Susanne GüntherDas kalte Erwachen

Das kalte Erwachen

Februar 2068….

Splitterfaser nackt und völlig orientierungslos stolpert Viktor in der Dämmerung aus einem Wald heraus, geradewegs auf einer Landstraße zu. Ein verchromtes, hochmodernes Auto machte eine Vollbremsung. Die Tür öffnet sich automatisch und ein Mann mittleren Alters, in einem Business Anzug gekleidet, steigt schockiert, mit weit aufgerissenen Augen aus. „Alles ok mit Ihnen, sind Sie verletzt?“ Aber Viktor ist völlig benommen und schaut verwirrt um sich herum. „Kommen Sie, ich bringe Sie ins Krankenhaus.“ Der Mann greift ihn stützend unter die Arme und setzt ihn ins Auto, ließ den Kofferraum automatisch öffnen und holt eine große, braune weiche Decke raus. „Sie müssen doch frieren bei der Kälte. Was ist mit Ihnen passiert?“ und legt die Decke um Viktor, der völlig zitternd und verstört im Wagen sitzt und kein Ton raus bringen konnte. Der Mann setzt sich ins Auto und fuhr mit rasender Geschwindigkeit mit summenden Geräuschen davon. Nach kurzer Zeit sah man links und rechts die schnell vorbeiziehenden, hochmodernen Wolkenkratzer. Vorne sah man einem gigantisch großen Turm, mit einer riesigen, verchromten Kugel auf der Spitze die wie ein Weihnachtsbaum blinkte. Viktor schlief ein.

Seine Schwindelanfälle haben seit seiner Einlieferung vor zwei Monaten allmählich nachgelassen und musste jetzt täglich seine Reha-Therapie nachgehen. Sie nannten ihn Max und jeden Tag wurden ihm die selben Fragen gestellt, ob er sich denn inzwischen schon an etwas erinnern könne und er diese Fragen jedes mal verneinen musste. Denkaufgaben, Merkspiele und Psychotests gehörten zu seinem alltäglichen Ritual. Er konnte inzwischen auch schon Bekanntschaften machen mit anderen Leidensgenossen die an Gedächtnisschwund, durch verschiedenste Krankheiten und Unfälle litten, nur mit einem Unterschied, dass diese von ihren Familien und Verwandten Besuch und Unterstützung bekamen und er nicht. Viktor stand nun mit seiner großen und schlanken Körperstatur, Hände-abstützend am Waschbecken vor einem Spiegel. Er strich sich mit einer Hand durch sein markantes Gesicht wo sich leichte Falten abzeichneten und fuhr mit seiner Hand durch seinen 3-Tage Bart. Sein fast weißes, dichtes Haar ließ darauf vermuten, dass er Ende vierzig, Anfang fünfzig sein musste. Er starrte mit seinen fragenden, hellblauen Augen und ernsten Gesichtsausdruck in seinem Gegenüber. „Wer bin ich, verdammt nochmal!“ Er ging zu seinem Schrank, zog einen schwarzen Strickpullover über sein weißes Shirt und ging raus. Er entschloss sich an dem Ort zurückzukehren wo er aufgewacht war um nach Antworten zu suchen. Mit schnellen Schritten ging er durch die grüne Parkanlage der Heilstätte bis hin zur Straße und stieg in einem hochmodernen Taxi mit aerodynamischer Form ein. An der Landstraße, wo Viktor damals von dem netten Anzugträger-Mann vorgefunden wurde, ließ er den Taxifahrer anhalten, bezahlte ihn mit virtueller Währung über sein Armband und stieg aus.

Es war ein später April-Nachmittag mit strahlendem Sonnenschein und angenehmer Frühlingstemperatur. Er schaute sich kurz um. Auf der rechten Seite der Straßenseite sah man ein bereits blühendes, leuchtend-gelbes Rapsfeld. Das Klima hat sich merklich verändert, denn Raps blüht in der Regel erst im Mai. Auf der linken Straßenseite sah er den dicht bewachsenen Wald, der sich der Straße entlang zog. Ein kleiner Tretpfad führte hinein ins ungewisse grüne Dunkle. Entschlossen folgte Viktor den kleinen Pfad tief in den Wald hinein, mit der Hoffnung die Stelle zu finden wo er herkam. Unter seinen Füßen knackten die Äste und das Gezwitscher der Vögel begleiteten ihn. Der Pfad verlor sich nach einer Weile und nach gefühlten zwanzig Minuten tauchte vor ihm eine verlassene und halb-verfallende, alte russische Kaserne aus rotem Backstein auf. Die Mauern waren teilweise abgebröckelt und die braun-umrahmten Fenster hatten zum Teil keine Scheiben mehr. Es waren nur noch die zerbrochenen Scheibenstückchen am Fensterrahmen zu sehen.

Viktor wusste, dass er an seinem Ziel angekommen war, denn vor ihm, auf dem verästeltem Waldboden sah er das runde Betonloch in dem eine Leiter hinunter ins Dunkle führte. Daneben am Rand lag noch das alte runde Drahtgitter, dass das Betonloch damals leicht bedeckte. Er konnte sich schwach erinnern wie er vor zwei Monaten aus diesem Loch, völlig nackt und orientierungslos geklettert war und das Gitter aufstoßen konnte. Vorsichtig stieg er jetzt wieder die lange Leiter hinab, von der er auch damals gekommen war. Hier unten war es viel kälter als draußen und stockdunkel. Modriger Kellergeruch stieg ihn in die Nase. Er tastete sich an den kalten Wänden vor bis er an einer dicken Stahltür ankam. Er zog an dem langen Haltegriff und die Tür öffnete sich schwer mit viel Kraftaufwand.

Das Licht war an und er befand sich nun in einem riesigen, gekachelten Kühlraum mit großen Stahlfächern, die in der Wand eingebaut waren. Er ging weiter durch einen langen weißen Korridor. Das Licht flackerte. Ein Unbehagen durchströmte Viktor. Er fragte sich ob noch jemand hier war, aber seine Neugier trieb ihn weiter an. Auf der linken Seite öffnete er die nächste Stahltür und befand sich nun in einem Raum mit Arbeitstischen und mehreren Computern und Überwachungsmonitoren. An einer Wand war eine großes Glasfenster eingebaut, wo dahinter noch ein Raum zusehen war, dort wo er aufgewacht war. Angelockt von einem angelassenen Monitor, ging er ging zu dem Arbeitstisch. Auf dem Tisch neben der Tastatur entdeckte einen Stick wo an Viktor Komarov mit Edding geschrieben drauf stand. Viktor setze sich auf dem vor dem Tisch stehenden Drehstuhl, und steckte den Stick im USB-Port des Computers. Es öffnete sich ein Ordner auf dem mehrere Videos zu sehen waren, die kategorisiert nach seltsamen Kurzbezeichnungen benannt wurden. Er öffnet das erste Video mit mit der Bezeichnung Nr.05:

aus dem Radio ertönte gerade die Melodie „the house of the rising sun“ von the Animals. Viktor pfiff die Melodie mit, während er gerade dabei war, seine Infusionslösungen in flüssigen Stickstoff-gekühlten Reagenzbehältern, aus einer riesigen Edelstahl Schublade zu ziehen. Mitten im Raum, umgeben von weiß-gekachelten Wänden und Stahl Schränken lag ein regloser, noch atmender, nackter männlicher Körper, in einem im Eis eingebetteten Leichensack auf einem Pathologie-Seziertisch. Seine Hände und Beine waren mit Gurtschnallen am Tisch gefesselt und um seinen Mund war ein dickes Klebeband befestigt. Sein Brustkorb war geöffnet, aus dem 2 dicke Schläuche herausführten bis zur Herz-Lungenmaschine, die den Körper am Leben hielten. Plötzlich machte der Mann die Augen auf, schaute wild und voller Angst um sich herum und versuchte mit unterdrückten Geräuschen zu schreien. Viktor mit Brille und gekleidet in einem weißen, langen Laborkittel und blauen, langen Einweghandschuhen, die bis zum Ellenbogen führten, drehte sich schnell um und verabreichte ihm, über das Schlauchsystem irgendeine Flüssigkeit, die den Mann wieder bewusstlos machte. Unmittelbar danach bäumte sich plötzlich der nackte Körper heftig vor ihm auf und aus dem EKG-Überwachungsmonitor ertönte der lange Piepton. Wutentbrannt zog Viktor seine Handschuhe aus, schmiss sie auf dem gekacheltem Boden und brüllte in die Sprechanlage auf seinem Tisch: „Jacob, sofort herkommen und Nr.05 aufräumen!“ Viktor ging wütend zum Türschalter und betätigte ihn. Die große Doppeltür aus Stahl öffnete sich und er ging mit großen Schritten aus dem Raum. Aus dem Radio hörte man jetzt von the Doors „break on through to the other side“

Viktor hält sich jetzt mit beiden Händen das Gesicht fest und ist völlig fassungslos was er da gerade von sich selbst gesehen hatte. Er spürt wie Übelkeit in ihm aufkommt und der Schwindel etwas stärker wird. Ihm wird klar, dass das Video von einer Überwachungskamera aufgenommen worden sein musste. Viktor selbst war also ein Forscher, der grausame Versuche an lebenden Menschen begangen hatte. Er spielte das nächste Video ab mit der Bezeichnung Versuch Nr. 22:

Ich bin Dr. Viktor Komarov, 46 Jahre alt und Wissenschaftler für Kryonik Technik.“ Man sah, dass er sich selbst filmte. Er stellte die Kamera hin und ging ein Stück zurück damit man ihn besser sehen konnte und setzte sich auf einem Hocker. Im Hintergrund war wieder ein weiß-gekachelter Raum zusehen. „Heute ist der 10. November 2020 und ein großer und bedeutsamer Tag für die Menschheit. Ich arbeite seit 15 Jahren daran die entscheidende Formel für eine Infusionslösung herauszufinden, die dafür sorgt, dass ein Körper im Kälteschlaf intakt bleibt ohne zu kristallisieren und die Verwesung nicht eintritt. Jetzt ist es nun endlich soweit, ich habe diese Infusionsformel entdeckt. Ich bin zu dem Entschluss gekommen, mich dazu heute selbst einfrieren zulassen und in 50 Jahren wieder auftauen zulassen. Im Jahr 2070 werde ich der lebende Beweis sein, dass der Mensch in der Zukunft sein Leben gesund fortführen und weiter genießen kann ohne Schäden davon zutragen.“ Er nahm die Kamera wieder auf und schwenkte in einer Richtung wo gigantische, durchsichtige, runde Behälter zu sehen waren, die circa 2 Meter hoch waren und laute Kühlgeräusche von sich gaben. „Mein Forschungsassistent Jacob Schillinger wird diesen Versuch an mir durchführen und dafür sorgen, dass er meinen Körper im Kälteschlafprozess, die Kühlung bei -196° Celsius, mit flüssigem Stickstoff aufrecht erhält und mich in 50 Jahren wieder unversehrt auftaut bzw. auftauen lassen wird.“ Er schwenkte die Kamera zu Jacob, der mit einem leichten Hauch von unsicherem, jugendhaften Lächeln in Richtung Kamera nickte. Er wirkte mit seinen großen, braunen Augen eher verunsichert, aber versuchte trotzdem mit angespannter Haltung sich nichts anmerken zulassen. Viktor war wieder in der Kamera zusehen und stand vom Hocker auf. „Ich weiß, dass diese Forschung von der Regierung in Deutschland verboten ist, aber die Zukunft muss doch irgendwie weitergehen. Ich möchte jedem Mensch die Chance geben, sein Leben mit seinen Liebsten so lange wie möglich fortzuführen. Es ist Zeit, ich leg mich auf´s Eis. Wir sehen uns im Jahr 2070 wieder.“ Er sah bei diesem letzten Satz, starr und mit leerem Blick in die Kamera und schaltete ab.

Viktor schaut an sich herunter und tastet hektisch seinen Körper und dann sein Gesicht ab. „Oh mein Gott! Wir haben jetzt das Jahr 2068 und ich war die ganze Zeit 48 Jahre eingefroren. Jetzt weiß ich warum ich hier aufgewacht bin.“

Er öffnete nun das letzte Video mit der Bezeichnung Nachricht an Dr. Komanov:

Ein alter grauhaariger, dünner Mann, mit zerzauster Frisur war zusehen und sprach mit etwas gebrochener und ernster Stimme: „Hallo Dr., ich bin´s, Jacob Schillinger, Ihr damaliger Forschungsassistent. Ich habe schon lange auf diesen Tag gewartet. Wie Sie sehen können, bin ich inzwischen mit meinen 70 Jahren sehr alt geworden. Ich habe Sie zwei Jahre früher aufwachen lassen, da ich eine unheilbare Krankheit habe und nur noch wenige Wochen zu leben habe. Wenn es nach mir ginge, hätte ich Sie ewig weiter schlafen lassen, aber ich wollte Sie mit dem Videomaterial nochmal daran erinnern was für ein grausamer Sadist Sie damals waren und Sie nicht ungeschoren davon kommen sollten. Wie viele unschuldige Menschen mussten für Ihr Forschungsprojekt leiden und sterben? Sie haben Ihre Versuche größtenteils an Obdachlose vorgenommen am lebendigen Laibe. Ich war damals noch zu jung und naiv um zu erkennen, dass diese Forschung kein Fortbestand haben sollte. Ich hätte nie für Sie arbeiten dürfen und unterstützen sollen. Auch wenn Ihr Selbstversuch letztendlich gelungen ist, sorge ich dafür, dass Sie den Ruhm Ihrer Forschung niemals ernten werden und ich Sie dafür nun büßen lasse im Namen der Opfer.“ Mit strengem Gesichtsausdruck von Jacob endete das Video.

Hitze stieg in Viktor auf und sein Kopf hämmerte. Angst machte sich breit und sein Puls wurde schneller. Es wäre alles viel leichter wenn er sich an all die Dinge erinnern könnte und konnte einfach nicht glauben, dass er diese grausamen Versuche begangen haben soll. Verunsichert schaute er um sich herum, aber es war niemand da. Er stand auf und ging zum gegenüberliegenden Raum hinter der Glasscheibe. In der Mitte stand immer noch der Seziertisch den er auf dem Video gesehen hatte. Er öffnete die Schubladen, aber diese waren leer. Dann ging er weiter durch die Doppeltür. Dort sah er die riesigen, runden und durchsichtigen Kühlbehälter stehen. Eins davon war offen aus der Viktor wohl aufgewacht worden war und im nackten Zustand das Labor verlassen hatte. Plötzlich hörte Viktor ein dumpfes Geräusch. Ist der alte Jacob etwa noch hier im Labor? Panik ergriff ihn. Er musste jetzt zusehen hier schnell raus zukommen. Mit schnellen Schritten, fast rennend lief er schnell den Weg wieder zurück durch das Versuchslabor, weiter durch dem Arbeitsraum und dann den langen Korridor entlang wo das Licht immer noch flackerte. Endlich kam er an der dicken Ausgangstür an, aber sie ließ sich nicht öffnen. Viktor rüttelte heftig an dem langen Haltegriff, aber sie bewegte sich kein Stück. Schweißtropfen liefen an ihm runter. So sehr er sich auch bemühte, sie ließ sich einfach nicht öffnen. Ihm wurde jetzt klar, dass Jacob ihn eingeschlossen hatte und seine Rache-Ankündigung jetzt in Tat umgesetzt hatte. Viktor fing jetzt an zu schreien und hämmerte an die Tür. „Hiilfeeee, lass mich hier raus, Hilfeeeeeee!“ Er brach zusammen, ließ sich auf dem Boden sinken mit dem Rücken zur Tür und wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. „Es tut mir doch alles so leid!“

Eine Weile später stand er wieder auf, ging zurück den langen Korridor entlang und öffnete auf der rechten Seite eine Tür. Er hatte noch längst nicht alle Räume des riesigen Labors gesehen. Er befand sich jetzt in einem Umkleideraum mit Duschkabinen und Schließfächer. An den Kleiderhaken hingen noch einige weiße Laborkittel die seit damals wohl niemand mehr getragen hatte. Er schaute sich um, in der Hoffnung, dass vielleicht hier noch eine Ausgangsmöglichkeit gibt, aber Fehlanzeige. Er ging wieder raus und rannte weiter den Korridor entlang bis zum Ende und öffnete die nächste Tür. Er befand sich jetzt in einem recht kleinen und überschaubaren Arbeitszimmer mit einem großen Schreibtisch in der Mitte und Bürosessel. Alle Wände waren mit Bücherregalen verkleidet. Das musste wohl damals sein Arbeitszimmer gewesen sein. Viktor ging zum Schreibtisch und entdeckte ein Foto auf dem er selbst zu sehen war mit ein junges, braunhaariges Mädchen im Alter von ca. zehn Jahren, dass er mit einem Arm an seiner Seite hielt. Beide lachten auf dem Foto und im Hintergrund sah man das Meer. Viktor nahm das eingerahmte Bild in die Hand und strich sanft den Staub weg. Er erinnerte sich plötzlich wie alles begann…….

One thought on “Das kalte Erwachen

  1. Sehr geniale Geschichte.
    Du hast mich mit deiner Geschichte komplett geflasht und begeistert.
    Kompliment.

    Ich lasse dir sehr gerne ein Like da.

    Und bitte schreibe noch viele bezaubernde Geschichten.

    Denn du hast Talent.

    Ganz liebe Grüße.
    Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Vielen Dank.
    Und pass auf dich auf.
    Swen

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