Emse54 Minuten

 

Das Klingeln des Smartphones reißt Mark Kaiser aus seinen Gedanken. Noch etwas verwirrt geht er auf die Terrasse, und tastet geblendet von der bereits tiefstehenden Sonne nach dem Verursacher seiner sich annähernden Kopfschmerzen, die ihn seit Monaten plagen. „Kaiser?“, brummelt er in sein Telefon und seine Laune verschlechtert sich noch, als er die Stimme seines Vorgesetzten am anderen Ende vernimmt. Er solle sofort in die Firma kommen, es sei wichtig. Die Zahlen würden nicht stimmen, mal wieder, und außerdem wäre etwas für ihn abgegeben worden. Resigniert legt er auf. Er geht zurück in sein Wohnzimmer, dass von dem Versuch seines Besitzers nach etwas gehobenen, neidwürdigem auszusehen nur so zu bersten scheint. Die ockerfarbenen Wände gehen beinahe unter, unter all den vergoldeten Spiegeln und den Kopien teurer Kunstwerke. Alle gerahmt und für einen viel zu hohen Preis von einem Trödler abgekauft. Auf den alten Kastanienholzkommoden stehen geschmacklose Tierfiguren und hölzerne Kerzenständer, die offensichtlich ihre besten Tage schon hinter sich haben. Und mitten zwischen überteuertem Porzellan in den Schränken und einer aus Elfenbeinoptik gefertigten Giraffe mit drei Beinen stehen Vasen. Echte, chinesische Vasen, Gesamtwert; die gesamte restliche Einrichtung zusammen. Die wahren Gewinner des Wettbewerbs des Kitschs, und erstaunlicher Weise, das einzige, dass diesem unfairen Wettbewerb überhaupt gerecht werden konnte.

 

Mark schenkt all dem keine Beachtung, als er leise fluchend auf dem Weg in den Flur eine Schmerztablette einwirft. Er zieht seine Schuhe an, die erst vor 3 Tagen frisch geputzt wurden und nun schon wieder aussehen, als hätten sie niemals zuvor Wasser gesehen. Wann dieser dämliche Parkplatz vor dem Versandhandel für Antiquitäten, in dem er arbeitet, endlich geteert wird, ist ein genauso großes Rätsel, wie die Frage, wie er es jemals in die Personalabteilung geschafft hat. Doch genau das ist jetzt der Grund, weshalb er an seinem freien Tag die 20 Kilometer zu seinem Arbeitsplatz fährt um den Chef zu loben, dass er ganz alleine all die roten Zahlen in der Abrechnung entdeckt hatte. Dabei war das nicht das erste Mal. Vor zwei Jahren war bereits eine Mitarbeiterin verdächtigt worden, da bei einer Inventur die Abrechnung nicht mit der Anzahl der tatsächlich vorhandenen Gegenstände übereinstimmte. Sie war mit einer Entlassung davongekommen, auf eine Anzeige wurde verzichtet. Diebstahl in den eigenen Reihen, verrückt.

 

Mark kommt genau 23 Minuten später in seinem Büro an, von seinem Chef keine Spur. Dafür einige Notizen und der Abrechnungsbericht. Und ein Umschlag, ohne jegliche Beschriftung. Er nimmt ihn in die Hand. Er wiegt um die 150 Gramm. Mit dem Brieföffner neben seinem Computer öffnet er ihn und dreht ihn um. Ein Smartphone fällt heraus, sonst nichts. Kein Zettel, nichts. Verwirrt schaut er das Handy an, als es beginnt zu vibrieren. Er schaltet es ein. Drei ungelesene Nachrichten auf dem Sperrbildschirm.

 

Hallo Mark

 

 

 

Über diesen Weg werden wir ab jetzt kommunizieren

 

 

 

Ich bin dein Gewissen, oder das, was dafür sorgt, dass du eins bekommst.

 

 

Erschrocken lässt Mark das Handy fallen, und wischt sich eine einzelne Schweißperle von der Stirn, als es erneut vibriert.

 

 

 

Können wir anfangen?

 

 

 

Sein Blick schnellt nach oben, er versucht in dem Dunkel des Ganges vor seinem Büro etwas zu erkennen. Steht da jemand der ihn beobachtet? Ist er allein? Er packt das Handy zurück in den Umschlag, nimmt den Stapel Papiere auf den Arm und verlässt fluchtartig das Gebäude. Erst als er im Auto sitzt und von innen abgeschlossen hat, erlaubt er seinem Puls sich wieder zu beruhigen.

 

Die Fahrt nach Hause zieht sich, wie noch nie. Bei jedem Summen des Smartphones zuckt er zusammen, nur um festzustellen, dass es sich hierbei um sein eigenes handelt.

 

Zu Hause steigt er aus, zweimal lässt er bei dem vergeblichen Versuch die Haustür aufzuschließen den Schlüssel fallen, einmal verteilt er alle Dokumente über den Boden.

 

Als er endlich sein Haus betritt, schließt er die Tür ab. Bevor er das Smartphone erneut aus dem Umschlag zieht, geht er in die Küche und holt sich ein Glas Wasser. Als er nun so weit ist, und das Handy wieder in seiner Hand liegt, schaltet er es an. Begleitet von dem leisen Klirren der Eiswürfel in seinem Glas starrt er die Buchstaben auf dem Sperrbildschirm an.

 

Da steht ganz eindeutig sein Name. Mark rechnet fest damit, an dem Versuch, das Handy zu entsperren, zu scheitern. Dann wäre das alles ein blöder Witz und er müsste sich keine weiteren Gedanken machen. Dieser insgeheime Wunsch wird ihm nicht erfüllt, als er nach einem Passwort gefragt wird.

 

Mark denkt nach. Was könnte der Überbringer des Handys als sinnvoll erachten. Wenn er wirklich möchte, dass Mark das Handy entsperren kann, muss es ein Passwort sein, auf das er kommen kann.

 

Er meint es fast schon ironisch, als er nach einiger Zeit das einzige Passwort eingibt, dass er seit einigen Jahren benutzt. Für seinen Bankaccount, seinen Arbeitscomputer und sein Handy. Unvorsichtig, weiß er selbst, alles andere kann er sich aber eben einfach nicht merken. Umso erschrockener ist er, als sich das Handy mit diesem Passwort tatsächlich entsperren lässt.

 

Mit zitternden Händen findet er sich auf der Startseite des Handys wieder; im wahrsten Sinne des Wortes. Er schaut sich selbst ins Gesicht, sieht sich an seinem Schreibtisch sitzen. Erschreckender Weise scheint er sich dabei in die Augen zu schauen, er muss also genau in die Kameralinse gesehen haben, die sich als Webcam seines Arbeitscomputers enttarnt.

 

Die Frage, warum er selbst als Hintergrundbild eingestellt ist, und wie der Überbringer des Handys an sein wohlgehütetes Passwort gekommen ist, rückt in den Hintergrund, als das Handy vibriert.

 

Die Vibration fährt durch seinen ganzen Körper und treibt ihm Schweiß auf die Stirn. Ein Foto.

 

Er öffnet es. Es zeigt seine Fußmatte, von der er nur einige Minuten zuvor seine Dokumente aufgeklaubt hatte. Auf der Fußmatte liegt ein Brief. Mehr nicht. Kein Kommentar. Er schaut sich das Bild genauer an. Es ist im Dunkeln aufgenommen worden. Das passt. Es ist nach dreiundzwanzig Uhr und die automatischen Lampen im Garten sind bereits eingeschaltet worden. Deutlich kann Mark den roten Weinfleck auf seiner abgewetzten Fußmatte erkennen. Ihm ist die Flasche heruntergefallen, nachdem er sich von seiner letzten Freundin getrennt hatte.

 

    

 

     Möchtest du nicht nachschauen gehen?

 

 

 

So schnell, wie Mark sich zu dem Fenster hinter ihm dreht, bemerkt er nicht, wie er sein Wasserglas umwirft. Die Eiswürfel zerschmelzen zu einer kalten Pfütze. Da muss jemand in seinem Garten sein. Jemand muss ihn beobachten.

 

Langsam, um keine Bewegung zu verpassen, lässt er die Rollläden herunter. Noch langsamer, beinahe in Zeitlupe bewegt er sich zu seiner Haustür, und öffnet sie. Seine Fußmatte. Mit dem Fleck. Und einem Brief.

 

Er greift nach dem Brief, und beinahe, als hätte ihn etwas gebissen zieht er die Hand zurück und schließt die Tür. Das kann nicht sein. Wie kann der Brief in der kurzen Zeit, die er sich in seinem Haus befunden hat, dorthin gelangt sein? Das hieße, jemand hat ihn verfolgt. Oder sich die ganze Zeit auf seinem Grundstück befunden.

 

Zurück im Wohnzimmer, öffnet Mark den Brief. Zwei Bilder fallen heraus. Das erste Zeigt ihn in seinem Schlafzimmer. Er schläft, eingerollt in seine dunkelgrüne Bettwäsche. Sein Schlafzimmer trägt bei weitem nicht so auf, wie das Wohnzimmer. Abgesehen von einem Bett, einem Schrank und einem Nachttisch ist es leer. Bis auf die drei Kartons, die auf dem Bild neben seinem Bett stehen. Er erinnert sich an den Tag. Er hatte die Lieferung für seine chinesischen Vasen erhalten und sie sich vor dem zu Bett gehen nochmal angeschaut. Sein Schlafzimmer befindet sich im Obergeschoss des Hauses. Vor seinem Fenster steht nur ein Baum. Was für ein Irrer klettert dort mitten in der Nacht hoch um ein Foto von ihm beim Schlafen zu machen? Und wie oft war das noch passiert?

 

Bei dem zweiten Foto handelt es sich um eine deutlich erkennbare Fotomontage. Das amateurhafte Aussehen des Bildes ändert jedoch nichts an der Wirkung auf Mark als er es sich ansieht. Die Botschaft ist deutlich. Es handelt sich um das gleiche Motiv, jedoch fehlt Mark auf diesem Foto der Kopf und das Bett ist in Blut getränkt. An der Wand steht mit krakeliger Schrift „Schlaf gut“. Was ein abgenutzter Spruch in Verbindung mit dem Tod. Fast ist ihm zu lachen zu mute, wenn diese Person es nicht tatsächlich geschafft hätte ihn beim Schlafen zu fotografieren.

 

Die nächsten Stunden verbringt er damit, durchs Haus zu laufen und durch jedes Fenster zu spähen, auf der Suche nach etwas. Nach was genau, das kann er sich selbst nicht beantworten. Hauptsache irgendwas, das seine Annahmen bestätigen könnte und ihn zum Handeln treibt. Nach einer viel zu langen Zeit ohne Ergebnisse, und viel zu häufiges im Bett herumwälzen gleitet Mark endlich in einen rastlosen Schlaf.

 

Geweckt wird er am nächsten Tag durch ein wiederholt auftretendes Pling. Er ist fast der Überzeugung, dass sich dieser Ton in einem seiner Träume befindet, bis ihm langsam die Erinnerungen an den gestrigen Tag kommen. Das Handy. Die Fotos. Er, ohne Kopf. Plötzlich ist er hellwach und setzt sich auf. Mit zittrigen Händen greift er nach dem Smartphone, dass er auf seinen Nachttisch gelegt hat.

 

    

 

Guten Morgen Mark

 

Ich hoffe du hast gut geschlafen.

 

Ich habe dir ein kleines Geschenk gebracht.

 

Es ist doch in Ordnung wenn ich ab und zu dein Grundstück betrete?

 

 

 

Das dazugehörige Bild lässt ihn schließlich ganz aus seinem Bett steigen. Sein Kopf pocht wie verrückt. Eine Ratte. Aufgeschnitten und auf ein Kreuz gespannt. Eine Opfergabe? Definitiv aber eine Drohung. Und eben diese Drohung befindet sich im Moment draußen, in seinem Garten, direkt neben dem Pflanztopf mit der Engelstrompete.

 

Während er die Treppen nach unten rennt, zieht er sich einen Pullover über und schlüpft unten angekommen in seine Schuhe. Kurz vor der Terassentür angekommen bleibt er stehen. Ist er wirklich bereit seinem Feind in die Augen zu sehen? Zur Sicherheit holt er sich in seiner Küche aus seinem Messerblock das längste Messer, das er finden kann. Nur für den Notfall. Dann öffnet er mit einem Ruck die Terassentür.

 

Bis zu dem Blumentopf sind es genau siebeneinhalb Schritte. Er hat mitgezählt, um sich abzulenken. Als er ankommt schaut er sich um. Es ist niemand zu sehen. Das Messer fest umklammert, als könnte das kleine Wesen auf dem Kreuz aufspringen und ihn angreifen, schaut er nach unten. Seine Angst ist unbegründet. Die Ratte ist verschwunden. Mit ihr das Kreuz.

 

Er läuft um den Blumenkübel herum, sucht auf der ganzen Terrasse. Nichts. Das Handy vibriert. Ein Foto. Von Mark, wie er sich bückt, neben der Engelstrompete, und nach der Ratte sucht. Nur wenige Minuten zuvor.

 

Sein Blick schnellt nach oben, zu dem Busch aus dem das Foto aufgenommen worden sein muss. Er kann nichts erkennen. Langsam nähert er sich dem Gebüsch, das Messer fest in seiner Hand. Bis auf ein paar abgeknickte Äste und eine fauchende Katze findet er nichts. Wie kann das sein? Er hatte sich doch extra vorher umgeschaut. Ungläubig läuft Mark über sein Grundstück, auf der Suche nach weiteren Anhaltspunkten über den Verbleib des Eindringlings. Gerade als er seine Haustür aufschließt um zurück ins Haus zu gehen, bleibt sein Blick an einem felligen Etwas am Boden hängen. Neben seiner Fußmatte liegt die Ratte. An dem Kreuz. Zeitgleich vibriert sein Handy.

 

     😉

 

Diese Nachricht ist die einzige Reaktion, die er auf seinen nachfolgenden Wutausbruch bekommt.

 

Mark stürmt nach drinnen und macht sich einen Kaffee. Mit schwitzigen Händen nimmt er eine Ibuprofen und spült sie mit Wasser herunter. Er verschluckt sich etwas an dem Wasser und hustet leicht. Völlig erschöpft lässt er sich auf sein Sofa fallen, als er mit der Tasse in der Hand in sein Wohnzimmer stolpert.

 

Wer macht sowas. Wer ist in der Lage, so wenig Gewissen zu haben, um einem Fremden so etwas anzutun. Einem Fremden? Ist Mark denn fremd? Wen kennt er, der zu sowas im Stande wäre? Als Jugendlicher war er immer ein problematisches Kind. Nicht kriminell, nur eben so, dass Mütter ihn nicht gerne mit ihren eigenen Sprösslingen spielen lassen wollten. Seine Eltern lebten getrennt und sind mittlerweile auch nicht mehr am Leben. Sie sind gestorben, als Mark gerade einmal volljährig wurde. Beide an Krebs. Aus diesem Grund hat Mark häufig die Klinik im Hinteren Rebweg besucht. Um sich vorbeugend untersuchen zu lassen.

 

Dort lernte er seine erste und einzige Freundin kennen. Welche er betrog. Mehrmals. Aber wäre sie bereit so etwas zu tun? Er schätzt sie nicht so ein. Sie war etwas seltsam, natürlich. Aber wer sagt sowas nicht über seine Exfreundin? Außerdem wohnt sie mit Ihrem neuen Freund mittlerweile in der Schweiz und züchtet Hunde. Bleibt noch der Mann an der Bar. Ihm hatte er über Monate hinweg immer wieder Geld abgezogen, versprochen es ihm zurück zu zahlen, und war dann nie wiederaufgetaucht. Aber ihm hatte er seines Wissens niemals seinen echten Namen genannt. Und der Mann war auch immer viel zu betrunken, um sich daran am nächsten Tag noch erinnern zu können.

 

Wie ist das Paket zu ihm gelangt? Nächste Frage. Durch seinen Chef in der Firma. Jemand muss es abgegeben haben. Mark greift nach dem Telefon. Das ihm das jetzt erst einfällt. Während er einen Schluck von seinem nun nur noch lauwarmen Kaffee nimmt, ruft er beim Sekretariat seiner Firma an. Die Sekretärin hebt hab. Jedes mal die gleiche Stimme. Seit die vorherige Dame aufgrund der Diebstahlsvorwürfe entlassen wurde, hatte sich die Stimme nicht ein einziges Mal geändert. Mark spricht kaum seinen Namen zu Ende, als sie erleichtert ausatmet. „Gut, dass Sie anrufen. Sie sind auf dem Weg, richtig? Sie werden bereits dringend erwartet. Wegen den Abrechnungen, Sie wissen doch.“ Er wusste es nicht. Nicht mehr jedenfalls. Er stottert eine Entschuldigung herunter und verspricht sich sofort auf den Weg zu machen. Begleitet wird sein Versprechen von einem Murmeln der Empfangsdame. „Was ist nur los mit Ihnen in letzter Zeit.“ Bevor sie ausholen kann legt er auf.

 

Mit klopfendem Herzen packt er seine Unterlagen zusammen. Keine einzige Spalte hat er nachgerechnet. Das wird sein Chef nicht gerne sehen, da sich die roten Zahlen nur so häufen in den letzten Jahren.

 

Als Mark aus dem Wohnzimmer stürzt reißt er fast eine der beiden Vasen um, sie kann er retten, jedoch fällt die dreibeinige Giraffe wehrlos zu Boden. Er legt die Unterlagen gestresst ab und stellt die Giraffe wieder hin. Zum Glück ist sie noch ganz. Mark stürmt aus dem Haus und startet das Auto. Heute schafft er es in nur 19 Minuten. Als er mit quietschenden Reifen auf dem Parkplatz zum Stehen kommt wirbelt eine Staubwolke hinter seinem Auto auf. Er will auf dem Beifahrersitz nach seinen Unterlagen greifen. Sie sind nicht da.

 

Natürlich nicht. Sie liegen neben dem Regal mit der Giraffe und der Vase. Auf einem billig nachgemachten Perserteppich mit den drei Mottenlöchern in der Mitte. Dort, wo er sie in der Panik hingelegt hat. Laut stöhnt er auf. Das kann doch alles nicht wahr sein. Mark startet den Motor erneut und fährt vom Parkplatz. Der Rückweg gestaltet sich etwas schwieriger. Jede zweite Ampel ist rot, und als er endlich auf die Autobahn auffährt muss er einer sporadisch aufgebauten Umleitung folgen, da ein LKW auf der mittleren Spur umgekippt ist. Nach 35 Minuten kommt er zu Hause an.

 

Als er die Haustür öffnet, stellt er fest, dass sie nicht verschlossen ist. Hat er trotz dieser Ausnahmesituation vergessen abzuschließen? Misstrauisch geht er einen Schritt in seinen Flur und lauscht. Das einzige was er hört ist sein Atem, der ungleichmäßig aus seinem Mund strömt. Sonst scheint das Haus leer zu sein. Mit vorsichtigen Schritten läuft er ins Wohnzimmer, wo er seine Unterlagen abgelegt hat. Und tatsächlich. Hier sind sie. Hier liegen die Unterlagen, der Teppich und die Giraffe steht daneben. Die Vase fehlt.

 

Hatte er sie doch eben noch in letzter Sekunde vor dem Fallen gerettet, so ist sie jetzt nirgends zu finden. Panisch sieht er sich um. Links neben dem Sofa, wo die zweite Vase stehen sollte befindet sich nur ein leerer Sockel. Die beiden chinesischen Vasen, die Herzstücke seiner Sammlung sind verschwunden. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Jemand war, oder ist in seinem Haus.

 

Die Unterlagen und sein Termin in der Firma rücken in den Hintergrund. Wo sind seine Vasen? Wie ist der Eindringling in sein Haus gelangt? Mark traut sich nicht mehr aus dem Zimmer. Wenn wirklich noch jemand in seinem Haus ist, kann er so zumindest durch die Terassentür fliehen. Das Handy vibriert. Als er es rausholt erwartet ihn eine Flut von Nachrichten.

 

    

 

     Ich gehe davon aus, dass du es bereits entdeckt hast.

 

     Deine geliebten Vasen. Die Stücke in deinem Wohnzimmer, die     es noch ein bisschen geschmackloser gemacht haben, als es   sowieso schon war.

 

     Geklaut, in einem kurzen Moment der Unachtsamkeit.

 

     Kein schönes Gefühl, was?

 

     Doch ich habe dir nur das genommen, was dir niemals gehört

 

     hat. Du hast kein Recht wütend zu sein. Wer selbst klaut,

 

     dem darf ein Diebstahl nicht zusetzen.

 

     Ich denke du weißt mittlerweile wer ich bin.

    Wegen deinen Taten verlor ich meine Wohnung, mit ihr meine Tochter. Du hast    mir meine Identität genommen. Mein Leben. Und ich nehme dir jetzt deins.

 

Miriam Senner

 

 

 

Miriam Senner. Die Frau aus der Firma. Die Frau, die entlassen wurde, weil Mark nichts gesagt hatte. Sie war unschuldig, die ganze Zeit, während Mark sich mit den teuren Vasen gebrüstet hat, die den Betrieb beinahe in den Ruin getrieben hatten. Und mit ihm Miriams Leben.

 

Mark hat einen Schuldigen. Kann er die Polizei verständigen, ohne sich selbst zu belasten? Er stürmt nach oben in sein Schlafzimmer, wo sein Handy liegt. Dieses hat er seitdem er das neue bekommen hat nirgendwo mehr mit hingenommen. Es erschien ihm so unwichtig. Doch nun wird er einen Teufel tun, die Polizei, und hoffentlich seine Rettung über das Handy kontaktieren zu wollen, dass ihm das alles überhaupt erst eingebrockt hatte.

 

Als das Freizeichen ertönt beginnt sein anderes Smartphone zu klingeln. Ein Facetime Anruf von einer unbekannten Nummer. Wie in Trance nimmt er den Anruf an und legt zeitgleich mit dem ersten Wort des Polizisten dieses Telefonat auf.

 

Was er auf dem Video sieht schockt ihn zutiefst. Miriam auf seinem Sofa. In seinem Wohnzimmer. Genau dort, wo er vor wenigen Minuten gesessen hat. Im Hintergrund hängt der Spiegel und Bilder von einer Safari aus dem 19. Jahrhundert. Selbst die Giraffe ist zu sehen. Und neben Ihr eine Vase. Links neben dem Sofa die andere. Miriam lächelt in die Kamera und winkt.

 

„Schön dich wiederzusehen Mark. Es ist eine Weile her. Wie ich sehe, hast du es dir noch ungemütlicher gemacht, als es eh schon war. Wie viel von dem Spaß hast du selbst bezahlt?“ Den Rest ihres Monologs nimmt er nicht mehr wahr.

 

Er stürmt los, begleitet von einem durchdringenden Knarzen, die Treppe hinunter, bis er vor seinem Wohnzimmer zum Stehen kommt. Konnte er sich so geirrt haben? Mit einem Ruck reißt er die Tür auf, macht sich auf einen Kampf bereit, als er in den Raum stolpert. Dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte, fällt ihm auf, als er verschwitzt und zitternd im Wohnzimmer zum Stehen kommt. Er hatte sich nicht getäuscht, die Vasen waren verschwunden. Mit ihnen Miriam. In dem Video, dass sich noch immer auf dem Smartphone abspielt sieht er jedoch beide, er hört Miriam sogar sprechen. Was nur bedeuten kann, dass das Video nicht live aufgenommen wird, sondern vorproduziert ist.

 

Während diese Erkenntnis in sein Gehirn vordringt, hört er das Knarzen erneut. War er bisher davon ausgegangen, dass dieser Ton aus dem Videoanruf kommt, hört er es nun ganz deutlich.

 

Zusammen mit den Schritten über ihm.

 

Er wirft das Handy auf den Boden, um beide Hände frei zu haben und läuft gestresst in die Küche um sich zu bewaffnen.

 

In dem Moment schließen die automatischen Rollläden. Mark ist in seinem eigenen Haus gefangen, zusammen mit einer Irren, die er nun deutlich die Treppe herunter laufen hört.

 

Im Haus ist es nun stockdunkel. Panisch drückt Mark auf den Lichtschalter, bis das Licht flackernd erglimmt. Er atmet auf, und lauscht. Er hört sie nicht mehr.

 

Dann, eine Tür, ein Knall, das Licht geht aus. Sie muss den Sicherungskasten gefunden haben. Mark steht im Dunkeln. Hört auf seine Atmung. Ein, aus, ein, aus. Dann geht alles ganz plötzlich. Schnelle Schritte, die durch den Flur stürmen und nur Sekunden später wirft sie sich gegen die Küchentür. Zeitgleich mit Mark, der von innen dagegen hält. Durch die Erschütterung wird Mark zurückgeschoben, die Tür öffnet sich einen Spalt. Eine Hand greift nach Innen. Versucht ihn zu erreichen. Mark schlägt sie Tür wieder zu. Sie jault auf.

 

Den Moment der Schwäche nutzt Mark um ins Wohnzimmer zu laufen. Er kauert sich schräg hinter das Sofa, versucht nicht zu atmen. Er presst sich eine zittrige Hand auf den Mund als er leise Schritte im Raum hört.

 

Sie fühlt sich sicher, gibt sich keine Mühe leise zu sein. Sie ruft sogar seinen Namen. Die Stimme klingt viel zu laut in dem dunklen, stillen Raum. Ein Lichtschein leuchtet auf. Eine Taschenlampe. Mark macht sich kleiner. Der Lichtschein zuckt durchs Wohnzimmer, erkundet jeden Winkel. Die Tierfiguren werfen lange Schatten an die Wände. Lange wird es nicht dauern, bis sie Mark findet.

 

Aus einem Instinkt heraus springt er auf, sprintet zur Tür. Wieder fällt die Giraffe und zerbricht diesmal. Bis Miriam realisiert, dass er flieht hat er die Haustür erreicht. Abgeschlossen. Dann eben nach unten. Durch den Keller. Fast fällt er hin, so schnell, wie er abdreht. Hinter ihm wird das Geschrei lauter. Er reißt die Tür auf. Das Licht geht wieder an und Mark erstarrt.

 

Geblendet von dem hellen Strahl glaubt er seinen Augen nicht. Die Vasen. Nebeneinander aufgereiht, unversehrt stehen sie in dem Eingang zu seinem Keller. Die Schritte hinter ihm sind verstummt. Ebenso das Rufen. Als er sich umdreht ist er allein. Nur er in seinem Haus, alle Lichter an und vor ihm seine Vasen. Wie benommen stolpert er zurück ins Wohnzimmer. Setzt sich aufs Sofa und tastet nach dem Handy, das er zuvor hier fallen gelassen hat. Auf dem Sofa ist es nicht. Er bückt sich und sucht den Spalt zwischen Sofa und Tisch ab. Er findet es nicht. Völlig verwirrt legt er sich auf den Boden um unter das Sofa und den Tisch zu schauen. Das Handy ist verschwunden.

 

Mit ihm alle Chatnachrichten und jeder Beweis, dass er jemals Kontakt mit Miriam aufgenommen hat. Oder besser, sie mit ihm.

 

Er springt wieder auf und sucht das Wohnzimmer ab. Stück für Stück. Es kann doch nicht einfach verschwunden sein. Wie von selbst leiten ihn seine Beine zurück zu seinem Keller. Zu seinen Vasen, oder eben zu denen, die es nicht sind. Auch in diesem kleinen Vorraum sucht er alles ab. Schaut in Regale und sogar in den Vasen nach. Nichts. Das Handy bleibt verschwunden.

 

Als er die Vasen heraustragen möchte, stößt er mit der Schulter gegen ein Regal. Eine Schachtel fällt heraus, und aus ihr, lauter Karten. Geburtstag, Hochzeit, sogar alte Konfirmationskarten. Und eine, die nicht zu den anderen zu passen scheint. Sie ist grau, und hat eine einzige weiße Lilie draufgedruckt. Mark öffnet die Karte. Es ist eine Danksagungskarte.

 

     Hiermit bedanke ich mich herzlich für die Anteilnahme und die Unterstützung in einer so schwierigen Zeit. Möge Gott mit dir sein.

 

Mark muss die Karte nicht fertig lesen um zu wissen was nun folgen wird. Ein Name. Und dieser Name wird ihm den Boden unter den Füßen wegreißen.

 

     Matthias Senner

 

Der Vater der verstorbenen Miriam Senner, die er bis vor kurzen noch in seinem Haus vermutet hatte. Die Karte ist eineinhalb Jahre alt. Sie nahm sich das Leben, genau ein halbes Jahr nachdem sie alles verloren hatte. Wegen ihm.

 

Das Klingeln des Telefons reißt Mark aus seinen Gedanken, er wischt eine einzelne Träne weg, als er nach oben schlurft und abhebt. Sein Chef. Den er heute Morgen noch einfach versetzt hat. Es fühlt sich an als wären seitdem Tage vergangen.

 

„Herr Kaiser? Ich hoffe es geht Ihnen gut. Ich habe mir Sorgen gemacht, als sie heute Morgen nicht erschienen sind. Darüber sprechen wir ein anderes Mal. Viel wichtiger, hat sie das Paket erreicht, dass ich auf ihren Schreibtisch habe legen lassen? Mit dem Füller drin? Ich dachte ich tu Ihnen mal was Gutes, auf sie kann ich mich immer verlassen…“ Entgeistert legt Mark auf. Füller?

 

Als er erneut den Umschlag öffnet, aus dem das Handy vor zwei Tagen herausgefallen kam, setzt sein Herz einen Schlag aus. Tatsächlich. In der Box, die er herausnimmt, befindet sich ein Füller. Brandneu und genau sein Geschmack.

 

Mark beginnt hysterisch zu lachen. Ein Füller, das kann doch nicht wahr sein. Er hat das Handy nie bekommen? Immer lauter lachend geht er nach unten und macht die Rollläden hoch. Licht flutet den Raum. Er geht in seine Küche.

 

Als die von ihm selbst zuvor alamierte Polizei wenige Minuten später die Wohnungstür aufbricht, ist es still in dem Haus. Als sie das Wohnzimmer betreten tanzen Staubkörner in der Luft und die Sonne spiegelt sich in dem goldgerahmten Spiegel an der Wand.

 

In der Blutlache auf dem Boden glitzern vereinzelte Lichtreflexionen. Neben dem toten Körper von Mark Kaiser liegt das Messer mit der längsten Klinge aus dem Messerblock in der Küche und ein Zettel, auf dem mit einem nagelneuen Füller geschrieben wurde:

 

     Bitte, lass zumindest das real sein.

 

9 thoughts on “54 Minuten

  1. Hallo Emse

    Deine Geschichte hat mich gefesselt und berührt.
    Sie ist wirklich großartig.

    Ich bin komplett zufällig hier gelandet, und ich wurde von dir nicht enttäuscht.

    Danke für die gute Unterhaltung.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.

    Ich lass dir liebend gerne ein Like da.

    Alles Gute und liebe Grüße.
    Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.

    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Ich danke dir.
    Pass auf dich auf.
    Swen

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