BenediktDer fremde Vertraute

Ein rotbrauner Schleier legt sich in sein Sichtfeld. Der Kopf der Beifahrerin rast an ihm vorbei, als er das Lenkrad nach rechts reißt. Er spürt, wie sein Oberschenkel, an dem sich eine Hand befindet, hart gegen den Schalthebel geschleudert wird. Die Luft ist leer, seine Finger schwitzen plötzlich und das ohrenbetäubende Geräusch quietschender Reifen entwickelt sich zu einem schrillen Klingeln. Der Himmel ist nicht mehr zu sehen. Nur noch der graue Asphalt der Straße. Dann nichts mehr.

Durch das rabiate Schütteln an seiner Schulter wird Eric wach. Langsam begreift er, dass sein Hier und Jetzt aus nur zwei Sachen bestehen sollte: So schnell wie möglich anziehen und im morgendlichen Berufsverkehr zur Arbeit fahren, um noch zu versuchen, pünktlich zu erscheinen. Und um zu vermeiden, wieder einmal von seinem Chef bloßgestellt zu werden. Sein Sakko vom Vortag zieht er schnell über sein frisches weißes Hemd. Dazu die immer gleiche Krawatte, die immer gleichen Lackschuhe.
»Du könntest allmählich ein wenig Abwechslung in deinen Kleiderschrank bringen, findest du nicht?« fragt seine Frau, die mit gerunzelter Stirn im Türrahmen steht.
»Und du könntest mir einen deutlich schöneren Morgen bereiten.« Er schmunzelt und ergänzt: »Makelloser dunkelblauer Anzug mit dunkelblauer Krawatte ist und bleibt zeitlos. Und steht mir. Denkst du nicht?«
Eilig greift er zu seiner Aktentasche und schaut auf seine Armbanduhr: 07:36 Uhr.
In 24 Minuten zur Arbeit. Das schaffe ich niemals. Nicht mit diesen Idioten im Straßenverkehr.
Er schiebt sich zur Wohnungstür heraus, erhascht einen flüchtigen Kuss, sammelt Schlüssel und Smartphone ein und sprintet zum Aufzug am Ende des Flurs. Die silbernen Türen beginnen sich zu schließen, aber Eric kann einen Jackenärmel im Innenraum erkennen.

»Moment! Halten Sie bitte die Türen auf!«, brüllt er. Jetzt ist jeder in der Etage wach. Die Türen schließen sich. Im letzten Moment steckt er seinen teuren, polierten Schuh zwischen die Türen und ärgert sich bereits über die Macke. Auf ein sarkastisches »Dankeschön« und ein geflüstertes »Für gar nichts« erhält er keine Antwort. Eric dreht sich herum. Wie jeden Morgen entdeckt er nur sich selbst in nahezu unendlicher Ausführung an den verspiegelten Wänden. Die Kabine ist leer.


Ich brauche unbedingt mehr Schlaf, um klar denken zu können. Er drückt das „E“ und genießt das sanfte Rütteln für die nächsten 34 Stockwerke. Müdigkeit übermannt ihn. Nach zwei anstrengenden Wimpernschlägen beginnt er sanft einzuschlafen. Sein Kopf kippt gegen die Wand und Eric zuckt zusammen.
Augen auf,
ermahnt er sich.
Augen auf! Du darfst hier nicht einschlafen!

Aber seine Augen sind längst geöffnet, Dunkelheit umgibt ihn. Eric befindet sich in einem stockdunklen Würfel, der an Seilen schwebend, 70 Meter in einem Schacht über dem Boden hängt. Wie ein nervöser Fußgänger an einer Ampel, der eilig über eine Straße hasten möchte und den Knopf fast kaputtdrückt, betätigt Eric die schwach rot leuchtende Notrufglocke und das Lautsprechersymbol mehrmals, in der Hoffnung, ein Zeichen der Rettung zu erhalten. Ohne Erfolg. In Form eines weiteren matten Leuchten am Boden erkennt Eric sein Smartphone.
Wenn mir das blöde Teil noch einmal aus der Tasche fällt, wird der Bildschirm bald brechen. Nur eine Frage der Zeit.
Eric hebt es auf, um endlich die Hausverwaltung anzurufen.
Bevor er mit seiner Hand über den Bildschirm wischt, blickt er auf das Hintergrundfoto.
Das kann nicht sein.
Für einen Augenblick steht die Zeit für Eric still. Seine Finger gehören für den Bruchteil einer Sekunde nicht mehr ihm, er kann es nicht verhindern, dass sein Smartphone wieder auf dem Boden landet.
Gleiches Modell, gleiche durchsichtige Hülle, die sich an den Rändern auflöst. Sogar die Visitenkarte, die auf der Rückseite klemmt, stimmt exakt überein.
Reflexartig greift er an sein rechtes Hosenbein und spürt die vertraute Kontur seines Smartphones. Er hält das gefundene Exemplar neben sein eigenes.
Alles identisch. Dennoch. Es ist nicht mein Smartphone.
Der einzige Unterschied besteht in dem Foto auf dem Sperrbildschirm, welches nicht ihn und seine Frau an ihrem Hochzeitstag zeigt, sondern Eric in einem klinisch weißen, endlos erscheinenden Raum ohne erkennbare Wände. Sein Arm liegt auf der Hüfte von Maria, einer Arbeitskollegin. Beide Augenpaare starren aus schmutzigen, blutenden Gesichtern ausdruckslos in die Kamera. Sie tragen die übliche Bürokleidung. Erics dunkelblauer Anzug ist an der linken Schulter eingerissen und an seinen Ärmeln haftet feuchte Erde. Seine goldenen Manschettenknöpfe liegen verstreut auf dem Boden neben der übel zugerichteten Leiche eines Jungen im Teenageralter.
Friedlich ruht dieser zu den Füßen der Erwachsenen, den Kopf mit aufgeplatzten Wunden übersät, sein linkes Bein steht ab, es scheint die Kniescheibe zu fehlen. Es lässt sich ein Stück des Oberschenkelknochens zwischen den Fetzen seiner Jeans erahnen.
Eric lacht. Mit seinem Kopf im Nacken und die Augen fest zugekniffen, prallt sein Gelächter von den Wänden ab.
»Total witzig« ruft er viel zu laut. »Der Spaß kann jetzt gerne aufhören. Wer auch immer sich dieses Foto zusammengebastelt und sich diesen Scherz erlaubt hat, kann mit seinem Talent für Bildbearbeitung zur Hölle fahren. Und vorher diesen Aufzug wieder in Gang setzen.«
Sichtlich genervt entsperrt er das gefundene Smartphone, ohne daran zu denken, sein eigenes zu nutzen, um den Notruf zu wählen.
Der Code funktioniert. Das Foto verschwindet vom Bildschirm. Jedoch nicht aus seinem Kopf.


Plötzlich flackern die Leuchtstoffröhren auf, Eric atmet erleichtert aus und seine Schultern senken sich. Er drückt zweimal auf das „E“, um nun endlich seinen Arbeitsweg fortsetzen zu können und bemerkt in seinem eigenen Spiegelbild, dass doch jemand hinter ihm steht.
Er schnellt herum und sieht noch mehr Kopien seines Ichs an den Wänden als beim Betreten des Aufzugs. Direkt vor ihm steht die Version Erics, die auf dem Smartphone zu sehen ist, nun in Fleisch und Blut. Er nimmt das gefundene Smartphone aus Erics Hand, betrachtet das Bild eindringlich und streicht sich über die Platzwunde an seiner Stirn, die dem digitalen Ebenbild bis aufs Haar gleicht. Dabei gibt er weder einen stummen Schmerzschrei von sich, noch ändert sich seine Mimik. Sein dunkelblauer Anzug weist an den gleichen Stellen Risse und Verschmutzungen auf, selbst die Krawatte ist mit Erde beschmiert.
Eric schiebt sich zurück, bis er mit den Schulterblättern die Aufzugtür berührt und nicht mehr weiterkommt.
Bloß nicht panisch werden. Panik im Aufzug ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.
»Was machen Sie hier? Wo sind Sie so schnell hergekommen?«
Eric blickt nach oben. Er erwartet lose Schrauben an einer Öffnung im Schacht zu entdecken oder eine halb geöffnete Klappe. Ein Versteck, das auf einen Hohlraum hindeutet. Irgendetwas.
»Wollen Sie mich reinlegen? Ist das hier die versteckte Kamera? Denn ich habe schon weit bessere Scherze gesehen als diesen hier.« Ihn mit seiner ironischen Art zu provozieren, scheint Eric im ersten Moment äußerst schlagfertig und macht ihn sichtlich stolz.
»Nein«, antwortet sein Gegenüber. Seine fremden, leeren Augen haften weiter auf dem Bildschirm des Smartphones. Diese eine Silbe löst bei Eric Gänsehaut aus. Die Stimme erscheint ihm fremd, jedoch nur, weil er seine eigene Stimme nie als Außenstehender wahrgenommen, sondern sie schon immer einen anderen Klang in seinem Kopf erzeugt hat. Die Tonalität, Tiefe und Geschwindigkeit der Stimme des Mannes erinnert ihn an alle Sprachnachrichten, die er jemals geschickt und noch einmal gehört hat. An die eigene Stimme im Anrufbeantworter. An Videos seiner Hochzeit. An jedes einzelne Nein, welches er Emily je entgegnet hat. Diese Stimme ist sein perfektes Duplikat.
»Sind Sie Schauspieler? Maskenbildner? Imitator? Ich kann Ihnen gratulieren, dieses Kostüm ist glaubhaft. Sie haben mich gut getroffen. Die Schrammen und Prellungen sind ein wenig übertrieben, meinen Sie nicht?«
»Ach, findest du?« Er schaut auf und dringt direkt mit seinem Blick durch Eric hindurch.
»Was wollen Sie von mir? Und nehmen Sie verdammt noch mal diese bescheuerte Maske ab. Die Spiegel sind schlimm genug.«
Er schweigt. Eric mustert das bekannte Gesicht, welches er tagtäglich in jedem ausgeschalteten, schwarzen Bildschirm sieht, und kann keine deutlichen Nähte ausmachen, die auf eine Maskerade hinweisen würden.
Sind das Verletzungen unter seinem Ohr oder schlecht verarbeitete Ränder dieser künstlichen, aber verdammt realen und zugegebenermaßen gut gealterten Visage?

In den nächsten Sekunden absoluter Stille nimmt Eric nur sein eigenes nervöses Schnauben wahr und bemerkt, dass sich der Aufzug noch keinen Zentimeter bewegt hat. Mit seinem ausgestreckten rechten Arm hämmert er seine Handfläche auf alle Knöpfe. Keine Bewegung. Kein Geräusch. Er nimmt keine Reaktion wahr.
»Aussichtslos«, murmelt der Fremde.
»Sie sind wirklich gesprächsfreudig. Immerhin tauchen Sie hier aus dem Nichts auf und wollen etwas von mir, oder?«
Eric versucht einen tiefen Luftzug zu nehmen während er die Augen schließt. In dieser Kabine steht die Luft, ich kann kaum atmen, denkt Eric. Er schüttelt den Kopf, um den Schrecken auszutreiben. Ich stecke wahrscheinlich noch im Bett, warm unter der Decke und dies ist nur ein weiterer Albtraum.
»Kein Albtraum. Du hast nie Albträume. Außer diesen einen«, sagt der andere.
»Ist das Ihr Ernst? Lesen Sie Gedanken, Sie Freak? Sie sind vollkommen verrückt.« Eric bemerkt seinen zuvor ungewollt laut geäußerten Gedankengang nicht, reibt seine Fingerknöchel an seinen Schläfen und presst die Augen zu, um nicht den Verstand zu verlieren. »Hören Sie, machen Sie was Sie wollen. Sie sind der Clown hier und ich derjenige, der dringend zur Arbeit muss. Zumindest gebe ich mein Bestes, mich nicht zu verspäten.«
»Hier geht es nicht darum, was ich zu sagen habe, Eric.«

Er ist keinesfalls überrascht, dass der Mann seinen Vornamen kennt, wenn dieser Psycho bereits als perfekter Doppelgänger hier auftaucht.
»Ich höre dir zu. Es geht einzig allein um dich«, sagt der Mann und zieht seine Krawatte fest. Erics Blick ist auf den Krawattenknoten fixiert. Seine Angewohnheit, die Krawatte ständig weit genug nach oben zu schieben, um nicht nachlässig zu wirken, hat sich Eric in letzter Zeit abgewöhnt, da das Gefühl der Enge ihm andauernd den Atem geraubt hat. Erst jetzt erkennt Eric, dass der Fremde seine Verhaltensweisen kopiert. Nicht nur sein Aussehen wurde exakt nachgebildet. Neben dem zurückgehenden Haaransatz, den vereinzelten Sommersprossen – übrig geblieben aus seiner Kindheit, ein Relikt der schönsten Zeit im Leben – und den trüb gefärbten Augen, verfügt der Fremde über Erics Gestik, seine gerade Körperhaltung und sogar über die einzige Eigenart, die sich seit Monaten nicht mehr in seinen Alltag schleicht.
Nicht mehr seit dem Unfall. Seit der Nacht. Und seitdem er den äußeren Schein hinaufbeschwört, als würde sein Leben in geregelten Bahnen verlaufen. In solch einer Situation könnte er nicht noch eine Krawatte gebrauchen, die ihm die Luft abschnürt.

»Ich weiß, wieso Sie hier sind.« Die Erkenntnis schwebt bereits seit dem Moment in Erics Hinterkopf herum, in dem der Fremde das Smartphone an sich genommen hat und den Blick nicht davon abwenden konnte. »Hat Sie Maria etwa geschickt? Möchte Sie sich einen Scherz erlauben und mir Angst einjagen? Es hat funktioniert.« Eric klatscht zweimal halbherzig in die Hände und verzieht seine Lippen zu einem gezwungenen Lächeln.
Er fährt fort: »Es gibt aber ein Problem. Und das besteht darin, dass Sie nichts davon wissen sollten. Sie sollten nicht hier sein, nicht mit Maria gesprochen haben und von all dem keinen blassen Schimmer haben.«
»Jetzt kommen wir der Sache näher.«
»Wissen Sie was? Ich kann auch ganz anders bei Ihrem Spielchen hier mitspielen.« Eric geht zwei Schritte in Richtung des Mannes und überwindet die von ihm geschaffene Distanz. Die Nasenspitzen treffen sich beinahe, die Fäuste sind bereits geballt.
Bevor Eric seine schon im Kopf vorbereitete Drohung aussprechen kann, grinst der Mann und hebt sein Smartphone auf Erics Augenhöhe. Eric schaut sich das Bild ein weiteres Mal an, seine Knie werden weich und er muss sich an der Metallstange abstützen.

Quietschende Reifen – dazu der Geruch verbrannten Gummis, vor seinem inneren Auge schweben Marias rotbraune Haare vorbei.
Das Bild des toten Jungen löst ein Gefühl in ihm aus, welches ihn sonst nur in seinen Albträumen heimsucht.
Sein rechtes Bein verharrt auf der Bremse – er nimmt einen Schrei wahr, der nicht von der Seite in seine überforderten Ohren dringt, sondern von draußen – ein durch Fensterscheiben gedämpfter Schrei, der schneller abbricht, als er den Wagen bremsen kann.

»Das darf doch nicht wahr sein. Nein, verschwinden Sie sofort!«
»Langsam taust du auf, das gefällt mir. Dein früheres Ich ist in dieser Nacht gestorben. Vor mir kauert der gebrochene Eric, der es vor der Außenwelt versteckt, das weißt du.«
»Halten Sie die Klappe!«
»Heute früh ist auch Maria aus ihren Albträumen aufgewacht. Sie hingegen war nach langer Qual am Ende ihrer Kräfte und in-«
»Ich sagte, halten Sie die Klappe! Ich muss nachdenken.« Obwohl Eric ihn anbrüllt, zeigt der Mann keine Reaktion der Einschüchterung. Eric wendet sich zur Aufzugtür. Ohne zu überlegen, offenbart er ihm damit eine Angriffsfläche, seine empfindliche, ungeschützte Seite.
Ruckartig dreht sich Eric um und hofft, dass der andere in einer Rauchwolke verschwunden ist und alles nur ein Hirngespinst war. Er steht immer noch vor Eric und mit ihm tausende Duplikate in den Aufzugwänden. Eric schaut in alle Richtungen und hebt seine Hand, um an seinen Fingernägeln zu kauen. Bevor es dazu kommt, senkt er sie wieder. Er darf sich nicht nervös zeigen. Um sich zu konzentrieren, sieht er auf seine Schuhspitzen und fragt nach einer langen Pause: »Ich denke, wir wollen beide hier heraus, oder nicht? Was soll ich Ihrer Meinung nach unternehmen, um das hier…« Eric hebt seine Arme auf Brusthöhe und richtet sie nacheinander auf den Fremden und auf sich selbst »… zu beenden?«
»Nichts. Es ist bereits alles im Gange. Maria hat heute früh die Polizei angerufen, denen du im Eingangsbereich dieses Gebäudes begegnen wirst.«
Er macht eine Atempause, als sei sie eingeplant gewesen.
»Selbstverständlich wird deine Frau über jedes einzelne Detail informiert, da führt kein Weg dran vorbei. Auße-«
Emily. Meine Ehe. Meine Zukunft.
»Moment! Sie darf davon nicht erfahren. Auf keinen Fall. Wenn Emily erfährt, dass ich mit Maria unterwegs war, ist es vorbei. Wir können uns bestimmt einig werden? Wollen Sie oder ihr Auftraggeber Geld? Wer schickt Sie? «
»Ich habe keine Entscheidungsgewalt. Wie gesagt, es geht einzig und allein um dich, Eric. Du kümmerst dich darum, dass du mit Maria unterwegs warst – nette Bezeichnung. Darauf konzentrierst du dich also?«
Der Mann hebt eine Augenbraue und atmet deutlich lauter aus der Nase aus, als es nötig ist.
»Kreisen deine Gedanken jemals um den Jungen?«, fragt er ohne jeglichen Vorwurf in der Stimme, was Eric im Nachhinein verwirrt.
»Sind Sie deshalb hier? Um mein schlechtes Gewissen zu spielen? Ist das ein Rachezug?«
Der Fremde antwortet nicht. Sein Blick klebt weiterhin an Erics Augen. Eric nimmt kein Blinzeln wahr. Und weiß nicht, ob das was er jetzt macht, die richtige Entscheidung sein wird. Es führt nur ein Weg hier heraus.
»Niemand wird ihn betrauern«, sagt Eric.
»Was?« Eric kann sich nicht entscheiden, ob die Verwunderung des Fremden in dieser kurzen Frage echt oder vorgetäuscht ist.
Nachdem er einen Augenblick gestutzt hat, fährt er fort: »Niemand wird je eine Träne über ihn vergießen, weil ihn keine Person wahrhaftig vermisst oder nach ihm sucht. Eine Vermisstenanzeige ist alles, was man von diesem Jungen noch finden kann.«
Eric erwartet eine Antwort, irgendeine Reaktion, die ihm zeigt, dass das Erzählte beim Fremden tatsächlich ankommt und ihn zufrieden stimmt. Der Gesichtsausdruck, den er wahrnimmt, ist eine Mischung aus Ratlosigkeit, Desinteresse und oberflächlicher Aufmerksamkeit. Eric redet weiter: »Bevor wir uns darum gekümmert haben, dass die Leiche niemals entdeckt wird, habe ich einige Zettel in seinem Rucksack gefunden. Jan, Jonas oder wie auch immer er hieß, hatte Unterlagen dabei, die von fünf Sozialwohnheimen stammen. Darunter Meldebescheinigungen verschiedener Einrichtungen und Kontaktdaten, falls er von der Polizei oder dem Jugendamt gefunden wird.«
Eric kneift sich mit Daumen und Zeigefinger an seine Nasenwurzel und drückt fest zu.
»Er gehörte keiner Familie mehr an. Entweder war er ein Problemfall und wurde verstoßen oder er war Vollwaise. Ich weiß es doch selbst nicht. Jedenfalls kümmerte sich keiner um ihn und er war von keinem abhängig. Er trieb sich umher. Niemand macht sich ernsthaft jahrelang auf die Suche nach ihm.«
»Glaubst du deshalb, das Leben des Jungen sei weniger wert?« Nach einer viel zu langen Pause fügt er hinzu: »Als deins?«
»Meine Güte, es war ein Unfall! Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ja, es ist tragisch, aber es ist geschehen und lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Zufrieden? Reicht das? Ich weiß nicht, was das alles noch für einen Zweck hat.«
»Du hast Recht.«
»Was meinen Sie?« fragt Eric. Die Verwunderung in seiner Stimme war definitiv echt.
»Du hast Recht, Eric. Es lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Dir ist aber dein Ansehen, dein Ruf und das Geheimnis deiner Affäre wichtiger als ein ehrlicher, anständiger Umgang mit dem Jungen und deshalb lässt dich diese Nacht seitdem nicht mehr los, das weißt du. Der Junge hat es nicht verdient, entwürdigt von dir behandelt zu werden.«
»Ja, Herrgott noch mal. Aber was soll ich denn ändern? Soll ich etwa nach vier Monaten zur Polizei gehen und es melden? Meinen Unfall gestehen und meine Ehe, meinen Beruf und mein Leben gewissenhaft verlieren? Ich bereue es jede Nacht, wenn ich schwitzend aufwache, meine Uhr 01:14 anzeigt, ich mich nach rechts drehe und Emily neben mir liegt und nicht Maria auf dem Beifahrersitz. Seit Monaten habe ich nicht ein einziges Mal ruhig geschlafen. Ich kann keine lachenden Kinder mehr sehen, ohne an ihn zu denken und das, was aus seinem Leben hätte werden können. Emily und ich werden niemals eine Familie gründen können, weil meine eigenen Kinder einmal in dem Alter sein werden wie er. Das ertrage ich nicht. Es lässt mir keine Ruhe.«
Erics Fäuste ballen sich. Seine Knöchel werden weiß und seine Atmung nimmt rapide zu.
Vielleicht ist es genau das, was er will. Mein Gewissen umkehren und mich zu einem besseren Menschen machen. Weit gefehlt mein Lieber, weit gefehlt. Er sieht zwar aus wie ich, denkt aber nicht wie ich.
»Ich lebe lieber eine Lüge, bei der mein eigenes Leben in Ordnung ist, statt alles zu ruinieren. Wenn es Ihre Absicht war, die Wahrheit zu erfahren, dann gratuliere ich Ihnen hiermit. Doch, damit werden Sie nichts anfangen können. Es ist keine Spur zurückzuverfolgen. Wollen Sie vielleicht, dass ich mir selbst alles eingestehe? Dann waren sie erfolgreich. Ich bereue es.« log er.
Halleluja.
»Sonst noch was?« fragt Eric.
Die letzten Worte kommen über seine bebenden Lippen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Seine Aggression klingt langsam ab.
»Das reicht mir vollkommen«, antwortet der andere.
Der fremde Mann hebt ruckartig erneut das Smartphone. Vor Erics Augen blitzen schreckliche Erinnerungen auf. Er sackt in sich zusammen. Als er auf dem Boden aufschlägt, setzt sich der Aufzug mit einem Rütteln in Gang, als hätte er selbst den magischen Moment ausgelöst. Eric atmet erleichtert auf und dreht sich zur Tür, ohne noch einen Blick auf den Fremden zu werfen.
Bloß weg hier. Raus aus diesem Albtraum, weg von diesem Psychopathen.


Eric ist sich sicher, dass der Mann nur einen üblen und menschenverachtenden Streich mit ihm gespielt hat und er nie wieder etwas von ihm hören wird. Ohne Beweise kann man ihm nämlich nichts anhängen.
Doch was wäre, wenn der Fremde tatsächlich die Wahrheit sagt? Dann gibt es keine Zukunft und keine Lügen mehr. Keine Emily, keine Karrierechancen, keinen Pausen-Kaffee im Büro, keine Pfannkuchen am Sonntag, keinen Strandurlaub, keine lauen Sommernächte, keine Freiheit. Doch die eine Sache wird immer an ihm haften. Erics Kiefer verspannt sich. Er wird direkt im Erdgeschoss von der Polizei empfangen werden. Eric zählt die letzten Sekunden seiner Freiheit.
Drei.
Er sammelt den Rest seines verkümmerten Selbstbewusstseins, drückt die Brust heraus und atmet tief ein.
Zwei.
Er schließt seine Augen. Atmet aus. Als er sie wieder öffnet, ruckelt der Aufzug.
Ping.
Eine Stimme aus dem Lautsprecher verkündet, dass er im Erdgeschoss angelangt ist.
Eins.

Ein Mann läuft schnell auf ihn zu. Viel zu schnell. Bevor Eric die Hände über seinen Kopf heben kann, erkennt er in der in Blaumann gekleideten und mit einem Werkzeugkoffer ausgestatteten Person keinen Polizisten.
»Entschuldigen Sie die Umstände. Ich habe so schnell gearbeitet, wie ich kann.«
Die folgenden Worte des schwitzenden Technikers nimmt Eric nicht mehr wahr. Er schaut sich um und überwacht den alltäglichen Betrieb durch die Eingangstür. Menschen, die zur Arbeit gehen. Kinder auf ihrem Schulweg, aber keine Polizei.
Was soll das? denkt sich Eric zum hoffentlich letzten Mal heute. Er schaut über seine Schulter. Die Aufzugtüren sind noch geöffnet, die Kabine leer und sein Doppelgänger weit und breit nicht zu sehen. Für diesen Betrüger sollte die Polizei besser schleunigst auftauchen. Er nimmt einzig und allein die ältere Dame wahr, die in seinem Flur wohnt und jetzt den Aufzug betritt, sowie den Mann, der eine große Sporttasche schultert und mit einem Schulterstoß an Eric vorbeieilt.

Obwohl Erics Reizbarkeit überstrapaziert ist und er kurz vor dem Wahnsinn steht, schleicht sich ein leichtes Siegergrinsen auf sein Gesicht.
»Haben Sie mich verstanden?«, fragt der Techniker.
»Jaja, kann mal vorkommen bei den Aufzügen. Kein Problem. Ich muss zur Arbeit, entschuldigen Sie mich.« Als Eric in die Hosentasche greift, um seine möglichen entgangenen Anrufe auf dem Smartphone zu prüfen und sich gleichzeitig an dem Techniker vorbeidrängeln möchte, erstarrt er. »Ich sagte, ich habe den Sicherheitsdienst gerufen. Sie werden erst einmal hierbleiben müssen.«
Erics Blick richtet sich auf das faltige, viel zu ernste Gesicht des Technikers, der ergänzt: »Die Sprechanlage der Aufzugtechnik war die ganze Zeit in Betrieb. Sie haben auf meine Anweisungen und Beruhigungsversuche nicht reagiert. Aber ich habe alles verstanden, was Sie dort drinnen von sich gegeben haben.«

Eric löst mit seiner linken Hand seinen Krawattenknoten und senkt den Blick wieder auf den Bildschirm des Smartphones. 


5 thoughts on “Der fremde Vertraute

  1. Lieber Benedikt

    Was läuft denn bitte schön bei diesem Fitzek Contest falsch?

    Warum hat deine geniale Idee, deine Geschichte erst so wenige Herzen?

    Ich bin durch Zufall bei dir gelandet.
    Und deine Geschichte hat mich gefesselt und berührt.

    Und sie hat mich überzeugt.
    Ich wollte einfach wissen, wie sie endet.

    Alle Parameter perfekt umgesetzt, eine super Handlung, tolle Geschichte, glaubwürdige Charaktere und Dialoge, ein fulminantes Finale.

    Die letzte Szene mit dem Aufzug, der Sprechanlage …. sau gut!

    Du hast eine großartige Geschichte geschrieben.
    Und dein Schreibstil wirkt erfrischend und souverän.

    Aber niemals überzogen oder gewollt künstlerisch.

    Kompliment.

    Ich würde gerne mehr von dir lesen.

    Man merkt und spürt deutlich, dass du schon viel Erfahrung im Bereich des Schreibens hast.
    Und dass du viel Arbeit und Herzblut in die Story gelegt hast.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte noch viele begeisterte Leserinnen und Leser und zudem noch viel mehr Likes.
    Mein Like hast du natürlich sicher.

    Oder mein Herzchen.
    Egal.

    Schreib weiter und weiter.
    Und du wirst noch viele bezaubernde Geschichten schreiben.

    Liebe Grüße, Swen Artmann
    (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, meine Geschichte auch zu lesen.
    Ich würde mich sehr freuen, wenn du einen ehrlichen Kommentar hinterlassen würdest.

    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Ich danke dir.
    Swen

  2. Hallo Benedikt,
    oh man, was für eine saugute Geschichte! Keine Ahnung, warum Du nicht viel mehr Likes hast, kann höchstens an mangelnder Werbung liegen – das solltest Du schleunigst ändern! Diese Geschichte gehört absolut (mindestens) ins E-Book!
    Seltsamerweise ist das die zweite “Fahrstuhlgeschichte”, die ich heute gelesen habe. Gefallen hat mir ehrlich gesagt aber nur diese hier!
    Die Idee des Zwiegespräches und der geniale Schluss sind einfach großartig!

    Ich habe nichts, aber auch gar nichts auszusetzen!
    Mein Like hast Du somit natürlich!

    LG,
    der schweenie

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen und ein Feedback da zu lassen…
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/glasauge

    P.P.S es gibt auf Instagram die Möglichkeit, unter dem Hashtag #wirschriebenzuhause auf Deine Geschichte aufmerksam zu machen!

Schreibe einen Kommentar