Ines001Das Mädchen, der Mann und die alte Frau

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1

Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass es die Schuld der alten Dame war. Die dürre Frau mit den schiefen gelben Zähnen und den aufwirbelten Locken. Vielleicht auch ein wenig die von Luis Martin, der am 3. Oktober wegen einem dringendem Geschäftstermin mitten am Abend mit Nico sprechen musste. Ich weiß nicht genau, worum es ging und habe auch nie gefragt.

Nico hat mir an diesem unheilvollen Tag nur einen entschuldigenden Blick zugeworfen, als sein Telefon lautstark das Lied von Maroon 5 „Payphone“ anstimmte. Der Klingelton war wohl der einzige Überrest aus unserer langjährigen Freundschaft.

Er sah mich an, richtete den Blick auf Janette, die neben Lizzy im Gras spielte, und dann wieder zurück zu mir. „Luis“, formte er stumm mit den Lippen und entfernte sich, um mit seinem Kollegen zu reden. Bereits am Anfang entstand eine hitzige Debatte, bei der Nico alles andere als glücklich dreinsah.

Aber das war nicht wichtig.

Das eigentlich wichtige war, dass ich stets ein wachsames Auge auf die beiden Kleinen hatte, selbst als mein Hund Jerry einen riesigen Ast anschleppte und darum bettelte ihm nachrennen zu dürfen. Ich ignorierte ihn.

Janette, die bereits die dritte Klasse besuchte und somit älter als die fünfjährige Lizzy war, nahm gerade eine Handvoll Laub und überschüttete Lizzy damit. Jane lachte mit ihrer Engelsstimme und Lizzys Reaktion war eine Mischung aus Empörung und Gekichere.

„Was soll denn das?!“

Nicht nur ich erschrak bei der wütenden Stimme, sondern auch die beiden Mädchen. Sie verstummten und starrten mit großen furchtsamen Augen zu der Dame auf, die anklagend den Zeigefinger gegen mich erhoben hatte. Ich sah sie verwundert an, doch bevor ich antworten konnte, wanderte ihr Zeigefinger an mir vorbei und auf den Boden. Als ich ihrer Hand mit meinem Blick folgte, wandelte sich auch mein Gemütszustand von perplex zu empört: „Sie haben nichts Besseres zu tun, als sich über einen Haufen Scheiße von meinem Hund zu beschweren?!“

„Entweder sie kümmern sich um ihren Hund, oder geben ihn wieder ab, wenn sie das nicht können“, bellte sie zurück. Sie war sichtlich erzürnt, dass ich ihren Hinweis nicht friedvoll aufgenommen habe. Ihr Gesicht verzerrte sich dabei, sodass sie mit den grauen Locken selber wie ein kleiner gereizter Pudel aussah. Ihre gelben, fast schon fauligen Zähne, wackelten dabei unheilvoll in ihrem sabbernden aufgerissen Mund. Oft verfolgte mich diese groteske Fratze bis in meine Träume hinein und ich fragte mich ob sie wirklich so ausgesehen hatte. „ Jeder geht diesen Weg entlang und sie haben nicht einmal den Anstand das wegzuräumen…“

„Warum kümmern sie sich nicht um ihre eigene Scheiße?“, schrie ich zurück. Lizzy fing an zu weinen und ich senkte meine Stimme, aber meine Zähne knirschten unheilvoll.

Das Gezeter ging weiter und nur Lizzy zuliebe hielt ich mich zurück, aber als ich mit zusammengeballten Händen dem kleinen Plastikbeutel die Hinterlassenschaft von Jerry aufgesammelt habe, schrie Lizzy und alles andere verblasste in meiner Erinnerung.

2

Ich dachte ständig daran und trotzdem war ich arglos als ich Handy fand.

Da dachte ich nicht an Janettes und Lizzys Sturz, als ich an Lizzys Beinen zerrte, um sie von dem Baum herunterzubringen. Ich konnte doch nicht wissen, dass sich meine kleine Nichte überrascht an Janettes Armen klammern würde. Ich war aufgewühlt, überrascht wütend.

Jetzt war ich das auch. Aufgewühlt. Aber trotzdem dachte ich nicht an das Ereignis vor einem Monat.

Das einzige was ich über den merkwürdigen Zufall dachte war: Oh.

Das kleine Gerät lag mit dem Bildschirm nach unten auf dem gepflasterten Weg und offenbarte mir somit das quitschgelbe Popsocket, das mir als kreisrunde Sonne entgegen grinste. Oh.

Ohne nachzudenken hob ich es von der Bordsteinkante, wo es gefährlich nahe am Rand taumelte. Ich drehte es, um meinen Verdacht zu bestätigen: Und tatsächlich: Es war Lizzies Handy, das sie zur Einschulung geschenkt bekommen hatte. Ein weißes Samsung Galaxy. Auch wenn das Display mehrere Risse aufwies, konnte ich nach kurzem Überprüfen feststellen, dass zumindest das Display noch funktionstüchtig war. Der Hintergrund zeigte Lizzy mit ihrer Schwester und ihrer Mutter Marlene. Sie musste es am Nachhauseweg verloren haben, dachte ich, als ich weiterging und das kleine Ding in meiner Jackentasche verstaute. Da ich sowieso keine Eile hatte irgendwo hinzukommen, beschloss ich sofort bei meiner Schwester anzurufen, um ihr schnellstmöglich den Stress zu nehmen, wenn Lizzy heulend beichten musste, das sie ihr Handy verloren hatte.

Ich klingelte. Nach einer Ewigkeit wurde die Tür aufgerissen, und Marlene starrte mich verblüfft an. Im Hintergrund schrie ein Baby. „Lizzy, pass doch kurz auf Gracie auf! Was machst du hier?“ Zu ungeduldig, um die Antwort abzuwarten, wollte sie die Tür wieder zuziehen, aber ich hielt sie blitzschnell auf, „ich wollte nur kurz was vorbeibringen, stell dich nicht so an.“

Sie verdrehte die Augen, „Was ist es denn?“

„Ich hab Lizzys Handy gefunden.“

„Lächerlich. Sie hatte es vorher schon in der Hand, wie immer-“

Marlene wollte sich schon wieder wegdrehen und machte Anstalten die Tür zu schließen, aber ich fiel ihr ins Wort: „Hör mir doch einfach mal zu!“ Ich holte das Handy aus meiner Jackentasche und zeigte es ihr, meine Hand drückte die Tür wieder auf, sodass ich zumindest die erste Stufe des Eingangs erklimmen konnte. Meine Schwester drehte sich ruckartig um, ihre wirren Haare  wurden noch mehr durchgewirbelt. „Deswegen musst du mich nicht anschnauzen“, dann riss sie mir das Handy aus der Hand und rief ihre älteste Tochter. Lizzy kam eifrig angerannt. „Hi Onkel Vinz“, sagte sie und grinste mich schief an. Marlene war unbeirrt und zeigte Lizzy ihr Handy. „Ist das deins?“ „Klaroo!“, rief sie, „ich habs heute schon gesucht. Aber da ist jetzt ein Sprung drin.“ Sie schien zu überlegen, trat unruhig von einem Bein auf das andere, dann fügte sie hastig hinzu: „ Aber ich war das nicht!“

„Wo ist Grace?“, fragte Marlene gereizt.

„Mein Handy suchen“, lachte Lizzy.

Und als hätten ihre Worte das Mädchen beschworen, tauchte Gracie im Eingang auf: „Gefunden!“ Triumphierend hielt sie das Handy in ihrer kleinen Hand, das nun wie ein verlorener Zwilling wirkte.

Mir wurde ganz kalt und mein Blick wanderte zu dem Handy in Lizzys Händen. „Aber es sieht genauso aus“, stammelte ich. Marlene musterte mich kurz: „Nimm das Handy und verschwinde.“

„Aber es hat sogar denselben Hintergrund, schau!“ Ich drängelte mich an Marlene vorbei, stieß dabei an die Vase am Fensterbrett, die gefährlich wackelte, sich aber gleich wieder beruhigte. Ich nahm von Lizzy und Gracie die Handys und schaltete bei beiden den Bildschirm ein. Sogar Marlene war kurz überrascht und Lizzy brachte nur ein „WOW“ zustande, als sie sich an mir vorbeidrängelte und auf die Zehenspitzen stellte, um über den Displayrand zu lugen.

„Verschwinde Vinz. Du brauchtest du nur einen Vorwand hierherzukommen. Lizzy ist gerade erst raus aus dem Krankenhaus und ich hab dir gesagt, ich will dich eine Weile nicht sehen. Respektier das und jetzt geh und nimm dein Handy mit!“ Sie nahm das Handy ohne Riss und drückte es Lizzy zurück in die Hand, dann beförderte sie mich nach draußen und schlug die Tür zu.

Perplex stand ich nun im Vorgarten und wie immer wechselte mein Gemütszustand rasend schnell.

„Ich wollte nur HELFEN“, brüllte ich dem geschlossenen Haus zu und hob frustriert die Hände, die untätig in der Luft herumtorkelten, „und Lizzy ist schon lange wieder gesund! Sie ist meine Nichte und ich hab das Recht sie zu besuchen.“

Von dem Haus bekam ich keine Antwort. 

Endlich realisierte ich auch, dass es mittlerweile dunkel geworden war  und ich sogar in meiner Winterjacke fror.

Scheiß drauf, dann bringe ich es eben morgen ins Fundbüro. Sachen gibt’s eben, dachte ich, als ich mich einigermaßen beruhigt hatte. Wenn sie meine Hilfe nicht wollen, dann war es eben so.

In meiner kleinen Wohnung angekommen, ließ ich die Dinge Revue passieren, und von einem Moment auf den anderen packte mich wieder die Wut. „das ist alles deine  Schuld“, brüllte ich dem schwarzen Display entgegen, mein glatzköpfiges Gesicht spiegelte sich darin und ich starrte in meine eigenen wütenden Augen. Dann warf ich das Handy an den Schrank, wo es mit einem dumpfen Schlag dagegen prallte und dann etwas leiser auf den Boden fiel. Nun war ich verstummt und auch das Handy lag leise und still auf dem Boden. Wahrscheinlich ist es genauso erschöpft wie ich. Mit diesem Gedanken ging ich schließlich schlafen.

3

Der Traum wirbelt meine Gedanken durcheinander, um mein Unterbewusstsein wohl bis zum absoluten Chaos zu bringen. Es gibt viele Träume, aber sie wiederholen sich stets.

Ich kenne den Traum.

Ich sehe in einen Spiegel und erblicke das Gesicht der alten Frau, aber es muss meines sein, denn es sind meine Zähne, die aus dem Mund fallen, einer nach dem anderen, genau wie Lizzy gefallen ist, sie schreit mich an, dabei sind es NUR MEINE ZÄHNE und die können doch gar nicht schreien, oder? Danach sehe ich auch Janette, oh die kleine Jane, ihre glücklichen kleinen braunen Augen und die zwei blonden Zöpfe, die ihr nur bis zum Kinn reichen. Im Traum ebbt die Wut ab und verschwindet für diese Zeit. Dann frage ich mich irgendwie ob ich der Mann bin, der einfach versagt hat. Nicht die Frau, nicht das Mädchen, sondern ich. Aber das verblasst wieder alles, nachdem ich aufwache.

4

Und wenn ich dann wach war und trotz langem Schlaf mit Augenringen und Tränensäcken in den Spiegel starrte, war nicht vieles anders, nur eben langsamer. Ich alterte jeden Tag vor einem Stück Glas, das mir einen Mann zeigte, der wohl schon längst verloren war, und ich dachte mir: Morgen wird es so sein, morgen sehe ich endgültig aus wie die Alte und dann wird mein Fleisch weich und schwammig und verzerrt sich und dann bin ich auch nur noch runzlige Haut ohne Zähne.

Meine Haare habe ich bereits verloren, Leonie hatte mir zu meinem dreißigsten lachend eine Mütze geschenkt.

Ein Mann ohne Frau, ohne Familie, ohne Liebe und auch noch ohne Haare. Verbittert starrte ich mich an: Wer bin ich noch?

Ich atmete tief durch und fokussierte mich darauf, gut in den Tag zu starten, schließlich war heute Samstag und ich wollte gleich meinen Wocheneinkauf erledigen.

Wenigstens muss ich keine Zeit mehr in Haarpflege stecken, dachte ich und lächelte sogar kurz. Achte auf die positiven Dinge, wie Denise immer gesagt hat. Mein Schmunzeln verschwand und ich verdrängte Denise mit aller Macht aus meinem Kopf.

Ich ging aus dem Bad, um mich anzuziehen und dann sah ich das Handy und erinnerte mich an Gestern.

Kaum zu glauben, dass ich es einfach vergessen hatte. Erst zögerte ich, schließlich wollte ich es ins Fundbüro bringen, aber jetzt mit klarem Verstand wurde mir bewusst: Das Handy konnte unmöglich ein Zufall gewesen sein.

Ich atmete kurz durch, um mich zu beruhigen. Dann versuchte ich es zu entsperren. Lizzys Geburtsdatum war auf jeden Fall falsch. Ich überlegte Leonies Geburtstag einzutippen, aber es erschien mir falsch. Leonie hatte hiermit nichts zu tun. Ich biss mir auf die Lippe und dann fiel es mir ein. Das einzig Logische. Der Tag an dem ich Lizzy auffangen konnte und Janette nicht. 031018.

Ich erschauderte, als sich der Startbildschirm öffnete und meine Ahnung leider bestätigt wurde, so als ob sich meine Albträume gerade manifestierten.

Auf dem Bildschirm war nicht viel zu sehen. In der Mitte prangte die Galerie und ansonsten war der Hintergrund schwarz. Ich klickte darauf.

Ein unscharfes dunkles Foto von einem Mann, der wohl in einem Stuhl saß. Ich wischte weiter und wünschte ich hätte es nicht getan. Ein Urlaubsfoto. Von mir und meiner damaligen Frau. Was sollte das, denke ich? Was zum Teufel wurde hier gespielt? Leonie starrte in die Kamera und lächelte. Mein Herz schmerzte entsetzlich. Ich wischte hektisch weiter, noch ein Foto, auf dem ich und Leo waren: Wir beide beim Eis essen. Noch eins: Wir beide beim Fluss, wir beide zusammen vor dem Kino, wir beide Pizza essen, ich alleine bei ihrem Grab. Das ist unmöglich, denke ich, unmöglich. Ich wischte weiter. Ein Video. Ich wischte weiter. Ende. Ich atmete durch und startete das Video. Meine Hände zitterten, ich musste lauter stellen, denn eine Stimme redete undeutlich. Es rauschte, aber natürlich erkannte ich meine eigene Stimme sofort und ich wusste auch exakt wann ich diese Frage gestellt habe: „Meinst du es war meine Schuld? Weil ich manchmal so … wütend bin?“

Das Video endete hier und das einzige was man sehen konnte war ich, wie ich in dem Stuhl saß, wie auf dem ersten Foto. Ich weiß sogar noch was geantwortet wurde und von wem: „Du bist nicht nur deine Wut, aber die Wut ist ein Teil von dir-“

Nein, dachte ich, dahin gehe ich nicht zurück. Ich legte das Handy weg, schaute auf die Uhr. Gott, was würde ich dafür geben, jetzt noch weiterschlafen zu können.

Aber das musste wohl bis heute Abend warten.

Verdammt. Es ist offensichtlich, dass das Nicos Werk war, er hatte die Fotos gemacht und die Aufnahme musste er von Denise haben. Denise, meine ehemalige Therapeutin und Nicos Frau. Zufälle gibt’s eben.

So schnell wie ich kann stecke ich das Handy ein und mache mich eilig auf den Weg.

5

„Was ist los?“, Nico starrte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die dunklen Augenringe hatten mehr Farbe als seine matten braunen Augen. Ich halte ihm wortlos das Handy hin.

„Das war nicht ich. Gute Nacht.“ Nico sah tatsächlich nicht gut aus, so als hätten ihn Kopfschmerzen oder Alpträume die Nacht wachgehalten.

„Ach“, sagte ich spöttisch, „und wer sonst droht mir mit ehemaligen Urlaubsfotos von Leo und mir?“

„Drohen? Wovon redest du Mann.“ Nico rieb sich die Augen.

Plötzlich begann mein Handy zu klingeln und erst hielt ich das Falsche ans Ohr, die Sonne grinste Nico an. Schließlich riss ich mein eigenes Handy aus der Tasche. Das andere fiel auf den Boden, ich wollte es aufheben, aber Marlenes Stimme ließ mich innehalten:

„Lizzy ist weg! Wenn du etwas weißt, dann sag es mir, bitte!“

Während ich Nicos müdes Gesicht betrachtete und mir Marlene ins Ohr brüllte, schlug ich meine Hand gegen die Stirn. „Natürlich“, rief ich, „es war Denise!“

Auch wenn Nico wohl sehr wenig Schlaf hatte, verstand er sofort was los war. „Ich fahre“, sagte Nico, nachdem ich aufgelegt und Marlene etwas beschwichtigt habe, und ohne Erklärung schnappte er sich noch eine Jacke, schlüpfte in seine Schuhe und drückte sich dann bereits in Jogginghose und Gammelshirt an mir vorbei und ließ die Tür zuschnappen. Etwas überrumpelt stieg ich in den Beifahrersitz, nachdem Nico mir ungeduldig aus dem Auto winkte.

„Was soll das alles? Du hast die ganzen Fotos geschossen, hast du sie Denise gegeben? Und was sollte das mit dem Video? Denkst du ich bin nicht genug GESTRAFT!“

Kurz warf er mir einen Blick zu und knirschte ebenfalls mit den Zähnen, „sei einfach leise! Ich weiß zwar nicht was du für ein Video meinst, ich kann dir nur sagen, dass Denise durchgedreht ist.“

„Ach ja genau, alles einfach auf deine Frau schieben.“

Nico hatte das Handy genommen und machte hastig eine Sprachaufnahme. Ich konnte mir denken an wen die ging: „Es war wirklich Denise und sie ist bei der alten Steingrube. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie deine Tochter hat. Beeil dich und ruf die Polizei!“ Dann legte er das Handy auf das Armaturenbrett und fluchte, als es im selben Moment in der Kurve auf den Boden rutschte.

„Ich dachte nicht, dass sie ernst macht! Ständig brabbelte sie was von dir und von Lizbeth und von Jane.“, fuhr er einfach fort.

„Warum dann erst jetzt, sie hatte mich behandelt, sie wusste was für Vorwürfe ich mir alleine für Leos Selbstmord gegeben habe, DENKST DU JETZT WÄRE ES BESSER?“, dass aber auch die alte Frau Schuld hatte, verschwieg ich.

Auch Nico schwieg, dann fuhr er zögernd fort: „Natürlich.“ Ich war verwirrt, dann fiel es mir ein. Oh Gott. „Leo ist gar nicht abgehauen.“, sagte Nico und das war wohl alles was er wissen musste, denn danach schwieg er wieder.

Wow, ich habe ihm die Sprache verschlagen, dachte ich, ganz schöne Leistung. Wenigstens etwas schaffe ich. Leo dagegen versuchte ich aus meinem Kopf zu verbannen.

Aber bevor ich mich wieder in Gedanken verlor, knüpfte Nico beinahe emotionslos an das Gespräch von vorhin an: „Marlene hat angerufen, dass Lizbeth vor drei Wochen entlassen wurde.“

Lizzy, fiel mir siedend heiß ein und meine kleine Nichte verdrängte die Erinnerung an Leonie endgültig aus meinem Kopf. Lizzy lebte und war wichtig.

„Denise hat es mitbekommen und es ist doch der Monatstag von Janes Unfall und dann ist sie abgehauen zur Steingrube.“

Schnell fuhr er fort, da ich bereits zu einer bissigen Antwort ansetzte. „Sie hat diese Steingrubenhose, die sie immer anzieht, seit sie dort zum ersten Mal mit ihrem Vater war. Sie liebt diesen Ort. Ich weiß, dass sie da ist. Und ob du es glaubst oder nicht, ich will dir helfen“.

Die restliche Fahrt war Schweigen, denn ich glaubte Nico irgendwie.

Als wir ankamen, schien Denise schon auf uns gewartet zu haben. Sie hielt eine Waffe an Lizzies Kopf, die schrecklich weinte. „Onkel VINZ!“, brüllte sie und weinte noch entsetzlicher, als Denise sie an ihrer Schulter zurückhielt und so verhinderte, dass sie losrennen konnte.

„Die Waffe ist nicht echt“ sagte ich, bemüht um eine ruhige Stimme. „Für sie schon“, antwortete Denise zähnefletschend.

„Das ist Wahnsinn“, schaltete sich Nico ein und hielt die Hände beschwichtigend in die Höhe.

„Das ist Vergeltung“, Denises Stimme war leise und ich hatte Mühe, sie über das Rauschen in meinen Ohren zu hören.

„Lizzy hat keine Schuld!“, sagte Nico.

Ich wurde entsetzlich wütend. Nico redete und redete und redete so wie immer, wollte er Lizzy etwa mit seinen Worten dort wegbringen? Ich handelte wenigstens. Ich rannte auf Denise zu, die Waffe richtete sich gegen mich, ohne Erfolg, sie war nicht echt und dann bevor ich Denise erreichte, packte sie Lizzy und warf das strampelnde schreiende Kind einfach hinunter.

6

Denise versuchte nicht auszuweichen und als ich sie gegen den Abgrund drückte, dachte ich: Ja vielleicht war ja wirklich wie diese alte Frau und vielleicht hatte sie nur so tolle Haare weil es eine Perücke war und vielleicht sollte ich mir auch eine kaufen und jetzt bin ich doch endgültig Schuld an dem Leid anderer. Ich lachte und wollte Denise endgültig von der Kante stoßen, als sie plötzlich nach meinem Gesicht griff. Reiß es doch ab, dachte ich, ich will es nicht mehr. Meine Sicht wurde verdeckt, meine Arme ruderten, ich spürte irgendwo Wiederstand, packte zu, riss sie mit mir nach unten. Und ich dachte, dass wir fallen würden, aber wir prallten nur an den Hang und Steine rissen an mir, Denise brüllte irgendwas, ihre Hand griff umher, einmal schlug ihr Fuß in mein Gesicht, ich dachte, woher kommt der Fuß, der muss doch schon längst unten sein.

Und irgendwann waren wir das auch. Denise weinte: „Wie kann es sein dass mein Kind nicht mehr lebt, aber deine Nichte schon?“

Meine Augen starrten nach oben. Ich lebte ja noch, dachte ich einfach nur. Kälte brannte schmerzhaft in meinem Gesicht und biss sich in die Haut.

Denise rappelte sich irgendwo am Rand meines Sichtfelds auf und kam zu mir. Zuerst schlug sie kraftlos auf mich ein und der Himmel verschwand und nur ein zerkratztes Gesicht blieb mir. Irgendwann schrie und weinte sie nur noch und irgendwann, irgendwann kam die Polizei. Sie führten uns ab, aber ich dachte nur an Denise in diesem Moment.  Zwei Polizisten hievten sie hoch, sie wehrte sich nicht richtig dagegen, aber sie konnte auch nicht zur Ruhe kommen, ich glaube, das wird sie nie können. Ihre Arme zuckten, Blut rann ihr übers Gesicht, sie hatte eine Platzwunde an der Stirn, mehrere rote Kratzer. Sie weinte, Rotz rann ihr aus der Nase über ihre schmalen Lippen, in ihren brüllenden Mund und sie hörte einfach nicht auf zu schreien. Und ich konnte nicht aufhören sie anzustarren. Es wird ein neues Gesicht in meinen Albträumen geben, das weiß ich, denn egal wie sehr ich Denise stumm anflehte aufzuhören, sie schrie einfach weiter. Die Polizei versuchte nun auf sie einzureden: „Beruhigen sie sich bitte. Die Gefahr ist vorbei.“

„Mein Kind“, brüllte sie.

Hinter ihnen tauchte Marlene auf, in ihren Händen eine weinende Lizzy. Hände rissen an mir, drehten meine Arme auf den Rücken, mein Blick schweifte zum Abhang, es war kein steiler Abhang, sondern nur ein kleiner Kiesberg. Denise wollte Lizzy nicht töten, dachte ich, „ sondern mir nur Angst einjagen.“ Angst eingejagt, dachte ich weiter, hat es nicht. Nur die Wut hervorgebracht. Wie immer. Was für ein sinnloses Unterfangen.

Aber was ich jetzt hörte jagte mir einen Schauer über den Rücken, denn zum ersten Mal zeigte Denise die Emotionen, die sie mir gegenüber bisher verschlossen hatte. Ich dachte, sie trauerte still, aber jetzt vibrierte die Luft um sie herum. „Wer bin ich?“, rief sie, „Wer bin ich denn noch ohne mein Kind?“

Wellen des Schmerzen breiteten sich von ihr aus und verschwanden in dem kühlen Wintertag, als sie schließlich nach einer Ewigkeit vor Erschöpfung verstummte und nur noch ein leises Echo in meinem Kopf zurückblieb: Wer bin ich denn noch?

2 thoughts on “Das Mädchen, der Mann und die alte Frau

  1. Liebe Ines
    Was für eine unglaubliche Geschichte.
    Im wahrsten Sinne.
    Kompliment.
    Respekt.

    Super kurzweilig geschrieben, komplett, kompliziert, verwirrend ausgedacht, sehr gut zu Papier gebracht.

    Super.
    Diese Geschichte hat mich bereits nach wenigen Sekunden gefangen. Irritiert. In ihren Bann gezogen.
    Außergewöhnliche Handlung. Geniale Bilder, Eindrücke.

    Eine wahrlich STARKE, GROßE Geschichte.
    Super Ende, gute Dialoge.
    Kompliment.
    Wirklich.
    Irgendwann, irgendwie hast du mich bereits nach wenigen Sätzen in deinen Bann gezogen.

    Zudem schreibst du ganz außergewöhnlich.
    Du hast deine selbst gewählte eigene künstlerische Art. Ironisch, intelligent, ausgeklügelt, verwirrend, hintergründig, eigen.

    Das Größte, was wir als Schreiber erreichen können, ist bei 1000000 veröffentlichten Stories im Jahr, einen eigenen, völlig unvergleichbaren Stil zu haben.
    Den hast du, obschon ich in diesem Jahr erst gefühlte 999999 Geschichten gelesen habe 🙂

    Ohne Mist.
    Deine Art ist einzigartig.
    Du verlangst deinen Lesern einiges ab.
    Deine Geschichte liest man nicht mal so nebenbei.
    Du forderst einen.

    Allein schon wegen der vielen verschiedenen Namen und Personen.

    Und der tiefen Hintergründe, der tiefen Hintergründigkeit.
    Dem Wissen, dass hinter jedem Plot ein “aber” steht. Ein “was wäre wenn”.

    Whow!
    Ich bin in der Tat geflasht.
    Angetan. Begeistert.

    Ein kleiner Tipp.
    Bitte veröffentliche eine Story NIE, ohne dass mindestens 2 Menschen die Geschichte gegengelesen haben. In deiner Geschichte befinden sich ein paar Rechtschreibfehler und Komma- ,Grammatikfehler. Ein Fremdleser sieht die schneller und direkter als der Autor selbst. Ist halt so.
    Ansonsten hast du eine genial abstrus verfasste KG abgeliefert, die mit zu den besten Stories gehört, die ich in den letzten Wochen gelesen habe.
    Bitte schreibe weiter!!!!!!!

    Liebe Ines
    Dir, deiner Geschichte und deinem Schreiben alles Gute.
    Ich will mehr von dir lesen.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Ich würde mich sehr freuen, wenn du meine Geschichte “Die silberne Katze” lesen würdest. Vielleicht fällt dir dazu ja auch ein Kommentar ein. Fänd ich super.
    Pass auf dich auf.

  2. Wow! Eine wirklich sehr spannende Geschichte hast du da geschrieben! Mir ist aufgefallen wie ich Kapitel 5 und 6 quasi fast gerappt habe, so schnell habe ich deine Worte verschlungen. Sehr sehr schön!
    Einfach dran bleiben, sag ich da nur!:)

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