Anja1977Der Tod aus der Vergangenheit

»Es ist alles Deine Schuld. Nur deinetwegen ist er tot!«, schrie sie und schlug der blonden Frau ein Glas aus der Hand und begann sie zu schubsen. »Du stehst da mit Deinem Schicki-Micki-Getränk und Deinen teuren Klamotten. Du belächelst andere, die nicht so sind wie Du, während er kalt und leblos auf dem Seziertisch liegt. Ist es das, was Du wolltest? Du bist so erbärmlich. Aber das hast Du nicht umsonst getan. Ich werde Dir das Leben zur Hölle machen. Nicht eine Nacht wirst Du mehr schlafen können. Dafür werde ich sorgen«, sie schubste die blonde Frau, bis diese zu Boden ging und trat ihr ins Gesicht.

Schweißgebadet erwachte Jacky aus diesem Traum. Um sie herum war es noch nachtschwarz, der Digitalwecker mit seinen leuchtroten Ziffern zeigte 2:35 Uhr. Sie setzte sich an die Kante des Bettes, und versuchte ihren Pulsschlag zu beruhigen. Sie atmete tief ein und aus und strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. Gut das ihr Freund Tom so einen tiefen Schlaf hatte und nie mitbekam, wie sie sich Nacht für Nacht quälte.
Sie hatte gehofft, eine andere Stadt, ein anderer Lebensstil und ein anderer Freundeskreis würden sie über ihre Vergangenheit hinweghelfen. Doch so gut wie jede Nacht wurde Jacky davon eingeholt.
An Schlaf war jetzt vorerst nicht mehr zu denken. Sie zog sich ihren Morgenmantel an und ging hinüber ins Arbeitszimmer. Wenn sie jetzt schon wach war, konnte sie ebenso gut den Stoff für die kommende Vorlesung durcharbeiten. Persönlichkeitspsychologie.
Sie fuhr den Laptop hoch und knipste die kleine Lampe an. Ihr Puls hatte sich weitestgehend beruhigt. Ein bisschen arbeiten würde ihr guttun. Schlafen konnte sie jetzt sowieso nicht mehr.
Eine ganze Weile saß sie hochkonzentriert am Rechner und machte sich nebenbei Notizen. Sie erschrak, als sie hinter sich eine Stimme hörte.
»Liebling, was machst Du hier um diese Zeit? Du arbeitest Dich noch einmal zu Tode. Willst Du nicht wieder ins Bett kommen?«, säuselte ein offenbar noch sehr schlaftrunkener Tom hinter ihr. »Entschuldigung, jetzt habe ich Dich erschreckt. Das war nicht meine Absicht.« Er trat hinter sie und schlang die Arme um sie. »Das Bett ist so kalt, wenn Du nicht neben mir liegst. Was ist das überhaupt für ein Kram, den Du Dir mitten in der Nacht reinziehst?«
»Es geht um Persönlichkeitspsychologie. Schwere Kost. Wenn ich da mithalten will, muss ich mich eben ranhalten«, log sie. Sie war eine der besten in ihrem Jahrgang und ihren Kommilitonen immer einen Schritt voraus.
»Aber doch nicht um diese Uhrzeit. Komm wieder ins Bett.«
»Geh doch schon mal vor. Ich bin gleich bei Dir, okay? Ich mache nur noch den Laptop aus.«
Nur widerwillig löste sich Tom von ihr und schlurfte wieder zurück ins Schlafzimmer. Sie würde nicht gleich wieder ins Bett gehen und Tom würde es auch nicht einmal mehr bemerken. Sie kannte ihren Freund ziemlich gut. Sobald sein Kopf das Kissen berührte, schlief er sofort wieder ein und sie konnte weiterhin wach bleiben und ihren Geist mit etwas anderem vollstopfen, als mit der quälenden Vergangenheit.
Sie hatte gehofft, dass eine neue Stadt, ein neuer Studiengang und eine neue Version von ihr selbst helfen würden, alles zu vergessen. Wenn sich doch nur ihr Unterbewusstsein auch an die Spielregeln halten würde. Doch das tat es nicht. Jede Nacht quälte es sie bis auf Gedeih und Verderb mit Bildern aus einem anderen Leben.

Am Morgen stand sie mit der Zeitung in der einen und mit einem Buttertoast in der anderen Hand in der kleinen Küche. Gedankenverloren las sie gerade die Lokalnachrichten, als Tom zu ihr trat und ihr denToast aus der Hand klaute.
»Hey, mach Dir gefälligst selber eins«, sagte sie und grinste ihn dabei an. »Tut mir leid Schatz, ich bin spät dran. Herr Albrecht reißt mir den Kopf ab, wenn ich wieder zu spät komme«.
»Dein Chef kann froh sein,wenn Du überhaupt noch kommst, so wie er Dich immer behandelt. Außerdem lasse ich Dich nicht mit dieser schiefen Krawatte gehen.«
Jacky zog Tom näher zu sich heran und band ihm seine Krawatte neu.
»Was würde ich nur ohne Dich machen?«
»Mit einer schiefen Krawatte und hungrig zur Arbeit gehen.« Sie deutete auf den Toast in seiner linken Hand.
»Da hast Du vollkommen recht. Wie lange hast Du heute Vorlesung? Wir könnten heute Abend mit Max und Britta essen gehen, wenn Du magst. Das haben wir schon so lange nicht mehr gemacht«
Jacky mochte die Freunde von Tom. Sie waren unkompliziert. Sie war Sachbearbeiterin in einer Bank und er arbeitete zusammen mit Tom in einer Steuerberatungskanzlei. Keine Kinder, keine Leichen im Keller und immer gut gelaunt.
»Ich könnte es zu 19 Uhr schaffen. Wo wollen wir hingehen? Wieder ins Piccola Italia?« Das war seit jeher ihre Lieblingspizzeria.
»Was immer Du willst meine Schöne. So und jetzt muss ich los. Ich schicke Dir nachher eine WhatsApp, wenn ich den Tisch bestellt habe«. Mit einem flüchtigen Kuss verabschiedete er sich von ihr.

Es war schon recht kalt für Ende Oktober. Jacky hasste die dunkle und nasse Jahreszeit. Die ganze Welt kam ihr dann immer bedrohlich und fremd vor. Die Menschen versteckten sich hinter ihren Mützen und Schals und Berlin wurde noch anonymer, als sonst schon der Fall war. Manchmal vermisste Jacky den kleinen Vorort von Hamburg, wo sie aufgewachsen war und ihre alte Clique. Ebenso den Erdbeerkuchen ihrer Tante Gertrud. Das einzige, das sie nicht vermisste war der Mensch, der sie dort gewesen war.

Fröstelnd kam sie auf dem Unigelände an. Bevor sie in die erste Vorlesung von Prof. Dr. Schneider ging, brauchte sie erst einen starken schwarzen Kaffee. Und diesen bekam sie, wie jeden Tag, bei Bernhard in dem kleinen Campus-Café im Herzen der Freien Universität Berlin. Bernhard war ein untersetzter kleiner Mann mit einer schwarzen Hornbrille, die ihm etwas Altbackenes verlieh. Er konnte je nach Outfit zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt sein. So genau wusste sein Alter niemand. Heute wirkte er eher jung, als er Jacky auf sich zukommen sah. Er strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht und strahlte über das ganze Gesicht. Jacky vermutete schon lange, dass er etwas von ihr wollte, aber sie brachte es nie zur Sprache.
»Guten Morgen meine Schöne«, begrüßte er sie wie jeden Tag. »Wie kann ich Dir heute Deinen Tag versüßen? Ich habe eine neue Kaffeekreation im Angebot. Latte Macchiato mit einer Zimt-Kakao-Note. Na interessiert?«
»Das ist lieb von Dir. Aber ich möchte das Übliche«. Jacky musterte ihn.
»Kaffee schwarz ohne jeden Schnickschnack. Ich verstehe schon. Aber irgendwann wirst Du an meinen Kreationen nicht mehr vorbeikommen, Jacky. Das sage ich Dir.«
Sie lächelte ihn an und nahm dankend die heiße Tasse Kaffe in Empfang.
Mit der Umhängetasche, die ihr von der Schulter zu rutschen drohte und dem Heißgetränk steuerte sie zielsicher einen Platz in der hintersten Ecke des Cafés an. Der durchgesessene grüne Stuhl, den Bernhard schon längst hatte austauschen wollen, empfing sie wie einen alten Freund. Seitdem sie an der Uni studierte hatte er ihr Trost und Routine gespendet. Doch heute störte irgendetwas das gewohnte Bild. Ein schwarzer, flacher Gegenstand lag einsam auf dem Tisch. Beim Näherkommen sah sie, dass es sich um ein Smartphone handelte.
Suchend blickte sie sich nach dem möglichen Besitzer um. Doch niemand schien Notiz von ihr zu nehmen. Sie wollte gerade nach vorne zu Bernhard an den Tresen, um es dort abzugeben, als das Telefon ein ploppendes Geräusch von sich gab.
Jacky erschrak und hätte das Smartphone fast fallen lassen. Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder und starrte auf die Nachricht, die im Display zu sehen war.
»Öffne mich mit 3108 !!!«, stand dort in Großbuchstaben mit drei Ausrufezeichen am Ende.
Jacky starrte ungläubig auf die Zahlenkombination und überlegte, ob sie dem Befehl nachkommen sollte.
Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und legte das Telefon mit dem Display nach unten auf den Tisch. Die Nachricht war mit Sicherheit nicht für sie gedacht. Auch wenn es verlockend klang, würde sie dem Smartphone nicht Folge leisten.
Doch schon kurz, nachdem sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, gab es einen weiteren ploppenden Ton.
»Nun mach schon. Öffne mich!!!«
Jacky hielt das für einen schlechten Scherz. Irgendjemand musste wissen, dass sie tagein und aus hier an diesem Tisch saß und wollte sie verarschen. Anders konnte sie sich das nicht erklären.
Um den Ganzen ein schnelles Ende zu bereiten, tippte sie die Zahlen ein und wartete. In Bruchteilen von Sekunden war das Handy entsperrt. Das Bild, was zum Vorschein kam, ließ sie erschaudern. Es zeigte sie selbst. Sie stand im Garten ihres Elternhauses mit einem Glas Champagner in der Hand. Und sie lachte verschmitzt in direkt in die Kamera des Fotografen.
Das konnte nicht sein, ging es ihr durch den Kopf. Alle Bilder von früher hatte sie vernichtet. Nichts sollte sie mit ihrem früheren Leben in Verbindung bringen.
Tränen stiegen ihr in die Augen und eine Panikattacke kündigte sich an. Im nächsten Moment ging eine weitere Nachricht ein.
»Na, erkennst Du Dich wieder? Das bist Du. So wie Du warst, und wie Du immer sein wirst. Du kannst vor Deinem inneren Selbst nicht davonlaufen. Mehr von Dir findest Du unter dem Fotoalbum Sommer 2018.«
Mit zitternden Händen und hämmernden Händen klickte sie sich durch das Menü, bis sie zum besagten Album kam. Sie stand kurz vor dem Hyperventilieren, doch konnte sie jetzt keinen Rückzieher machen. Irgendjemand spielte einen schlechten Scherz mit ihr und sie musste herausbekommen, wer es war und wenn es bedeutete, dass sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinander setzen musste.
Als das erste Bild erschien, schlug sie die Hand vor dem Mund, um nicht laut loszuschreien. Es zeigte sie mit lässiger Jeans und weißem Top, geschminkt bis an die Kante und eine Flasche Champagner in der Hand. Lachend, leicht beschwipst und voller Leben. Um sie herum ihre alte Clique. Anne, Levin, Susanne, Sebastian….und…..Robert.
Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten und weinte hemmungslos in ihren Schal hinein. Das Bild war nicht das einzige, dass sie dort zu Gesicht bekam. Sie scrollte sich durch eine Reihe von Partyfotos. August 2018. Es sollte der schönste Sommer ihres Lebens werden, doch es wurde der absolute Albtraum.
Es war das Jahr, in dem sie ihren Eltern sagte, dass sie das Jurastudium, dass sie für sie erdacht hatten, nicht mehr weiterführen wollte. Sie wollte die Welt unsicher machen. Reisen, von Gelegenheitsjobs leben und sich selbst finden. Auf den Trip kam sie, nachdem sie auf einer ihrer berühmten Partys die Zwillinge Josefine und Robert kennengelernt hatte.
Sie hatten sich auf Anhieb verstanden und waren nach kurzer Zeit unzertrennlich geworden.
Die beiden strahlten etwas aus, dass Jacky völlig faszinierend fand. Sie waren so eng miteinander verbunden, wie es anscheinend nur Zwillinge waren. Josefine bestand immer scherzhaft darauf, dass sie drei Minuten älter sei als Robert und das sie es sich für immer zur Aufgabe machte, ihren »kleinen Bruder« zu beschützten.
Eines Tages, nach einer weiteren drogen-und alkoholdurchzechten Nacht erwachte Jacky splitternackt neben Robert, der selig auf sie herab sah und ihr eine blonde Locke aus dem Gesicht strich.
Zuerst war sie völlig panisch hochgeschreckt, doch so langsam kamen die Erinnerungen zurück. Die Party, die neue Partydroge, von der man angeblich das Gefühl bekam, man schwebe über den Boden, der viele Alkohol und die Zwillinge, die in ihrem Rausch erst sich gegenseitig und dann Jacky begannen zu küssen und auszuziehen. »Das war der Wahnsinn«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. Jacky tat es als eine einmalige Sünde ab, die sich während eines Studentenlebens nun einmal ereignen konnte. Robert jedoch, machte mehr daraus. Wann immer sich die Gelegenheit bot, flirtete er mit Jacky, machte ihr Komplimente, schenkte ihr ab und zu Blumen oder lud sie ins Kino ein. Sie war damals noch nicht so weit, die Tragweite dessen zu erkennen, was sich später ereignen sollte.
Josefine, die das ganze Handeln ihres Bruders mit Argusaugen bewachte, trat eines Nachmittags an Jacky heran, die mit Sonnenbrille und sehr knappem Bikini am Pool lag. Sie hatte ihr deutlich gemacht, dass sie es nicht billigen würde, wenn sie die Gefühle ihres Bruders verletzen würde. »Wenn es für Dich nur ein billiger Spaß ist«, hatte sie mit einem bedrohlichen Unterton gesagt, »dann mache ich Dir das Leben zur Hölle. Darauf kannst Du Gift nehmen.«
Von diesem Moment an, war es zwischen den Dreien nicht mehr so locker wie es vorher war.
Und dann kam dieser fruchtbare Augusttag. Der Tag, an dem Jacky nie mehr so sein würde, wie sie war. Robert kam zu ihr. Es sollte ihr letzter gemeinsamer Abend werden.

Jacky kehrte wieder zurück in die Jetztzeit und wischte sich die Tränen weg. Ihr Kaffee war inzwischen kalt geworden. Sie wollte das Handy gerade gedankenverloren in die Tasche stecken und tatsächlich zu ihrer Vorlesung gehen, als das Smartphone erneut ein Geräusch machte.
»Was denn noch?«, fragte sie leise und öffnete abermals das Menü, wo sie sehen konnte, das erneut eine Nachricht eingegangen war.
»Hast Du geglaubt, ich würde Dich nicht finden? Alles hast Du mir genommen. Mein ganzes Leben hast Du zerstört. Du sitzt hier mit Deinem tollen neuen Freund, Deinem spießigem Freundeskreis und Deinen tollen Noten und scherst Dich ein Dreck um die Menschen, die Du zerstört hast.«
Jacky schüttelte energisch den Kopf.
»Es stimmt nicht. Ich habe Euch nie vergessen. Jeden einzelnen beschissenen Tag denke ich an Euch. Aber ich kann es nicht ändern.« Ihr Flüstern ging im Trubel der Cafeteria unter. Niemand, außer eine schwarz gekleidete Person am anderen Ende des Raumes nahm Notiz von ihr.

Sie schleppte sich zu ihrer Vorlesung, das Handy wog schwer in ihrer Tasche unter dem kleinen Pult, an dem sie versuchte dem Unterricht zu Folgen.
Sie schrieb gerade eine weitere Notiz in ihren Collegeblock, als das Handy abermals zu ploppen begann.
»Und auch für Sie gilt, liebe Frau Nowack, dass Handys während der Vorlesung tabu sind.« Der Professor funkelte sie böse an, hatte dieses energische Geräusch seinen Redefluss unterbrochen.
»Es tut mir leid. Es kommt nicht wieder vor«, entschuldigte sich Jacky und verließ auf leisen Sohlen den Hörsaal.
»Was willst Du? S«,sagte sie zu dem Telefon, das wie ein geflüstertes Brüllen klang.
Die Nachricht, die sie jetzt las, traf sie bis ins Mark.
»Du hast mir alles genommen, dann nehme ich Dir alles«
Was sollte das heißen? Jacky trat von einem Bein aufs andere und konnte sich auf das alles keinen Reim machen. Wer schickte ihr all diese furchtbaren Nachrichten? Wer hatte sie hier in der Anonymität von Berlin gefunden? Sie hatte sich sogar einen anderen Nachnamen geben lassen. Nämlich den Mädchennamen ihrer Mutter.
Wie konnte das sein, dass nach zwei Jahren dieser Albtraum erneut begann? Robert und Josefine, all das Blut auf Josefines Kleidung, als sie vor ihr stand in dieser einen furchtbaren Nacht.
Jacky ließ sich gegen die Wand sinken und begann erneut zu weinen.
Als der Gong ertönte und das Ende der Vorlesung einläutete, erschrak Jacky. Sie musste am Boden vor dem Hörsaal eingenickt sein.
Ralf, ihr Kommilitone, der neben ihr gesessen hatte, brachte ihre Tasche und die Jacke mit hinaus.
»Hey, sag mal ist alles in Ordnung mit Dir? Du bist ja gar nicht mehr zurückgekommen.«
»Danke, es geht schon. Ich habe schlechte Nachrichten von Zuhause bekommen. Könntest Du mich bitte bei der nächsten Vorlesung einfach mit eintragen? Ich muss dringend nach Hause.«
»Ja klar, kein Ding. Ich hoffe, es wird wieder. Du siehst echt zum Fürchten aus. Ich maile Dir später meine Mitschriften,wenn Du magst«
»Ja, danke Ralf. Du bist ein Schatz«, murmelte sie. Sie stemmte sich hoch, zog sich halbherzig ihre Jacke über und machte sich auf den Heimweg. Unterwegs überlegte sie tatsächlich, ob sie das mahnende Handy, das voll mit ihrer Vergangenheit zu sein schien, einfach in den nächst besten Mülleimer werfen sollte. Doch eine innere Stimme hielt sie davon ab.
Sie war froh, als sie endlich die Tür hinter sich zuziehen konnte. Sie streifte die Stiefel von den Füßen, ließ, für sie völlig untypisch, die Jacke auf den Boden fallen und ging Richtung Schlafzimmer. Sie würde sich einfach ins Bett fallen lassen und schlafen, bis Tom nach Hause kam. Sie konnte später immer noch überlegen, was sie mit dem Teufel in ihrer Tasche machen sollte.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Gerade, als sie die Tür zum Schlafzimmer öffnete, erschrak sie. Tom saß mit rotgeweinten Augen auf dem Bett und starrte auf sein Telefon.
»Meine Güte, hast Du mich erschreckt. Was machst Du schon hier? War irgendwas im Büro? Tom? Tom bitte sag doch was. Was ist denn los? Sag mal, hast Du geweint?« Jetzt überkam sie richtige Panik.
»Was soll das? Was hast Du getan? Und wer bist Du überhaupt?«, fragte Tom tonlos und blickte Jacky hasserfüllt an.
»Tom. Was meinst Du bitte? Du machst mir Angst. Was in drei Gottes Namen ist denn passiert?« Angst überkam sie. Sie hatte ein wage Ahnung, hoffte jedoch, dass Tom von etwas anderem sprach, als sie dachte.
»Wann wolltest Du mir erzählen, dass Du offenbar eine drogen-und alkoholsüchtige Nutte bist, die mit jedem geschlafen hat, der nicht bei drei auf dem Baum war und der ein Menschenleben auf dem Gewissen hat. WANN?«, schrie er. »Wenn wir ein Haus und zwei Kinder haben? Oder noch später, wenn unsere Enkelkinder im Garten toben, während wir auf der Veranda sitzen und Kaffe schlürfen?«
Toms Gesichtsfarbe hatte sich in ein tomatenrot verwandelt und die die Tränen schienen auf seinen Wangen zu verglühen, wenn sie hinunterrannen.
»Kannst Du mir bitte verraten, von was Du da redest?«, sagte Jacky und ihre Stimme brach, als sie auf das Telefon starrte, dass Tom ihr entgegen streckte.
»Ich rede davon. Ich weiß nicht, wer mir das geschickt hat, aber ich kann Dir sagen , es war sehr informativ. Zu erfahren, wer die Frau, mit der man seit über einem Jahr zusammen ist, eine ganz andere Person ist, als die sie vorgibt zu sein.« Er reichte ihr sein IPhone. Auf dem Display konnte sie unter Tränen eine Nachricht sehen, die Tom bei facebook erhalten hatte. Den Link zu einer Webadresse, den der Absender mit dem Hinweis: Klick mich und Du wirst alles über Jacky Nowak erfahren, versehen hatte.
Mit zitternden Finger klickte Jacky auf den link und erschrak. Zum Vorschein kam eine website, die voll war mit Bildern von ihr, von ihren Partys, Bilder von ihr und Robert. Küssend, tanzend. Zu jedem Bild gab es ein kurzes Statement, so als wäre man bei Instagram und erhoffte sich somit mehr likes.
Ihr Sommer 2018 auf einer Website. Sie scrollte hektisch bis fast zum Ende der Seite und blieb mit weitaufgerissenen Augen an einer Todesanzeige hängen .
»Heute starb unser geliebter Robert. Er wurde nur 23 Jahre alt. Lieber Robert, nur Du allein weißt, welche Dämonen Dich dazu getrieben haben, aus dem Leben zu scheiden. Wir werden Dich nie vergessen«
Darunter prangte ein Bild von ihm. Lächelnd und voller Lebensfreude. Niemand außer Jacky und Josefine wussten, welche Dämonen für den frühen Tod verantwortlich waren. Jacky nannte sie Wahnsinn, Psychose oder Geisteskrankheit, Josefine nannte sie Liebe und Verzweiflung.
Am Ende der Seite stand in Großbuchstaben: Du hast ihn getötet, Jacky. Du allein bist dafür verantwortlich.
»Es ist nicht so wie es da steht, Tom. Ich konnte doch nicht ahnen, dass er…«
»Wie bitte? Was konntest Du nicht ahnen? Dass Du offenbar ein egoistisches Miststück warst, dass alles und jeden gebumst hat, bis sich offensichtlich dieser Robert in Dich verliebt hat und sich deinetwegen umgebracht hat? Ist es das, was Du nicht ahnen konntest? Und statt Dich mit dem Ganzen auseinanderzusetzen und der Familie beizustehen, bist Du geflohen? Hast Dich hier in Berlin verkrochen und eine neue Identität Dir geschaffen oder wie?«
Tom war vom Bett aufgestanden und lief energisch durch den Raum und raufte sich die Haare. »Ich verstehe es nicht, Jacky. Erkläre es mir. Mit wem war ich bitte die letzten 1,5 Jahre zusammen, hä? Kannst Du mir das bitte einmal sagen?«
»Tom, ich … es war alles nicht so einfach… ich konnte einfach nicht… Du weißt nicht«
»Jetzt komm endlich raus mit der Sprache und höre auf zu stammeln. Ich will wissen, wer Du bist, verdammt nochmal.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie es mir ergangen ist. Du wirst nicht jede Nacht schweißgebadet wach und hast Panik. Panik, dass sie wieder vor der Tür steht, blutüberströmt und dir sagt, dass Robert sich die Pulsadern aufgeschlitzt hat, weil ich ihn abgewiesen habe. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man in dem kleinen Vorort, wo jeder jeden kennt, mit dem Finger auf dich gezeigt wird. Meine Eltern konnten nicht einmal mehr vor die Tür gehen, ohne das mit dem Finger auf sie gezeigt wurde. ‚Das sind die mit der Tochter, die den armen Robert auf dem Gewissen hat‘ Alle gaben mir die Schuld an Roberts Tod. Allen voran seine Zwillingsschwester Josefine. Sie hat mich gestalkt, mir Drohbriefe geschrieben, mir die Freude am Leben genommen. Aber was kann ich dafür, wenn ihr offenbar psychisch kranker Bruder sich das Leben nimmt, nur weil er damit nicht klar gekommen ist, dass ich ihn nicht wollte. Es war eine Sommeraffäre. Mehr nicht. Ich habe ihm nie auch nur Anlass dazu gegeben, dass es mehr war, als nur Sex. Ich habe es irgendwann nicht mehr ausgehalten und bin mitten in der Nacht gegangen«, schloss sie ihre Geschichte und sank weinend auf den Boden.
»Ja ich war kein Kind von Traurigkeit. Ich habe das Leben und vor allen Dingen mich, nicht allzu ernst genommen. Und es tut mir auch leid, dass Robert tot ist. Aber ich habe ihn nicht getötet. Ich wollte einfach nur noch weg. Und ich kann mir auch vorstellen, wer hinter der website steckt. Und auch wer mir das Handy heute auf dem Campus zugespielt hat, dass mich mit meiner Vergangenheit konfrontiert hat.
Es war Josefine. Die Zwillingsschwester von Robert. Es gibt keine andere Erklärung dafür.«
Jacky wusste nicht mehr, was sie noch dazu sagen sollte. Tom hatte ohnehin ihren ausschweifenden Lebensstil auf der Website nachlesen können, wie in einem Katalog.
»Und du meinst diese Josefine hat all das inszeniert, um Dir eins auszuwischen, ja?«, fragte Tom. Sein Ton ist sanfter geworden und er setzte sich neben ihr auf den Boden.
»Wer denn sonst? Sie hat mir das Leben zur Hölle gemacht nach Roberts Tod. Es tut mir so unendlich leid, was passiert ist und es tut mir leid, dass ich den Teil meines Lebens vor Dir verborgen habe,aber ich konnte es Dir einfach nicht erzählen. Wie hätte denn das ausgesehen beim ersten Date? Hallo mein Name ist Jacky, ich habe den Zwillingsbruder meiner besten Freundin auf dem Gewissen, gibst Du mir einen aus?«
»Werd jetzt nicht sarkastisch, Jacky. Das steht Dir nicht. Oder vielleicht doch? Bist Du in Wirklichkeit sarkastisch? Ich habe keine Ahnung mehr, wer Du bist und ich will es im Moment auch nicht wissen.«
»Was soll das heißen?«, fragte Jacky und ihr Herz drohte dabei aus ihrem Brustkorb zu springen.
»Das soll heißen, dass ich heute Nacht zu Max gehen werde. Ich muss das erstmal sacken lassen«
Jacky sah ihn aus leeren Augen an. Es begann. Schon wieder. Ihre Vergangenheit hatte sie nach zwei Jahren eingeholt und drohte ihr kleines, perfekt organisiertes Leben erneut zu torpedieren.
»Bitte tu das nicht. Lass mich nicht alleine. Da draußen läuft eine Irre herum, die in minuziöser Kleinarbeit mein Leben auf eine Website gepresst hat, mir ein Handy mit Fotos aus meinem früheren Leben hat zukommen lassen und jetzt dabei ist, meine Beziehung zu zerstören, und Du willst jetzt einfach so gehen. Das kannst Du nicht machen, Tom« Jacky schrie.
»Du bist gerade nicht in der Position mir zu sagen, was ich tun oder lassen soll . Du bist mit einem Schlag zu einer völlig Fremden geworden. Ich muss das erstmal verdauen.«
Mit den Worten ging Tom an seinen Kleiderschrank und packte in seine Sporttasche ein paar Klamotten. Jacky musste mit ansehen, wie der Mann, den sie zu lieben und vertrauen gelernt hatte, in Begriff war aus ihrer Welt auszubrechen und sie alleine zu lassen. Auf der einen Seite konnte sie ihn ja verstehen, aber sie hatte gehofft, dass sie diese Situation gemeinsam durchstehen würden.
Jacky überlegte, ob sie noch einen Überredungsversuch unternehmen sollte, jedoch kannte sie auch Toms sturen Kopf. Er würde sich davon nicht abbringen lassen.
Sie sank wieder auf das Bett, unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Hätte sie gewusst, wie der Tag heute enden würde, wäre sie erst gar nicht aufgestanden.
Als Tom im Begriff war, seine Jacke vom Haken zu nehmen, um zu Max zu fahren, lief Jacky noch einmal zu ihm.
»Bitte lass mich jetzt nicht alleine«, unternahm sie dennoch einen kläglichen Versuch, ihn zum Bleiben zu überreden. »Ich habe Angst, wenn Du nicht da bist. Wenn Josefine mich auf dem Campus gefunden hat und Dich bei facebook kontaktieren konnte, dann wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie herausfindet, wo wir wohnen, und dann beginnt alles von vorne.«
Tom schüttelte den Kopf. Er war zu verletzt und seine Gefühle fuhren Achterbahn. Er konnte jetzt nicht mit ihr unter einem Dach sein.
Als er die Eingangstür öffnete und in Begriff war, die Wohnung zu verlassen, staunte er nicht schlecht, als vor ihm ein hagerer Mann Mitte zwanzig stand, der mit seinen braunen Locken und den hellblauen Augen aussah, wie ein kleiner Schuljunge, der Spenden für eine Klassenfahrt sammelte.
»Oh das ist ja eine tolle Begrüßung. Da spart man sich doch glatt das Klingeln. Aber wo bleiben meine Manieren. Mein Name ist Robert. Ich bin ein guter alter Freund ihrer Freundin Jacky.«
Jacky starrte fassungslos in die hellblauen Augen des jungen Mannes, während Tom ihn ungläubig ansah.
»Jacky, was soll das hier? Ist das alles ein kranker Scherz?«, fragte Tom, und stellte die Tasche vor sich ab, ohne Robert oder wer auch immer das war, hinein zu bitten.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«, hauchte sie leise. Ihre Gesichtsfarbe hatten binnen weniger Sekunden die weiße Farbe des Hausflures angenommen.
»Was ist das hier für ein krankes Spiel?«, fragte Tom erneut.
»Ich dachte, sie wären tot?«
»Das war ich auch, oh ja für wahr. Das war ich auch«. Robert konnte nicht aufhören, Jacky anzustarren.
»Du hast mich getötet Jacky. Und das auf die unvorstellbarste Art , auf die man nur getötet werden kann. Willst Du mich nicht herein bitten?«

ENDE

8 thoughts on “Der Tod aus der Vergangenheit

  1. Liebe Anja

    Ich gratuliere dir ganz herzlich zu deiner Geschichte.
    Ganz toll geschrieben.

    Auch das Ende ist dir super gelungen.
    Ich mag solche Enden in Kurzgeschichten ja total.
    🙂

    Nun zu den Einzelheiten:

    Der Anfang hat mich direkt abgeholt.
    Ich finde deinen Schreibstil erfrischend. Manche Dialoge wirken ein wenig “konstruiert”.
    Kleiner Tipp:
    Lies dir deine Geschichten IMMER vor der Veröffentlichung selbst einmal laut vor.
    Und nimm es mit dem Smartphone auf.
    Beim nachherigen Anhören wird dir selbst auffallen, was gut und flüssig kommt, und was ein wenig sperrig klingt.
    Aber egal.
    Mir hat deine Geschichte, die Handlung , die Protagonisten und das Ende auf jeden Fall super gefallen.
    Kompliment.

    Da kannst du wirklich stolz drauf sein.

    Schreib weiter und weiter. Und du wirst deine immer mehr werdenden Leser mit immer besseren Geschichten überraschen.

    Meinen Like hast du natürlich sicher.

    Liebe Grüße und viel Erfolg für deine Geschichte.

    Machs gut.
    Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen.
    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Vielen Dank.

    1. Ich danke Dir sehr für Dein Feedback und für Deine tollen Tipps. Das werde ich beherzigen. Es war auch meine erste Geschichte, die ich geschrieben habe und ich bin für Tipps und konstruktive Kritik immer dankbar.

      Sehr gerne werde ich auch Deine Geschichte lesen.
      Liebe Grüße
      Anja 🙂

  2. Moin Anja,

    eine schöne Geschichte die du uns hier präsentierst! Ich mag vor allem das offene Ende und die Fragen die es zurück lässt. Dein Schreibstil ist sehr kurzweilig und man kann dir gut folgen.
    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  3. Moin Anja,
    mein Like für die Geschichte bekommst Du.
    Sie hat mir gefallen, sie war sehr angenehm und flüssig zu lesen. Das Ende, bei dem man jetzt nicht wusste, wie es weitergeht, bei dem man sehr viel eigene Fantasie einbringen kann, hat mir sehr gefallen!
    Ich weiß allerdings nicht, ob es wirklich so realistisch ist, dass man sich nach über einem Jahr Beziehung davon aus der Bahn werfen lässt, wenn man erfährt, dass der Partner ein Leben vorher hatte. Da erscheint mir der Selbstmord eines ehemaligen Verehrers ein etwas schwaches Motiv…
    Aber ansonsten hat mir die Geschichte gefallen!

    LG,
    der schweenie

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen und ein Feedback da zu lassen …
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/glasauge

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