Flo RöhrichIch befreie dich

Wie jeden 3. Freitag im Monat, streicht Tom Schäfer durch irgendwelche Straßen, in irgendeinem Stadtteil von Berlin um in irgendeiner Bar eine ganz besondere Frau zu finden.

Das macht er seit nun fast zehn Jahren so, denn Tom´s Ehefrau Maria trifft sich seit genau elf Jahren, jeden 3. Freitag im Monat mit ihren Mädels. Sie trinken Sekt, knabbern an Tappas und anderen Leckereien herum, schauen gemeinsam Serien und reden über alles worüber es sich zu reden lohnt. Das tun sie wie nach der Stechuhr von 19:30h bis 24:00h. Maria aber kommt ebenso pünktlich immer erst um 2:00h nachhause.

Tom weiß, dass Maria diese zwei Stunden nutzt um sie mit ihrem Arbeitskollegen Henning Braun zu verbringen.

Als diese Mädelsabende anfingen dauerte es ein knappes halbes Jahr bis Tom verstand, dass Maria ihn hintergeht.

Eine Freundin hatte um kurz nach zwölf angerufen und gefragt ob Maria gut angekommen war, doch die kam erst um zwei und berichtete freudestrahlend von einem tollen ausufernden Abend mit ihren Freundinnen.

Tom hat Maria nie darauf angesprochen und macht seither sein eigenes Ding in dieser Zeit.

Er zieht durch die Straßen und sucht sich eine gemütliche Bar oder Kneipe, setzt sich an einen Tisch und beobachtet das Geschehen.

Er sieht sich die Menschen an, schaut mit wem sie sich unterhalten, wie sie sich geben und am Ende des Abends sucht er sich eine der anwesenden Frauen aus und bringt sie um.

Das tut er natürlich nicht jeden Monat, denn das wäre zum einen zu auffällig und zum anderen findet sich nicht immer die richtige für dieses Unterfangen.

Er sucht eine ganz bestimmte Art von Frau, die es auch verdient hat von ihm „befreit“ zu werden, wie er es nennt.

Sie soll auf keinen Fall dem Schönheitsideal entsprechen, am besten ist es, wenn sie schön dick ist und diese fürchterlichen Klamotten trägt. Diese Klamotten, denen man ansieht, dass es sie ausschließlich in der Übergrößenabteilung von C & A gibt, denn dann weiß Tom auch, dass sie nicht viel Geld hat, womöglich sogar in Finanznot ist. Kurzum sucht er nach Frauen, die kaum Chancen bei Männern haben. Er will sie befreien. Befreien aus einer Welt, die sie nicht wertschätzt, gar verachtet.

Wenn eine schlanke, stylische, dem medialen Bild von Schönheit entsprechende Frau eine Bar betritt, dann weiß Tom, dass er vermutlich gute Chancen hat eine Befreiung durchführen zu können.

Solchen Männermagneten folgt oft ein hässliches Entlein und genau diese sind wie für ihn gemacht.

Auch heute Abend sitzt er wieder einsam bei seinem Glas Rotwein und sondiert die Lage.

Diesmal ist es eine moderne Lounge geworden, mit riesigen schwarzen und bordeauxfarbenen Sesseln an weiß leuchtenden Würfeln, die als Tischchen dienen und einer langen ebenso beleuchteten Theke.

Es ist viel los, aber wenige der Frauen entsprechen seinem Ideal. Gerade erblickt er eine Würdige, die vor den Toiletten auf ihre Freundin wartet, als er eine Stimme hört.

Hi, darf ich mich zu dir setzen? Ich bin Nina!“

Erschrocken fährt Tom herum.

Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Du siehst einsam aus. Meine Freundin unterhält sich gerade mit diesem Typ da und da dachte ich …“

Tut mir leid,“ unterbricht Tom bestimmt und dennoch freundlich „aber ich möchte lieber alleine bleiben, danke!“ und widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem Objekt seiner Begierde.

Oh, schade!“ kommt noch knapp über die vollen Lippen, der schwarzhaarigen Sexbombe in der engen weißen Jeans bevor sie sich verwundert von ihm abwendet.

Es ist keine Seltenheit, dass er angesprochen wird. Tom Schäfer ist ende vierzig, dunkles volles Haar, graue Schläfen, Dreitagebart, markiges Gesicht. Sein trainierter Körper trägt das Nötige bei um auf viele Frauen interessant zu wirken. Dessen ist er sich auch völlig bewusst und wenn er sie mit seinen hellen, strahlend blauen Augen intensiv anschaut verfallen ihm die meisten. Spätestens aber wenn er, der erfolgreiche Vertriebsleiter eines kleinen Büromöbelherstellers, mit seiner ruhigen, sonoren Stimme ein Gespräch beginnt, ist es um sie geschehen.

Das klirren der anstoßenden Gläser, die Musik und die Stimmen der Menschen verstummen in Tom´s Kopf.

Selbst die Damen des laut lachenden Junggesellinnenabschieds sind in seinem Kopf nur noch ein leises Rauschen, als sich in seinen Gedanken der Ablaufplan für sein weiteres Vorgehen abspielt.

Sie soll es sein. Die junge Frau an der Toilettentür.

Die Lounge ist absolut angesagt, Securitypersonal in Anzügen sortiert unpassend gekleidete Gäste schon am Eingang aus.

So hat sich Tom´s Erwählte ihrer Freundin zuliebe in ein zu enges, schwarzes Etuikleid geschossen, dessen Schulter- und Armpartie aus Spitze ist. In den Lücken der Spitze drückt immer leicht ihr Speck hervor.

Die Begeisterung in ihm wird stärker und entwickelt sich zu Verlangen.

Er wird sie ansprechen, mit seinem Verkaufstalent um den Finger wickeln. Mit etwas Glück verschwindet die schlanke Freundin mit einem Mann, dann kann es heute noch geschehen.

Sollte sie bleiben, dann werden sie die Handynummern tauschen und spätestens wenn sie sich dann im nächsten Monat wieder sehen wird er sie befreien.

Sollte sein Verlangen nach Befreiung zu groß werden kann er auch mal einen Termin unter der Woche beschaffen.

Als Vertriebsleiter kann er seiner Frau Maria gut glaubhaft machen, dass er doch noch länger im Büro bleiben muss oder noch einen dringenden Außentermin hat.

Er ist sich sicher, Henning Braun wird es ihm danken.

Tom träumt mit offenen Augen, wie sie vor ihm knien wird, ihn mit großen Augen ansieht und seinen Schwanz bläst.

Er wird ihre zum Zopf gebundenen, blonden Haare schnappen, den Kopf nach hinten reißen, ihr einen Kuss geben und sagen:

Du bist jetzt befreit! Adieu!“

Dann wird er ihr sein filigranes Messer langsam unter den Kehlkopf schieben. Er wird sehen wie sie ihre Augen noch weiter aufreißt und das Blut aus dem Mund fließt.

So wie es bei seinen vorherigen Opfern auch war.

Langsam erwacht er aus seinem Traum. Er fühlt Befriedigung, er wird es wieder tun können und das schon bald.

Nach und nach finden die Geräusche seiner Umgebung wieder Platz in seinem Kopf.

Zuerst hört er klirrende Gläser hinter der Theke, dann der Stimmenbrei aus der Lounge, zuletzt die Musik, alles verbindet sich zu einem indifferenten Gemurmel.

Hallo!“ spricht ihn ein Mann vom Nachbartisch an.

Hallo?“ Keine Antwort, denn Tom ist noch nicht richtig bei sich.

Entschuldigung, dir ist dein Handy runter gefallen!“

Mein Handy?“, er tastet wie in Trance seine Hosentaschen ab und fühlt sein Handy deutlich dort wo es hin gehört.

Das ist nicht mein …!“

Vor ihm auf dem Tisch direkt neben dem Weinglas hat der Mann ein Handy hingelegt.

Er wendet sich zum Nachbartisch, wo er die Stimme wahrgenommen hatte, doch da ist niemand mehr.

Verwirrt blickt er sich um, doch niemand macht den Anschein mit ihm gesprochen zu haben.

Zögerlich nimmt er das Handy, denn eigentlich wollte er sich seinem nächste Opfer widmen.

Bedienung!“ ruft er zu einer vorbeihuschenden Gestalt mit einem Tablett voller Gin und Cocktails in der Hand.

Moment, bin gleich bei dir!“ antwortet sie kurz und knapp.

Er drückt den Knopf an der Seite des Handys. Vielleicht ist ja zu sehen, wem es gehört.

Tom´s Stirn zieht jetzt starke Falten und in seinen Augen ist Verwirrung zu erkennen.

Auf dem Display erscheint ein Bild von ihm selbst. Leicht unkenntlich durch die neun Punkte der Mustersperre.

Wie automatisiert wischt er ein umgedrehtes U auf den Touchscreen.

Die Sperre ist aufgehoben!

Wie kann das sein?“ denkt er sich.

Sein eigener Mustercode hat es entlockt, aber es ist nicht sein Handy.

Was darf es sein?“

Was?“

Noch einen Wein?“

Wie? Ich … äh … Nein, danke! Na gut, überredet! Einen noch!“

Okay, kommt gleich!“

Die Bedienung, welcher er das Handy eigentlich geben wollte, geht wieder, nicht ohne eine Prise Verwirrung ob seines seltsamen Verhaltens.

Nicht weniger verwirrt durchsucht Tom den Inhalt des Smartphones.

Nichts ist zu finden außer WhatsApp und einem Bilderordner.

Nachdem er in WhatsApp keinerlei Nachrichten finden kann widmet er sich dem Bilderordner.

In Tom´s Adern gefriert sein Blut.

Wieder blendet sein Gehirn sämtliche Nebengeräusche aus.

Stille!

Wie in einem Schallvakuum starrt er auf fünf Bilder.

Eines zeigt ihn selbst im Fitnessstudio. Drei weitere zeigen Maria, alleine am Arbeitsplatz, mit ihrer monatlichen Damenrunde und zuletzt beim Sex mit ihrem Arbeitskollegen.

Das letzte der Bilder zeigt das Hochzeitsfoto von Tom und Maria mit einem eingefügten Fragezeichen zwischen ihnen.

Eine Flutwelle von Fragen durchströmt das kranke Gehirn des Killers.

Wer hat diese Bilder gemacht?“

Warum hat man diese Bilder gemacht?“

Woher weiß jemand von Marias Affäre?“

Was will dieser Mensch von mir?“

Weiß diese Person von meinen Befreiungen?“

Was tue ich jetzt?“

Es flackert vor seinen Augen. Der Puls schießt in die Höhe.

Jahrelang hat niemand einen Verdacht geschöpft. Die Polizei hat die Morde nicht einmal im Ansatz in Verbindung gebracht und somit auch keinen Serientäter gesucht.

Er konnte seinem unmenschlich kranken Verlangen freien Lauf lassen. Und jetzt bringen ein Smartphone und fünf Bilder alles ins Wanken.

Tom hebt sich schwerfällig aus dem Sessel, dabei droht er das Bewusstsein zu verlieren und hält sich an einem Mann fest, der gerade auf dem Weg zur Toilette ist.

Er wirft noch einen kurzen Blick zu seiner Erwählten und taumelt weiter in Richtung Ausgang.

Hey, du musst noch bezahlen!“ ruft die Bedienung, die gerade den Wein servieren will, als Tom zur Tür hinaus geht.

Bing!

Er bleibt stehen. Die Gewissheit packt ihn, dass das fremde Smartphone es war, welches ihm signalisierte stehenzubleiben.

Eilig, neugierig und doch zögerlich zieht er das Gerät aus der Tasche.

Eine Nachricht: >>Nicht gehen!<<

Die Unsicherheit in ihm wächst. Er beginnt sich umzusehen als ihn einer der Türsteher am Arm packt.

Entschuldigen Sie, aber Sie sollten doch besser noch zahlen bevor Sie gehen.“

W-W-Wein!“ stammelt Tom bevor er seine Worte sortieren kann.

Sind sie betrunken? Dann muss ich Sie bitten jetzt zu gehen!“

Nein, Verzeihung!“ Er hat sich wieder gesammelt. „Ich warte noch auf jemanden und hätte gerne mein Glas Wein. Ich habe nur manchmal etwas Kreislaufprobleme.“

Na schön! Aber nicht übertreiben, guter Mann!“

Langsam geht er zum nächsten Barhocker und setzt sich.

Nervös scannt er die Menschen.

Bing! >>Braver Junge! Schau mal hier …<<

Ein Bild geht ein. Es zeigt eine Straße mit einigen Kneipen und Bars.

>>Kennst du diese Straße?<<

Natürlich kennt Tom diese Straße. Er kennt auch die Lokale dort. Eines davon kennt er besonders gut, „Old Flannigans Irish Pub“. Hier hat er sein letztes Opfer entdeckt und angesprochen. Es dauerte ein halbes Jahr bis er sie soweit hatte, dass sie freiwillig vor ihm kniete und er sie töten konnte.

Sein eigener Anspruch an die Frauen ist, dass sie freiwillig vor ihm niederknien bevor er sie befreien kann.

Es verleiht ihm das Gefühl angebetet zu werden. Angebetet, sie doch endlich von den Qualen der Gesellschaft zu erlösen.

>>Antworte!<<

>>Ja<<

>>Schön! Immerhin lügst du nicht, du Mörder!<<

Hilflosigkeit steigt in ihm auf, während er noch hektischer im Raum umher blickt um den Absender der Nachrichten zu finden. Zorn erfüllt ihn als er das Wort „Mörder“ liest!

>>Was soll das? Ich bin kein Mörder!<<

Auch das ist keine Lüge. Nicht aus Tom Schäfers Sicht. Er sieht sich selbst nicht als Mörder, er sieht sich als Befreier, Erlöser, aber nicht als Mörder.

>>Und ob du das bist! Ein kranker Spinner, der unschuldige Frauen erst verführt und dann tötet.<<

Nein! Hör auf damit!“ platzt es laut aus ihm heraus.

Ein Paar direkt nebenan zuckt erschrocken zusammen.

Schnell hebt er sein Handy wie einen Schutzschild vor sich, als ob er sich vollständig dahinter verstecken könnte.

>>Ich soll aufhören? Nein, du wirst aufhören! Deine Frau betrügt dich seit Jahren und du bestrafst andere dafür! Du elendiger Feigling! Damit ist jetzt Schluss!<<

Wieder schaut Tom die Menschen um sich herum an, doch zu viele haben ein Smartphone in der Hand als dass er seinen Beobachter ausfindig machen könnte.

Die Angst und der Zorn machen ihn unsicher. Er verliert zunehmend seine Souveränität.

>>Das stimmt nicht! Wer bist du? Wo bist du? Ich bin kein Mörder!<<

>>Wie viele waren es, seit Maria dich betrügt? 11 Jahre treibt sie es schon mit einem anderen. Wie viele mussten dafür sterben? 5? 10? 20? Sag es!<<

>>Woher weißt du das? Woher kennst du Maria?<<

>>Beantworte meine Frage und ich beantworte deine!“

Er zögert mit seiner Antwort. Wieder schießen ihm wasserfallartig Fragen in den Kopf.

Soll ich antworten?“

Bringt es etwas, wenn ich lüge?“

Woher weißt du das alles?“

Bist du doch ein Lebenspartner, den ich bei meinen Recherchen über sehen habe? Ein wütender Vater?“

Ist es ein Bluff?“

Tom fasst sich, nimmt seinen Mut zusammen und antwortet.

>>14<<

Als ob der unbekannte Mensch am anderen Ende vor Ehrfurcht oder Schock inne halten würde kommt keine Nachricht zurück.

Tom spürt seinen Puls nun bis hoch in den Kopf. Kalter Schweiß bricht aus.

Das Display, welches ihm im schummrigen Licht der Lounge das Gesicht erhellt, geht aus. Er starrt auf ein schwarzes Rechteck. Plötzlich berührt ihn eine Hand auf der Schulter.

Er schreckt auf und dreht sich vorsichtig um.

Ey! Dit is meen Platz, ick war nur mal kurz austreten!“ ranzt ihn ein kleiner, dicker Mann mit Halbglatze und Berliner Dialekt an.

Ja!“ Mehr kann er nicht antworten, steigt wie in Trance vom Barhocker und nimmt einen Schluck Wein, der mittlerweile bei ihm angekommen ist.

Bing!

Wieder erschrickt Tom und reißt hektisch das Smartphone vor seine Augen. Schwarz. Der Berliner neben ihm hatte eine Nachricht bekommen.

Bing!

Das Display geht an.

>>Siehst du die Tür neben der Küche?<<

>>Die, wo Privat drauf steht?<<

>>Ja! Geh rein!<<

Er geht wie selbstverständlich darauf zu, dann stoppt er abrupt.

>>Warum?<<

>>Du willst wissen wer ich bin? Dann komm!<<

Plötzlich kommt ihm ein erster klarer Gedanke.

>>Henning Braun, du krankes Schwein! Lass das Spiel und zeig dich!<<

>>Du glaubst ich bin der Kerl der deine Frau bumst? Falsch<<

Ängstlich folgt Tom den Anweisungen. Kurz vor der Tür blickt er nochmal hinter sich aus Angst der Türsteher könnte ihn raus werfen. Kein Personal, kein Türsteher in Sicht, er geht durch die Tür. Vor ihm breitet sich ein kleiner, hell beleuchteter Flur aus an dessen Ende eine Tür nach draußen führt. Er schreibt.

>>Soll ich da raus gehen?<<

>>Ja!<<

>>Woher soll ich wissen, dass das alles kein Bluff ist?<<

Bing!

Ein Bild geht ein. Es zeigt die Theke von „Old Flannigans Irish Pub“. Daran sitzt Tom der sich mit einer Frau unterhält. Opfer Nummer 14!

Tom verlässt vorsichtig das Gebäude. Er schaut sich achtsam um und blickt in den Lauf einer Pistole, der wie wie aus dem Nichts vor ihm auftaucht.

Ein Mord zu viel!“ spricht der Mann, der nun vor ihm steht.

Steig in das Auto!Los!“ So kontrolliert dieser Mann all seine Nachrichten in der Sicherheit der Anonymität geschrieben hatte, so hektisch ist er jetzt.

Ich hab einsteigen gesagt!“ faucht die unscheinbare Gestalt nervös.

Tom kann sein Gesicht gut erkennen, aber er kennt ihn nicht. Ein völlig Fremder. Aus Mangel an realistischen Optionen steigt er in den bunten VW Polo Harlekin. Baujahr 1995.

Auf dem Armaturenbrett liegt eine Spritze, die gibst du dir jetzt!“

Einen Scheißdreck werde ich!“

Oh doch, du wirst!“

Warum sollte ich?“

Die Sicherheit des Entführers kehrt sichtlich zurück.

Weil es für dich keinen Unterschied macht! Entweder du stirbst hier, unwissend oder dort wo ich dich hinbringen werde. Es bleibt sich gleich!“

Tom greift resigniert nach der Spritze.

Wohin?“

Völlig egal!“

Er führt die Spritze zu seinem Oberschenkel, entfernt die Schutzkappe und hält inne. Er schließt seine Augen um Mut zu fassen, doch bevor er noch einen Gedanken fassen kann schlägt sein Entführer auf die Spritze.

In einer Bewegung dringt die Nadel in das Bein und entleert sich.

Ein Schrei! Stille! Nur wenige Sekunden, doch sie sind eine Ewigkeit für Tom und den scheinbar Allwissenden.

Zittern, der ganzer Körper verkrampft und Schaum quillt aus dem Mund. Er starrt den Fremden mit Augen der Verzweiflung an bevor er das Bewusstsein verliert.

Der unscheinbare Mann im Karohemd legt ihm den Gurt an und schließt die Beifahrertür. Er steigt in das Auto und fährt los.

Das auffällig bunte Fahrzeug fährt durch die langen, beleuchtete Straßen Berlins. Unzählige Kreuzungen später biegt er in die Uhlandstraße und hält im Hinterhof eines verlassenen Gebäudes.

Der Mann steigt aus, sieht sich um und beginnt eilig den bewusstlosen Körper vom Beifahrersitz in das Gebäude zu ziehen. Auf einem Schild neben der Tür steht „Dr. Grohlke, Allergologe“. Sie befinden sich in einer stillgelegten Arztpraxis. Der lange Flur führt vom Hintereingang vorbei an einem Treppenaufgang durch eine schwere Brandschutztür in den Umkleideraum der Praxis. Hinter einer normalen Zimmertür liegt ein weiterer Korridor, der zur Empfangstheke und diversen Behandlungsräumen führt.

Der Mann hat den langsam erwachenden Tom Schäfer in einem der Behandlungsräume mit Gürteln und Kabelbindern an einen Behandlungstisch gebunden. Die Rollläden sind fest verschlossen und die einzige Lichtquelle im Raum ist eine Schreibtischlampe.

Tom Schäfer, Mörder von 14 Frauen und betrogener Ehemann, du darfst jetzt deine Fragen stellen.“ spricht der Unscheinbare aus dem Dunkel hinter der Lampe.

Er spricht die Worte mit dem Selbstverständnis eines römischen Kaisers, der nun über Leben und Tod eines Gladiatoren entscheiden wird.

Du Irrer! Mach mich los!“ brüllt Tom und versucht sich loszureißen. „Was für ein Zeug hast du mir da gespritzt?“ Erfolglos!

Wer hier der Irre ist, ist ja wohl klar! Das war Insulin, gerade genug um dich am Leben zu lassen. Endlich ist diese scheiß Zuckerkrankheit mal was wert.“

Weitere Befreiungsversuche unter wüsten Beschimpfungen scheitern. Im Gesicht des Entführers macht sich ein kleines Lächeln breit.

Was grinst du so blöd?“ faucht der Bewegungsunfähige der Resignation nahe.

Mein erstes Lächeln seit zwei Jahren! Du hast meine Liebe umgebracht. Meine einzige Liebe, die ich je hatte!“

Das ist nicht möglich, alle Frauen die ich befreit habe waren einsam!“

Julia nicht, sie hat mich geliebt, abgöttisch hat sie mich geliebt!Und du hast sie belogen, ihr Hoffnungen gemacht und mit deinem Messer kläglich ausbluten lassen.“

Das kann nicht sein. Alle waren alleine, sie haben mir ihr Leid geklagt, sie haben mich angebetet sie zu erlösen.“

Der Entführer entwickelt einen inneren Zorn, nimmt die Lampe vom Tisch und führt sie nah über Tom´s Gesicht.

Jahrelang hat sie mich geliebt und ich sie! Wir waren füreinander geschaffen. Sie war deine Nummer 13. Dein Pech!“

Verwirrt hält Tom inne.

Nummer 13? Aber wieso …?“

Wieso ich nicht zur Polizei gegangen bin? Warum ich dich nicht aufgehalten habe?“

Ja, verdammt!“

Weil die Polizei … sagen wir mal … uns beiden nicht wohl gesonnen war zu dieser Zeit!“

Nein!“ haucht es aus dem Mund des gefesselten Mörders.

Jetzt wird es mir klar! Sie war nicht deine Frau oder deine Freundin. Du bist ein erbärmlicher Stalker, stimmt´s?“

Halts Maul!“

Du hast sie beobachtet, richtig? Bist ihr zu nahe gekommen!“

Halt deine dumme Fresse!“ Er packt die Lampe mit festem Griff.

Du hast Kontaktverbot, du kleiner, kranker Wichser!

Es ist reiner Zufall, dass du mich bei der Befreiung von Julia gesehen hast!“

Mit einem bestialischen Schrei schlägt er Tom den Lampensockel ins Gesicht. Seine Nase beginnt sofort zu bluten.

Halt die Fresse habe ich gesagt! Sie hat mich geliebt, das weiß ich, die scheiß Bullen haben das alles nie verstanden, niemand hat das je verstanden. Wenn ich dich kranken Typen bei der Polizei gemeldet hätte wäre ich doch selbst weggesperrt worden.“

Jetzt zeichnet sich ein Lächeln in Tom Schäfers blutiges Gesicht.

14 Frauen habe ich befreit und niemanden hat es interessiert. Gerettet habe ich sie. Du hast es auch verdient befreit zu werden, von der Gesellschaft und ihren verständnislosen Gedanken. Von ihren Werten.

Danach hast du mich verfolgt und beobachtet bis ins Detail. Mich, Maria, Henning Braun alles hast du gewusst. Was tust du jetzt mit mir, du arme Seele?“

Der Entführer schweigt. Gedanken schießen ihm durch den Kopf die er nicht verstehen kann. Sich selbst und sein verkorkstes, nichtiges Leben im Schatten der gesellschaftlichen Konventionen im Einklang mit der krankhaft verfälschten Bedeutung des Wortes „befreit“ zu sehen verwirrt ihn.

Dann fasst er sich, stellt die Lampe auf den Schreibtisch und löscht das Licht. In der Finsternis sind nur seine Schritte zu hören. Er öffnet die Tür, durch die ein Lichtschein fällt und geht hinaus.

Tom Schäfers verzweifelte Schreie folgen ihm noch bis zur Brandschutztür im Umkleideraum. Mit dem Schließen der Tür verstummen auch die Schreie.

Ich befreie dich!“ flüstert er leise, geht zu seinem Polo Harlekin und fährt in die Nacht.

5 thoughts on “Ich befreie dich

  1. Hallo Namensvetter 🙂

    Mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen, sehr fesselnd – wie man sich eine Kurzgeschichte vorstellt!

    LG, Florian

    PS. Ich lasse dir auch mal den Link zu meiner Geschichte da. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn du sie lesen und mir vlt auch einen Kommentar und – wenn sie dir gefallen hat – sogar ein Like dalessen würdest. Mein Like hast du!

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/schach-matt

  2. Hallo Florian,

    ich kann mich nur anschließen, mir hat deine Story auch sehr gut gefallen und mich interessiert, ob du eine Auflösung hast? Kommt der Stalker zurück? Lässt er sich sogar befreien?
    Mein Like hast du! Meine Geschichte ist “Kindermund tut Wahrheit kund”, falls du sie lesen magst, würd’ ich mich freuen.

    Liebe Grüße
    Senta

  3. Danke für deinen Kommentar zu meiner Geschichte “Eins isst sieben”.

    Deine Story hier – etwas schräg (meint die Taten und Psychologie des Täters), aber gut. Solide geschrieben, klarer Plot – runde Sache!

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