Raphael GoldmannAuge um Auge

Ich stehe im Atelier und betrachte die Leinwand vor mir. Sicher nicht mein bestes Werk. Auf dem kniehohen runden Beistelltisch in buntem Scherbenmuster steht eine halbvolle Flasche Bier. Es ist inzwischen warm geworden. Ich kippe den Rest in den Ausguss des rechteckigen, alten Waschbeckens an der Wand. Der weiße Lack platzt an allen Ecken ab und die Leitungen sind verrostet, aber zum Abwaschen der Pinsel reicht es. Aus dem niedrigen Retrokühlschrank zu meiner rechten greife ich mir eine neue Flasche und nehme ein paar tiefe Schlucke. Ich trete hinaus auf die Terrasse über der baufälligen Garage, die ein Motorrad sowie einen alten Bentley und den Jaguar, den ich mir erst vor wenigen Wochen gekauft habe, beheimatet. Das Schloss ist zwar defekt, aber ich glaube nicht, dass jemand derart exklusive Vehikel in einer so heruntergekommenen Garage vermutet. Und falls doch, so verbringe ich die meiste Zeit des Tages ohnehin hier im Atelier, da bekäme ich es sicher mit, wenn sich jemand an meinen Schätzen zu schaffen machen würde. Das Geräusch meiner Schritte auf den knarzenden Holzdielen, mit denen ich das Dach der Garage ausgelegt habe, durchbricht die friedliche Stille des heranschleichenden Abends. Die feuerrote Sonne kitzelt meine Augen, während ich mir eine Zigarette in den Mund stecke. Ich sehe dem bläulichen Rauch nach, wie er vom lauen Wind davongetragen wird. Schließlich gehe ich wieder in die Halle, laufe die quietschende Wendeltreppe aus Metall hinunter in den unteren Teil der Halle, der mir als Ausstellungsraum dient. Nach einem letzten Kontrollblick schalte ich das Licht aus. Dann schwinge ich mich auf mein Motorrad und mache mich auf den Heimweg.
Meine Haushälterin hat schon zum zweiten Mal in diesem Monat vergessen, die Haustüre abzuschließen. Morgen werde ich sie anrufen und feuern. Schade, ich hatte gehofft, alle guten Dinge seien vier innerhalb von zwei Jahren. Der Flur mit dem dominanten, strahlend weißen Langflorteppich in der Mitte begrüßt mich mit brüllender Stille. Der rotbraune Parkettboden zu den Seiten ist an einigen Stellen bedeckt von einer hauchdünnen Staubschicht. Traurig schüttele ich den Kopf und seufze. Inkompetentes Pack. Wären deutsche Putzhilfen nicht so teuer, wäre das wohl die bessere Alternative. Ich werfe die Lederjacke in eine Ecke. Der Blick fällt auf mein Hemd. Es hat einen Fleck abbekommen. Verdammt, das Ding habe ich mir erst vor ein paar Tagen gekauft. Na ja, was soll’s. Ich werfe es in den Müll und streife mir ein T-Shirt über. Eine halbe Stunde lang bleibe ich noch wach und spiele am Computer, dann schlafe ich auf der Couch ein.
Hysterisches Lachen, grell wie Schreie. Schreie, die niemand hört. Das Mädchen, hilflos gefangen in dem Pulk aus Jungen, den Kopf im Nacken, die Hände hinter dem Rücken fixiert. Die klare Flüssigkeit, dessen Geruch allein die Augen brennen lässt. Die Kiefer des Mädchens geöffnet, die Stimme erstickt. Schluck für Schluck wird das Wimmern leiser. Das Gebrüll der Jungen wird lauter, doch es ist jetzt kein Lachen mehr. Es ist panisch. Lautes Geschrei, Hektik, ein Schlüssel dreht sich im Schloss, das Mädchen zusammengekrümmt am Boden.
Mein eigener Schrei klingelt mir noch in den Ohren, als ich aus dem Schlaf hochschrecke. Die Nacht hat sich inzwischen über das Land gelegt und füllt die Straßen und Häuser mit bösen Vorahnungen. Die Bilder vor meinen Augen lösen sich in grelle Blitzlichter auf, und ich schließe die Lider erneut. Hier kann ich nicht bleiben. Ich wandle durch das Haus, ohne das Licht einzuschalten. Ich muss ausgeschlafen sein, morgen ist eine große Vernissage, und ich gähne nur ungern, wenn ich meine Kunstwerke an ungebildete Kulturbanausen mit übersättigtem Bankkonto verticke. Im Bett fühlt es sich geborgen an, doch schlafen kann ich dennoch nicht. Ich starre in die Finsternis. Ich beschließe, ein Schlafmittel zu nehmen. Ich taste nach der Lampe neben meinem Bett. Sie funktioniert nicht. Scheiße. Mühsam finde ich auch in der Dunkelheit, was ich suche, spüle zwei Tabletten hinunter und schließe die Augen.
Ich hasse Menschen, die sich aufgrund von Reichtum, für den sie nichts getan haben, sich für etwas Besseres halten. Manch einer mag das auch über mich sagen, aber ich bin Künstler und habe hart an dem gearbeitet, was ich heute mein Eigen nennen darf. Ein hagerer Mann, der so gar nicht in das sonst so illustre Publikum der Vernissage, die unter dem Titel Auge um Auge in den Zeitungen angepriesen wurde, passt, kommt auf mich zu und lächelt mir müde entgegen. „Schöne Bilder haben Sie hier“, sagt der Mann mehr zu sich selbst. Er steht jetzt so dicht vor mir, dass ich den Kopf in den Nacken legen muss, um ihm in die stechend grünen Augen schauen zu können. „Sie scheinen einen sehr ausgeprägten Sinn für Ästhetik zu haben.“
„Danke. Wollen Sie eins davon kaufen?“
„Solche Werke kann ich mir nicht leisten, ich sehe sie nur gern.“ Langsam wird mir dieses Gespräch ziemlich unheimlich. Der Mann beäugt mehr mich als die vielen Bilder um uns herum. „Einen schönen Tag noch, Herr Becker.“ Dann ist der Mann verschwunden. Kopfschüttelnd wende ich mich wieder den solventeren Männern und Frauen zu und kippe ein Glas Schampus nach dem anderen.
Mühsam wanke ich über den Vorplatz auf das Haus zu. Der Wagen steht quer in der Einfahrt und noch halb auf dem Gehweg. Auf dem Weg wurde ich geblitzt. Aber immerhin habe ich einige Bilder verkaufen können. Vielleicht kaufe ich mir davon ein neues Motorrad. Oder ich lasse mir die Terrasse um einen Pool erweitern, wie ich es schon so lange will. Als der Bewegungsmelder das Licht vor der Türe einschaltet, muss ich die Augen zusammenkneifen. Schlagartig wird mir schwindelig und ich taumle einige Schritte zurück. Wieder an der Tür angelangt, fällt mir etwas im Augenwinkel auf. Ein kleiner, rechteckiger Gegenstand auf den glatten Marmorfliesen. An der Türklinke festhaltend, bücke ich mich und hebe das Teil auf, drehe es in der Hand. Das Gerät wirkt wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Ein wenig erinnert es mich an mein erstes Smartphone. Es füllt kaum meine zarten Künstlerhände aus, die Ränder sind breit, am unteren Rand befinden sich noch physische Navigationstasten. Und doch scheint das Handy neu zu sein. Keine Kratzer, keinerlei Gebrauchsspuren. Die Kamera auf der Rückseite ist winzig. Eine kleine Inschrift verrät die Minderwertigkeit. Sie hat lediglich 5 Megapixel. Damit kann man doch keine richtigen Fotos machen. Irgendwie schaffe ich es in die Wohnung. Langsam wanke ich durch den Flur ins Wohnzimmer und lasse mich auf die Couch fallen, das Mobiltelefon nach wie vor fest im Griff. Ich starre noch eine Weile auf den schwarzen Bildschirm, dann schalte ich es ein. Auch der Startbildschirm sieht merkwürdig aus. Die Symbole sind überdimensional groß, und am unteren Bildschirmrand befinden sich Flächen für drei Schnellzugriffe, die jedoch nicht belegt sind. Einem undefinierbaren Impuls folgend, öffne ich die Galerie. Und erstarre. Schlagartig verflüchtigt sich die Müdigkeit aus meinem Körper und weicht blanker Panik. Ich blicke meinem eigenen Gesicht entgegen. Zwanzig Jahre jünger, aber das bin definitiv ich. Ich wische ein Bild weiter. Wieder ein Bild von mir, einige Jahre später aufgenommen. Es sind Fotografien von Polaroidaufnahmen, wie sie meine Eltern früher gerne aufgenommen haben. Auf dem dritten und letzten Bild schließlich steigt mir die Galle im Hals auf. Nur mühsam unterdrücke ich den Würgereflex. Dort stehe ich an einem Badesee. Ich war damals gerade sechzehn geworden. Neben mir ein Mädchen, einen Kopf kleiner als ich, in einem blauen Sommerkleid. Die Brandung umschmeichelt unsere nackten Füße. Das Lächeln, das wir dem Objektiv schenken, ist aufgesetzt. Schon damals haben wir uns gehasst. Oder besser gesagt, ich habe sie gehasst. Heute ist sie mir egal. Bis jetzt. Ich öffne das Telefonbuch, doch es enthält keine Einträge. Auch der Rest des Geräts ist vollkommen leer. Langsam lasse ich es auf den Tisch vor mir sinken. Dann stehe ich auf und trete auf die Terrasse. Schalte das Licht ein und lasse mich auf einem der Flechtsessel nieder. Die Temperaturen übersteigen selbst um diese Uhrzeit noch die 20 Grad, aber mir ist so kalt, dass ich den Reißverschluss meiner Jacke schließe. Dann starre ich in den hell erleuchteten Garten. Dass das Licht nicht mehr brennt, bemerke ich erst, als ich meine Augen wieder öffne. Verdammt, wie lange habe ich geschlafen? Ich will auf meine Uhr schauen, doch die Scheine ich verloren zu haben. Es muss schon weit nach Mitternacht sein. Die Finsternis ist allumfassend und unheilverkündend. Ich bebe am ganzen Leib. Mühsam quäle ich mich aus dem Sessel und will das Licht wieder anschalten, finde den Schalter aber nicht. Auch im Haus ist es dunkel. War ich das? Nein, ich habe das Licht bestimmt nicht ausgemacht, bevor ich eingeschlafen bin. Ich taste umher, finde schließlich die Terrassentür und schlüpfe hindurch. Rechter Hand befindet sich ein Lichtschalter. Er reagiert nicht auf meine Berührung. Ich versuche es noch einmal. Nichts. Fuck. Plötzlich sehe ich ein Licht. Es kommt vom Couchtisch. Der Bildschirm des Handys leuchtet unnatürlich hell und es vibriert deutlich stärker als andere Mobiltelefone. Auf dem Weg zum Tisch stoße ich zuerst gegen den Standfuß der Sofagarnitur, dann gegen die Kante des Tisches und als ich das Handy schließlich in den Händen halte, falle ich auch noch rücklings auf die Couch, weil ich den Abstand nicht richtig eingeschätzt habe. Das Vibrieren hat aufgehört, der Bildschirm ist wieder schwarz. Ich entsperre das Mobiltelefon und lasse es sofort fallen. Der Bildschirmhintergrund hat sich verändert. Es ist ein Bild von mir selbst, wie ich mich über den Bildschirm beuge. Meine Wangenknochen stehen hervor, meine Bartstoppeln sind viel zu grau für mein Alter. Nur meine Augen haben nicht unter der Behandlung der letzten Jahre und Jahrzehnte gelitten. Sie besitzen noch immer diesen smaragdgrünen Glanz, für den ich meinen Eltern immer dankbar war. Der Bildschirm wird wieder dunkel, und alles um mich herum ist schwarz. Durch das kurze Intermezzo mit der Helligkeit des Bildschirms, bin ich nun völlig blind. Ich will hier weg. In mein Schlafzimmer den Rausch ausschlafen und morgen noch einmal über alles nachdenken. Kurzentschlossen stehe ich auf und stoße mir den Zeh direkt wieder am Wohnzimmertisch. „Verdammte Scheiße!“ Die Worte versinken in der Dunkelheit wie in einem Moor. In kleinen Trippelschritten taste ich mich voran, den Flur entlang. Dann die ersten Stufen die Treppe empor. Auf der vierten Stufe angelangt, erstrahlen plötzlich sämtliche Lampen im Haus. Neben dem Schock bringen mich auch die Blitzlichter vor meinen Augen zum Wanken und schließlich zu Fall. Glücklicherweise falle ich nicht tief und der Boden ist mit dickem Teppich ausgelegt. Trotzdem brummt mein Schädel nun noch mehr als zuvor. „Was zum Teufel ist hier los?“ Meine Stimme klingt heiser, schwach und fremd, so als dränge sie aus einem unbekannten Teil meines Selbst an die Oberfläche. Mühsam komme ich wieder auf die Beine und schleppe mich die letzten Stufen hinauf. Als ich endlich in meinem Bett liege, brummt mein Schädel und die Gedanken kreisen. Trotz Klimaanlage tritt mir der Schweiß aus allen Poren. Eine Weile lang wälze ich mich von der einen Seite auf die andere. Das wird heute nichts mehr. Ich stehe auf und schalte meinen Computer ein. Das Handy liegt in meiner Hand. Gedankenverloren starre ich auf die Bilder. Dann fällt mein Blick auf den Namen der Marke. Doro. Ich öffne den Browser und tippe den Markennamen in die Suchmaschine ein. Seniorenhandys? Ernsthaft? Ich scrolle weiter, überfliege einige Artikel. Gerade will ich das Fenster wieder schließen, da verharrt der Cursor auf einem Artikel mit der Überschrift: Die besten Handys für Sehbehinderte. Nein. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Ich klicke den Artikel an. Das erste Bild zeigt ein Smartphone. Dasselbe, das ich in der Hand halte. Ich schließe die Augen und lehne mich zurück. Ich spüre, wie mir Tränen die Wangen hinabrinnen. Doch es sind keine Tränen der Trauer. Mein Herz rast und die Galle steigt mir in den Hals. Ich spüre, wie meine Hände beben. Ich brauche einen Drink. Oder fünf. Mit einem Mal fühle ich mich wieder nüchtern. Im Wohnzimmer nehme ich eine Literflasche des billigsten Vodkas aus der Minibar und stelle sie auf den Tisch. Die Flüssigkeit brennt in Rachen und Hals. Eine halbe Flasche und eine Zigarettenschachtel später schlafe ich auf dem Sofa ein.
Gelächter. Ein Mädchen, wehrlos. Zerrissene Jeans, blutige Knie. Tränen der Verzweiflung. Die Schreie gehen im Gelächter der anderen unter. Meine Hand drückt ihren Kopf in den Schlamm. Sie tritt nach mir. Ich lache. Ich hasse sie nicht. Es macht einfach Spaß, sie leiden zu sehen. Jemand reißt sie an den Haaren zurück in den Kreis. Ein Mädchen tritt ihr zwischen die Beine. Wir drehen sie im Kreis und stoßen sie fort. Ein Hund bellt. Ich schlage ihm auf den Kopf. Blut, Tränen, Schreie. Was habe ich getan?
Ich spüre, wie etwas direkt neben mir vibriert. Mit geschlossenen Augen greife ich nach dem Handy. Nach einem Druck auf den Knopf am unteren Bildschirmrand beginnt plötzlich eine Computerstimme, mir eine Nachricht vorzulesen. Erinnerst du dich? Mein Kopf schießt nach oben, stößt aber nach nur wenigen Zentimetern gegen einen Gegenstand, den ich in der Dunkelheit nicht erkennen kann. Dann höre ich es. So leise wie ein sommerlicher Windhauch und doch klar und unverkennbar. Atmen. Jemand atmet. Und dieser Jemand sitzt direkt neben mir. Reflexartig zuckt mein rechter Arm, doch ich kann ihn nicht bewegen. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich auch nicht mehr auf dem Sofa liege, sondern auf dem Fernsehsessel in der Ecke. „Wer ist da?“ Keine Antwort. In der nächsten Sekunde ist das aber auch schon nicht mehr relevant. Der Gegenstand, gegen den ich gestoßen bin, beginnt zu flackern und zu blinken wie ein Licht aus der Disko. Ein Strobolicht. Das Flackern wird immer schneller und heller. Ich kann nicht erkennen, ob es mehrere sind oder nur eines. Ich sehe überhaupt nichts mehr. Verzweifelt werfe ich den Kopf hin und her, doch er ist fixiert. Ich presse meine Augenlider zusammen. Weiße Punkte bombardieren meinen Sehnerv. Mein Schädel scheint zu platzen. „Lasst mich in Ruhe!“, schreie ich in die Stille. Dieses Mal kommt eine Antwort. Ich wünschte, ich hätte niemals etwas gesagt. „Das habe ich auch immer geschrien, erinnerst du dich? Ich habe geschrien, gefleht. Aber ihr habt immer weitergemacht. Du hast immer weitergemacht.“ „Wir waren Kinder.“ Meine Stimme ist nicht mehr als ein erbärmliches Winseln. „Nein. Ich war ein Kind. Du hättest es wissen müssen. Du hättest auf mich aufpassen müssen. Stattdessen hast du mein Leben ruiniert!“ Mit einem Schlag sind die Lichter aus und ich sitze wieder im Dunkeln, kann aber immer noch nichts sehen. „Ich konnte doch nicht wissen, dass es soweit kommt. Bitte, das alles tut mir unendlich leid, das musst du mir glauben.“ Ihr Lachen erklingt so dicht an meinem Ohr, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. „Du hast mich mit Papas Schwarzgebranntem abgefüllt. Die Konsequenzen waren dir scheißegal. Wegen dir bin ich blind!“ Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Sie hat recht, aber ich muss Zeit schinden. Irgendwie muss ich hier rauskommen. Und wie hat sie es überhaupt geschafft, mich in den Sessel zu Hiefen? Als ich sie zuletzt gesehen habe, war sie mehr als einen Kopf kleiner als ich und ziemlich schmächtig. Und, nicht ganz unwichtig: Blind! Ich brauche einen Moment zu lang, um zu verstehen. Meine Augenlider werden auseinandergedrückt. Die kühle Luft im Haus lässt meine Augen binnen Sekunden austrocknen. Dann geht das Wohnzimmerlicht an. Ronja steht direkt vor mir. Ihre Augen hat sie hinter einer Sonnenbrille verborgen. Neben ihr steht ein Mann, kräftig gebaut. An den Händen trägt er Latexhandschuhe, vor dem Mund eine Maske. In seiner rechten Hand hält er einen Arztkoffer. „Was hast du vor?“ „Weißt du eigentlich, wie es ist, blind zu sein, wenn man weiß, wie die Welt aussieht? Wenn man all die Farben kennt und sich an alles erinnert, aber nichts davon sehen kann? Und weißt du, wie es ist, zu wissen, dass derjenige, der für all das verantwortlich ist, wie ein Schwein im Schlamm lebt? Du hast alles. Und du hast nichts dazugelernt. Ich weiß nicht, wie du es hinbekommen hast, dass Mama und Papa dir ihr gesamtes Vermögen überschrieben haben. Ich weiß auch nicht, wie du sie dazu gebracht hast, das alles als Unfall darzustellen. Ich weiß nur eins. Du weißt nicht, was es bedeutet, etwas wirklich zu bereuen. Das wird sich heute ändern.“ „Was hast du vor?“ „Du wirst mir helfen, mein Augenlicht zurückzubekommen.“ „Was?“ Das Lächeln auf ihren Lippen hat etwas kaltes, hartes. Aber da ist auch noch etwas anderes. Freude. Vorfreude. Zum ersten Mal meldet sich der unbekannte Mann neben meiner Schwester. Mit einem Schritt ist er bei mir, kniet sich vor mir auf den Boden und öffnet den Koffer. „Es wurde eine experimentelle Methode entwickelt, die mittels einer Stammzellenspende eines direkten Verwandten Blindheit heilen kann. Die Tests sind vielversprechend. Aktuell liegt die Erfolgsquote bei rund 75 Prozent.“ In der Stimme des Mannes liegt keinerlei Emotion. Keine Veränderung der Tonlage oder der Geschwindigkeit. Wer ist dieser Kerl? „Das ist mein Verlobter“, klärt Ronja auf, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Er hat bei dem Forscher, der diese Methode entwickelt hat, gelernt.“ „Und jetzt wollt ihr mir einfach so Stammzellen entnehmen?“ „Ja, direkt aus ihrem Auge. Keine Sorge, das tut nicht weh. Sie verspüren höchstens einen leichten Druck.“ Die monotone Stimme des Arztes beruhigt mich nicht gerade. „Warum tun sie das?“ Es ist der letzte Strohhalm. Vielleicht kann ich ihn davon überzeugen, es nicht zu tun und zu verschwinden. Doch mein kläglicher Versuch scheitert. „Weil ich ihre Schwester liebe und sie ihr etwas schulden. Stillhalten.“ Noch bevor ich die Aussage ganz verarbeitet habe, steckt auch schon eine Nadel in meinem Auge. Es tut tatsächlich nicht weh. Der Mann zieht die Spritze aus meinem Auge, überprüft den Inhalt des Kolbens, nickt und steckt die Spritze in den Koffer. „War’s das dann? Kann ich gehen?“ Ronja kommt auf mich zu. Sie streicht mir fast zärtlich über die Wange. „Nein.“ Ein kleines Fläschchen kommt aus ihrer Hosentasche zum Vorschein. „Was ist das?“ Jetzt kehrt die Panik zurück. Die Flüssigkeit ist klar, aber es klebt kein Etikett auf der Flasche. „Das ist mein Geschenk an dich. Du kennst doch bestimmt das Sprichwort Auge um Auge?“ „Nein, tu das bitte nicht. Nein! NEIN!“ Als die ersten Tropfen meine Pupillen berühren, ersticken meine Schreie.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Ich bin wieder bei Bewusstsein, sehe aber nichts. Plötzlich ist da eine simme direkt neben meinem Ohr. Ihre Stimme. „Auge um Auge Bruderherz.“ Dann ist sie fort.

4 thoughts on “Auge um Auge

  1. Du hast dir wirklich sehr viel Mühe für diese Geschichte gegeben. Das konnte ich rauslesen. Du hast so gut wie keine?! Rechtschreibfehler und auch allgemein sehr flüssig geschrieben. Leider hat es mir etwas an Spannung gefehlt aber das kann mit deiner nächsten Geschichte auch schon wieder ganz anders aussehen 🙂

  2. Hi,
    ich fand Deine Geschichte generell gut.
    Mir fehlte auch ein wenig der Spannungsbogen, der war mir persönlich etwas zu flach. Aber das ist Geschmacksache. Handwerklich auf jeden Fall eine gute Geschichte. Das Herausarbeiten der Charaktere ist Dir wirklich sehr gut gelungen Und Du hast einen guten und klaren Schreibstil.

    P.S. Vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte (“Glasauge”) zu lesen und ein Feedback da zu lassen.

  3. Hallo Raphael,

    mir hat Deine Geschichte auch gut gefallen. Die Handlung ist spannend und die Hauptfigur gut beschrieben. Ich mochte sie nicht 😉 Es ist wirklich gut, wenn man solche Emotionen beim Leser erzeugen kann.

    Vielleicht eine kleine Anmerkung. Vielleicht hätten Deiner Geschichte ein paar Absätze ganz gut getan. Das liest sich dann irgendwie einfacher.

    LIKE!

  4. Hallo Raphael,
    eine gute Geschichte, die immer besser wurde und am spannendsten gegen Ende wurde. Für mich hätte der Anfang kürzer sein können oder dann das Ende länger, damit die Relation stimmt. Die Hauptfigur hast Du wieder sehr gut beschrieben und Dein Schreibstil an sich hat mir auch sehr gut gefallen. Gerade am Ende war ich sehr gebannt und gefesselt.

    Dafür ein ♥️ von mir!

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

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