarte Nebelschleier wabern über die Grabhügel. Hier und da flackern Grablichter und geben diesem Ort seine Lebendigkeit zurück. Ich trete an das frische Grab heran, welches mit hübschen Blumengestecken geschmückt ist. Der Schein einer kleinen Kerze wirft ein sanftes Licht auf den hellen Marmorstein und lässt die Inschrift darauf aufleuchten. Ich nehme eine weiße Rose hervor und lege sie auf den Grabstein, dann streiche ich mit den Fingern die goldene Schrift entlang und lächele. Ich gehe ein Stück zurück und verweile noch einen Moment, doch dann ist es Zeit zu gehen. Ich drehe mich um und gehe zum Ausgang. Flüsterndes Stimmengewirr verfolgt mich, doch ich blicke nicht zurück. Als ich das eiserne Tor durchschreite, höre ich, wie es sich hinter mir schließt.

-Ende-

28 thoughts on “Totgeschwiegen

  1. Hallo Laura!!

    Wirklich tolle und sehr spannende Geschichte. So stelle ich mir eine Kurzgeschichte vor! Mein Like hast du!

    LG, Florian

    PS. Ich würde mich auch sehr freuen, wenn du meine Geschichte lesen würdest – und auch über einen kurzen Kommentar ob und wie sie dir gefallen hat und vlt hinterlässt du mir sogar ein Like – aber nur für den Fall, dass sie dir wirklich gefallen hat.

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/schach-matt

  2. Liebe Laura

    Du hast eine großartige Geschichte geschrieben.
    Respekt.

    Das Ende, das Finale hat mich emotional ergriffen und bewegt
    Super schön.
    So müssen Kurzgeschichten enden.
    Und nicht anders.

    Du kannst sehr stolz auf dich sein.

    Deine Grundidee, deine Hauptprotagonisten, die umgesetzten Parameter, die Spannung, das Gefühl, deine Rechtssicherheit, dein Schreibstil … alles ausnahmslos super!

    Du hast ein riesiges Potenzial.
    Und ein Talent.
    Mach was draus.
    Und schreib weiter und weiter.
    Und Du wirst noch viele bezaubernde Geschichten schreiben.
    Und noch mehr Leserinnen und Leser erreichen.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg. Und noch viel mehr Likes.

    Ich lasse dir sehr gerne ein Like da.

    Dir persönlich wünsche ich nur das Beste der Welt.
    Bleib gesund.

    Ganz liebe Grüße.
    Swen Artmann (Artsneurosia)

    Magst du meine Geschichte auch lesen wollen?
    Würde mich freuen.

    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Alles Gute, Swen

  3. Moin Laura,

    lange nichts mehr passiert hier bei deiner Storie, was ich sehr schade finde…denn sie ist wirklich gut!

    Dein Plot und die Idee die dahinter steckt ist Super! Schon der Anfang packt dich und nimmt dich bis zum Ende mit.

    Deine große Stärke liegt meiner Meinung bei dir in dem transportieren von Gefühlen, Empfindungen, Emotionen. Du kannst sehr sinnlich schreiben, was mir sehr gut gefällt und vielen anderen Stories in diesem Wettbewerb fehlt.

    Ohne Frage…du hast Talent!

    Schreib weiter, weiter und weiter und du wirst noch viele Menschen mit deinem Schreiben erreichen.

    Mein Like Lass Ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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