VanessaBeDas falsche Spiegelbild

Als sie den Kühlschrank schloss, ertönte ein leises Klingeln. Vorsichtig fischte sie ihr Handy aus der Hosentasche. Es war teuer, sie musste behutsam damit umgehen. Doch als sie die Nachricht der in Vergessenheit geratenen Nummer öffnete, fiel ihr der wertvolle Gegenstand aus der Hand und landete mit einem lauten Krachen auf den Küchenfliesen.

Erstarrt blieb sie stehen und blinzelte.

Das konnte nicht sein.

Niemand konnte davon etwas wissen.

Im Nebenzimmer entwich ihrer Mutter ein leises Stöhnen. Aus der Starre gelöst bückte sie sich, ergriff das Handy, welches mit der Frontseite auf dem Boden lag, und starrte auf den schwarzen Bildschirm.

Vielleicht besaß das Display Risse, sie schenkte dem jedoch keine Beachtung. Ihre Gedanken huschten zum schwärzesten Tag ihres Lebens und ihr Magen krampfte sich zusammen. Den Anblick würde sie niemals vergessen können.

Niemals.

„Caro, kannst du mir jetzt bitte die Flasche bringen?“, hörte Caro die krächzende Stimme ihrer Mutter. Für sie ein Indiz dafür, dass ihre Mutter heute noch nicht aufgestanden war.

Schnell erhob sie sich und nahm die Flasche mit der klaren Flüssigkeit von der Theke, die für ihre Mutter das überlebenswichtige Wasser darstellte.

Ihr Handy wog schwer in der hinteren Hosentasche, während sie im kleinen Nebenzimmer verschwand. Im Vorbeigehen fegte sie fast den Stapel mit Rechnungen vom Küchentisch. Die roten Striche, die sie draufgemalt hatte, starrten sie vorwurfsvoll an. Sie stellte die Flasche ihrer Mutter auf den Nachttisch, der neben dem Bett stand und setzte sich auf die dunkelblaue Bettwäsche.

Es roch muffig in dem winzigen Zimmer und Caro wünschte sich, ihre Mutter würde zur Abwechslung mal ein Fenster aufreißen. Ihre Augen tränten manchmal bei dem beißenden Gestank, aber sie gab ihr Bestes und ignorierte ihn. Behutsam strich sie ihrer Mutter über das zerzauste Haar und ließ einen Blick über ihren Körper schweifen. Sie lag mit dem Gesicht zur Wand, wie jeden Tag. Caro drückte ihr einen Kuss auf die Schulter, ehe sie sich erhob und leise die Tür hinter sich schloss.

Langsam tastete sie mit ihrer Hand nach der Wand und drängte sich mit dem Rücken gegen sie. Ihr Herzschlag schnellte in die Höhe und ihr Hals fühlte sich auf einmal staubtrocken an.

Sie wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde.

Oft genug hatte sie in ihrem Bett gelegen und daran gedacht, was passiert wäre, wenn sie anders gehandelt hätte. Wenn sie sich anders verhalten hätte. Doch jedes Mal war sie zu dem Entschluss gekommen, dass es nichts geändert hätte.

Die Welt wäre trotzdem so, wie sie jetzt ist.

Wieso sollte man sich lange in der Vergangenheit aufhalten?

Sie schluckte schwer und stützte sich mit einem Ruck von der Wand ab. Manche Dinge konnte man nicht beeinflussen, oder? Sprach man nicht immer von höheren Mächten, die etwas zuließen oder verhinderten?

Es gab nicht immer nur Schwarz und Weiß. Bunt und einfarbig. Die Welt sah für einen Farbenblinden anders aus, als für jemanden, der die Welt mit all ihren Farben bewundern durfte.

Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr und fluchte leise. Es war schon zehn nach.

Schnell öffnete sie einen der Küchenschränke und tastete nach einer Packung Tabletten. Der abgegriffene Karton lag im untersten Fach, direkt neben den Teepackungen. Mit einer flinken Bewegung drückte sie die weiße Pille aus dem Blister, nahm ein Glas und befüllte es mit Wasser. Beides trug sie ins Badezimmer und stellte es auf dem Waschbecken ab. Ihre Mutter würde es finden. Sie fand es immer.

Als sie sich wieder zur Tür drehte, erhaschte sie einen Blick im Spiegel auf sich und wandte sich ab. Sie musste los.

Ein letztes Mal griff sie noch nach der Bürste, die auf dem kleinen Schrank im Badezimmer lag, und bändigte ihre wirren Haare. Es ziepte ein wenig, doch für Schmerz blieb ihr keine Zeit.

Als sie die Tür zum Badezimmer jetzt hinter sich zu zog, fuhr ein Blitz durch ihre Fingerspitzen und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Ihre Hand schnellte von der Klinke zurück und sie schüttelte sie, als hätte sie sich verbrannt.

Mit einem lauten Schnauben griff sie nach ihrem Handy in der Hosentasche und entsperrte es.

Keine weitere Nachricht.

Ihre Finger schwebten über dem Bildschirm, ehe sie das kleine grüne Symbol unten in der Ecke anklickte. Die anderen sahen nicht, wann sie online war, die Funktion hatte sie vor einer Weile schon deaktiviert. Neben Selinas Namen leuchtete die kleine grün umrandete Zahl zwei auf und sie zögerte einen Moment, ehe sie den Nachrichtenverlauf öffnete.

Das erste, was ihr ins Gesicht sprang, war das Bild. Obwohl es aus einem anderen Blickwinkel aufgenommen wurde als das, an das sie sich erinnerte, wurde sie sofort in die Situation zurück katapultiert. Für jeden anderen musste es ausgesehen haben wie ein langweiliges Bild von einer stinknormalen Schule.

Ihre Schule. Und normalerweise stinklangweilig.

Doch für Caro besaß dieses Bild eine ganz andere Bedeutung. Die Schule mit den roten Klinkersteinen war in das strahlende Sonnenlicht der Nachmittagszeit getaucht und die großen Eichen mit ihren grünen Blättern warfen vereinzelnd Schatten auf das Gebäude.

Selina war ihr doch gefolgt. Sie hatte es gewusst. Auch, wenn der Gedanke zuerst abwegig gewesen war. Doch manchmal fühlte man sich eben nicht nur beobachtet.

Niemand bräuchte ihr zu erzählen, um welchen Tag es sich handelte.

Dieses Datum würde sie niemals vergessen. Es hatte sich unwiderruflich in ihr Gehirn gebrannt, wie ein glühendes Eisen auf diese kunstvoll verzierten Klingelschilder aus Holz. Nur, dass bei ihr nicht Müller oder Krüger oder Matthies stand, sondern: Donnerstagnachmittag, 23. Juni.

Ihr Blick glitt von dem Schulgebäude weiter nach unten zur asphaltierten Straße, auf der kein einziges Auto fuhr. Davor standen die silbernen Fahrradständer. Normalerweise drängten sich dort die Fahrräder dicht an dicht, doch jetzt am Nachmittag war nur noch ein einziges zu sehen. Das Bild war menschenleer. Und trotzdem schluckte Caro schwer.

Sie sprang wieder zurück in den Nachrichtenverlauf. Jeder, der dieses Bild sah, würde nicht auf die Ideen kommen, die ihr durch den Kopf schossen.

Na, fällt es dir auf?

Caros Finger spielten an ihrer Unterlippe herum und sie kaute auf dem Nagel ihres Zeigefingers. Woher hatte Selina dieses Bild? Warum zeigte sie ihr das erst jetzt?

Sie blickte vom Handy auf und starrte auf die Wand im Flur.

Nein, sie musste es vergessen. Sie hatte sich damals geschworen, dass sie nie ein Wort über den Nachmittag verlieren würde und das bisher auch eingehalten. In Stein gemeißelte Dinge konnte man nicht nach Lust und Laune verändern. Eine winzige Modifikation, ein kleiner Fehler und die gesamte Darstellung wäre zerstört.

Selina durfte jetzt nur nicht den Eindruck gewinnen, sie erlange die Oberhand. Ein Bild hieß noch lange nichts.

Wow, unsere Schule. Na und?

Ihre Unterlippe bebte und sie starrte wieder auf ihr Handy und dann zur Wand. Selina konnte niemandem etwas mit diesem Foto beweisen. Niemand würde ihr glauben, so, wie ihr jetzt niemand Glauben schenkte.

Sie tippte auf das Foto und zoomte an das Gebäude heran. Die schwere Holztür war verschlossen, der Schulhof wie leergefegt. Die Tischtennisplatten, an denen die Raucher immer in den Pausen abhingen, waren nicht mehr auf dem Bild zu sehen. Dafür stand der Fotograf zu nah dran.

Die Straße glänzte in der Sonne vom Regenschauer, der sich erst kürzlich über der Stadt ergossen hatte. Alles war wie immer. Fast alles.

Ein Quietschen.

Ein Krachen.

Ein Schrei.

Caro kniff die Augen zusammen und zuckte mit ihrem Kopf zur Seite. Sie musste die Geräusche aus ihrem Kopf bekommen. Es reichte schon, dass sie ihr nächtelang den Schlaf geraubt hatten.

Sie schob das Bild weiter und blieb an den Fahrradständern hängen. Das Fahrrad war gut erkennbar, weil es ein wenig schräg stand. Außerdem schimmerte es leuchtend in der Farbe ihrer Lieblingsfrucht und hob sich dadurch von dem grünen Hintergrund aus Blättern hinter dem Eisenzaun ab. Am Lenkrad baumelte ein kleiner grauer Plüschanhänger. Und an diesem Fahrrad lehnte ein Rucksack.

Caro hielt die Luft an. Ein Schauder lief ihr über den Rücken und das Blut pochte in ihren Ohren, bis sie nichts mehr hörte außer ihren eigenen Körper.

Sie stieß die Luft kaum hörbar aus und ihr Atem wurde flach. Schnell drückte sie den kleinen Knopf an der Seite ihres Handys und der Bildschirm wurde wieder schwarz. Jetzt begegnete sie ihrem eigenen Blick und starrte sich für einen Moment lang selbst in die Augen. Sie fröstelte.

Das hieß gar nichts.

Das würde rein gar nichts beweisen.

Sie ging schnellen Schrittes in ihr Zimmer und wollte nach ihrem Rucksack mit den Schulbüchern greifen, der an der Rückseite ihrer Tür hing. Doch ausgerechnet heute war er nicht da. Ihr Kopf schnellte zur Seite und ihr Blick glitt durch das kleine Zimmer. Die Jacke von gestern hing über dem Schreibtischstuhl. Auf ihrem Schreibtisch lag ihr zusammengeklappter Laptop, das Ladekabel daneben zusammengerollt. Doch auch dort stand kein Rucksack.

Ihr Blick wanderte weiter zu ihrem Kleiderschrank, dessen Türen geschlossen waren. Ruckartig riss sie diese auf und schob die Klamotten zur Seite, die auf den Bügeln aneinandergereiht an einer Stange hingen.

Kein Rucksack.

Sie stöhnte laut auf und knallte die Türen ihres Schrankes zu. Mit einer schnellen Bewegung fuhr sie sich durch die Haare und suchte den Boden ab.

Wo konnte ihr Rucksack sein, wenn nicht in ihrem Zimmer? Wo…

Caro griff nach dem Handy in ihrer Hosentasche und entsperrte es. Das Fahrrad starrte sie immer noch an, allein und unschuldig an seinem Platz. Wie eine Erinnerung, die sie nicht verdrängen konnte, so sehr sie es auch versuchte. Nur, weil man etwas nicht sah, hieß es nicht, dass es nicht da war.

In diesem Moment ploppte eine weitere Nachricht von Selina auf.

Und? Kommt dir das Fahrrad bekannt vor?

Ihre beiden Finger zoomten näher an das abgebildete Fahrrad heran. Erkannte man es denn auch, wenn es einem gänzlich unbekannt war? Konnte es überhaupt ein Anhaltspunkt sein?

Der Klang einer weiteren Nachricht ertönte und sie zuckte zusammen. Das Bild füllte jetzt wieder den gesamten Bildschirm aus und sie schluckte schwer.

Na und? Was sollte das schon großartig heißen? Das bewies rein gar nichts.

Hab dich. Ich hatte recht.

Sie atmete tief durch und biss sich auf die Unterlippe. Ihre Finger glitten schnell über die Tastatur.

Herzlichen Glückwunsch. Du hast ein Foto von unserer Schule gemacht. Großartig. Was soll man damit anfangen?

Immer wieder sah sie von den Nachrichten zum oberen Bildschirmrand zu dem Foto von Selina, das sie lächelnd in die Kamera zeigte. Caro hatte sie schon lange nicht mehr lächeln sehen. In der Schule wich Selina ihnen aus, wer könnte es ihr auch verdenken. Nach allem, was geschehen war. Selina würde nie wieder dazugehören.

Es wäre ein neuer Hinweis. Das reicht der Polizei doch schon. Vielleicht würde es ihnen helfen, wenn man den Besitzer des Fahrrads ausfindig machen würde. Wir wissen doch jetzt, dass er an dem Tag nicht weit weg gewesen sein konnte.

Sie schluckte.

Von wegen zufällig vorbeigefahren.

Caros Herz schlug immer lauter und stärker, als wolle es gleich aus ihrer Brust springen.

Jetzt wirst du auch leiden. Sie werden sehen, wer du wirklich bist. Verräterin.

Rasch warf sie ihr Handy aufs Bett und drehte sich zum Fenster. Sie kaute auf ihren Fingernägeln, während sie in ihrem Zimmer auf und ab ging.

Der Fall war abgeschlossen. Sie hatte bereits mit der Polizei am Unfallort geredet. Es gab nichts mehr zu erzählen. Rein gar nichts.

Mit einer flinken Bewegung riss sie das Fenster auf und rang atemlos nach Luft. Sie krallte ihre Finger ins Fensterbrett und stützte sich auf ihre Arme. Das Fenster gab neuerdings merkwürdige Geräusche beim Öffnen von sich.

Ein Quietschen.

Selina konnte ihr nichts anhaben. Niemand würde ihr glauben. Nicht mehr jedenfalls.

Sie ließ ihren Blick über den gepflasterten Innenhof schweifen. Die Nachbarskinder spielten Fußball und hatten aus ihren Rucksäcken Torpfosten gebaut. Von hier oben sahen sie aus wie kleine Ameisen. Wenn einer im Ballbesitz war, riefen die anderen ihm etwas zu. Ein Junge passte in einem Moment nicht auf und der Ball krachte in einen der Blumentöpfe, die ein Nachbar aus dem Erdgeschoss auf seiner Terrasse in einer Reihe aufgestellt hatte.

Ein Krachen.

Der Blumentopf zersprang in kleine, irreparable Teile. Caro zuckte zusammen und die Kinder waren einen Augenblick lang still, ehe sie wild durcheinanderredeten und sich gegenseitig etwas zuriefen. Ihre schwachen Kinderstimmen drangen bis zu ihr nach oben und sie wurden lauter. Sie wurden lauter und lauter, ihre Stimmen höher und aufgeregter und immer lauter und schriller und durchdringender und lauter und-

Ein Schrei.

Ihr Schrei.

Abrupt drehte sie sich um und lehnte sich gegen das Fensterbrett. Sie presste ihre Handflächen auf die Augen und holte tief Luft. Der Druck wurde immer stärker, bis ihr kleine, funkelnde Punkte vor den Augen tanzten und sie sich ihre Hände vom Gesicht riss.

Sie stieß sich vom Fensterbrett ab und schloss das Fenster leise. Die Stimmen in ihrem Kopf sorgten nur für Verwirrung.

Taumelnd wankte sie zum Bett und ließ sich darauf fallen, vergrub ihr Gesicht wieder in ihren Händen und seufzte leise auf.

Selina wusste gar nichts.

Und sie würde auch nichts verstehen.

Hatte sie nichts Besseres zu tun als in alten Alben herumzukramen und Fotos hervorzuholen, die niemandem weiterhalfen?

„Bis Morgen, Caro!“

Sie sah ihn vor sich.

Die hellgrünen, katzenartigen Augen, die sie immer so verschmitzt anblitzen. Er wusste genau, dass sie eine Niete in Chemie war. Doch sie durfte auf dem Zeugnis keine Fünf stehen haben. Sie brauchte diese Vier! Mangelhaft. Sie war nicht mangelhaft, sie hasste diesen Ausdruck. Frei von Mängeln war niemand, außer der, der sich dafür hielt.

Es war nett von ihm gewesen, ihr zu helfen. Mit ihm traf sie sich die letzten Donnerstage vor den Ferien nach dem Unterricht. Er musste immer auf sie warten, weil sie ihren langen Donnerstag absaß. Zwei Stunden Mathe. Pure Quälerei.

Er saß auf einer der Tischtennisplatten und sah freudig auf, wenn sie das Schulgebäude verließ.

Sie nahm ihn nicht mit nach Hause. Das ging nicht.

Wenn sie zu ihm gegangen wären, hätte Hannah davon erfahren. Und das wollten sie beide auch nicht. Also saßen sie draußen auf dem Schulhof und wenn es regnete, setzten sie sich unter das Vordach des Eingangs. Es ging schon irgendwie.

Sie mochte ihn. Er war nett. Er erklärte mit einer inneren Ruhe, sodass Caro viel mehr lernte als bei ihrem Lehrer. Er sah gut aus.

Er war anders.

Manchmal blieben sie länger als geplant, weil sie die Zeit vergaßen. Manchmal redeten sie über ihre Lehrer und verurteilten sie. Manchmal sprachen sie über seine Freunde, die Caro nur aus Erzählungen von Hannah kannte. Manchmal saßen sie einfach nur schweigend da und genossen die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut.

Sie riss ihre Hände vom Gesicht und sah auf.

Nein, sie saß immer noch auf dem Bett in ihrem Zimmer. Für einen Moment hatte sie das Gefühl gehabt, ihn sehen zu können. Sein Lachen zu hören. Die roten Kirschweingummis zu schmecken, die er so liebte und ständig bei sich trug.

Sie versuchte, diese Bilder von ihm in ihrem Kopf aufleben zu lassen. Doch alles, was sie jetzt sah, wenn sie an ihn dachte, war sein starrer, lebloser Blick.

Kein Lachen.

Kein Grinsen.

So viel Blut.

Caro schüttelte schnell den Kopf und schlug sich drei Mal mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sie musste an etwas anderes denken, sie musste diese Bilder aus dem Kopf bekommen.

Sie musste ihn vergessen.

Langsam griff sie nach ihrem Handy, das sie durchdringend von seiner Position auf dem Bett anstarrte und entsperrte es mit zittrigen Händen.

Wenn Selina das Bild an die Polizei weiterreichen würde und diese sie kontaktierten… nein. Das durfte nicht geschehen.

Ihr Blick wanderte langsam zu der halbmondförmigen Narbe auf ihrem Unterarm und sie biss sich auf die Unterlippe.

„Ich weiß, dass du da warst! Ich weiß es! Sie lügt! Guckt sie euch an, sie lügt! Sie weiß was, das müsst ihr mir glauben! Sie war schon vorher da! Hannah, siehst du das denn nicht? Sie hat etwas gesehen und sie lügt! Sie lügt! Er war dein Bruder, Hannah!“

Sie wusste jetzt, dass Selina ihr manchmal gefolgt war. Gefühle veränderten Menschen, zum Guten und zum Schlechten.

Doch Caro konnte nicht mehr tun, als zuzusehen, wie Selina immer mehr und mehr durchdrehte, wie die Wahrheit sie um den Verstand brachte. Denn niemand glaubte ihr.

Und jetzt war sie allein.

Ganz allein.

Das Klingeln ihres Handys ließ sie zusammenfahren und sie schüttelte den Kopf.

Sie starrte auf den Anrufer in ihrer Hand und holte einmal tief Luft, ehe sie auf den grünen Hörer drückte und sich das Telefon ans Ohr hielt.

„Sorry Hannah, ich bin sofort unterwegs. Meine Eltern wollten unbedingt meine Meinung zum Sommerurlaub haben. Woher soll ich denn wissen, ob sie lieber in die Toskana oder nach Andalusien fliegen sollen?“ Sie zwang sich zu einem Lachen und die Anruferin lachte ebenfalls, ehe sie noch etwas sagte, was Caro nicht verstand. Sie wendete ihre ganze Kraft für etwas anderes auf. Dann erklang ein leises Tuten und sie ließ ihre Hand wie in Zeitlupe nach unten fallen.

Langsam erhob sie sich von ihrer Position auf dem Bett und straffte die Schultern.

Wenn dieses Bild bei der Polizei ankäme und sie bei ihr auftauchten, dann wäre alles zerstört.

Alles.

Alles, worauf sie hingearbeitet hätte, wäre verloren. Die Polizei durfte nicht zu ihr nach Hause kommen. Sie würden ihr alles nehmen. Caro musste es verhindern.

Im Flur stolperte sie regelrecht über ihren Rucksack. Wie hatte sie den hier nur übersehen können? Ihr Blick ruhte einen Moment zu lang auf dem kleinen grauen Plüschanhänger.

Sie horchte auf. Aus dem Zimmer ihrer Mutter drang kein einziges Geräusch.

Leise schlich sie sich aus der Wohnung und schloss die Tür hinter sich ab. Während sie nun die Treppen hinunterging, versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen.

Sie brauchte einen Plan. Sie musste Selina zum Schweigen bringen.

Ihre Nachbarin öffnete gerade ihren Briefkasten und lächelte sie im Vorbeigehen freundlich an. Caro erwiderte das Lächeln und biss sich auf die Zähne.

Schnellen Schrittes ging sie den Weg zur Straße entlang und fischte den Autoschlüssel aus ihrer Jackentasche. Das Auto stand ein paar Minuten Fußweg von der Wohnung entfernt. Sie benötigte Geld und dort war es am sichersten verwahrt. Ihre Mutter kam ohne Autoschlüssel nicht ran. Sie wollte mit dem Geld ihren Führerschein machen und müsste dann nicht immer laufen. Ihr Fahrrad stand derweil vollgestaubt im Keller. Es erinnerte sie an Dinge, die sie lieber vergessen wollte.

Als sie auf den winzigen Knopf drückte, blinkte das kleine, dreckige, silberne Auto zweimal. Es besaß hier und da ein paar Kratzer. Ein, zwei Beulen. Beim Ausparken hatte Caros Mutter einmal eine Hauswand gestreift. Ansonsten nichts Auffälliges.

Jedenfalls nichts Sichtbares.

Einmal hatte sie wegen ein paar Kratzer und einer Beule einen Bekannten ihrer Mutter angerufen.

Er stellte keine Fragen.

Caro riss jetzt die Beifahrertür auf und sah sich ein letztes Mal um, ehe sie den Kopf in den Wagen steckte und eine kleine dunkle Tasche aus dem Handschuhfach hervor holte. Ihr Blick blieb an dem Schraubenzieher hängen, den ihre Mutter dort für Notfälle deponiert hatte.

Sie wusste, wie sie sich schützen müsste.

Das wusste sie schon immer.

Sie knallte die Autotür zu und ging davon.

16 thoughts on “Das falsche Spiegelbild

  1. Hallo, Vanessa,
    die Geschichte gefällt mir sehr gut, toller Spannungsbogen, lebendige Sprache, ich konnte mich sehr gut in deine Protagonistin hinein versetzen. Und ich liebe offene Enden…deins macht definitiv Lust auf mehr!

    Viele Grüße
    Rolf Lindau
    P.S. Meine Geschichten sind unter meinem Namen zu finden. Würde mich freuen, ein Feedback von dir zu lesen.

  2. Hallo Vanessa,
    ich will auch wissen, wie die Geschichte weiter geht!
    Zu der Geschichte, wie wir sie hier lesen durften, möchte ich Dir ein großes Lob aussprechen. Mich hat Dein Schreibstil sofort gefesselt und nicht wieder los gelassen. Mir gefällt auch sehr gut, dass sich die eigentliche Handlung im Kopf des Lesers abspielt. Dieser Interpretationsspielraum, was ist eigentlich passiert, was hat Selina gegen sie in der Hand, selbst der Sidekick zur Mutter, die vielleicht alkoholkrank (?) ihre Tage im Bett fristet und vor allem das offene Ende haben mir echt super gefallen!
    Bei all dem lässt die Geschichte es zu, vielleicht irgendwann mal was Größeres draus zu machen. Ich wäre jedenfalls gespannt drauf …

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen : Glasauge
    Über ein Feedback würde ich mich freuen.

  3. Moin Vanessa,

    da ist dir was richtig, richtig gutes gelungen.
    Vom Anfang bis zum Ende hing ich an deinen Worten. Du hast so eine tolle Bildsprache und benutzt tolle Metaphern um diesen Ausdruck zu verleihen.

    So wie hier :

    Dieses Datum würde sie niemals vergessen. Es hatte sich unwiderruflich in ihr Gehirn gebrannt, wie ein glühendes Eisen auf diese kunstvoll verzierten Klingelschilder aus Holz. Nur, dass bei ihr nicht Müller oder Krüger oder Matthies stand, sondern: Donnerstagnachmittag, 23. Juni.

    Klasse! Deine Art zu schreiben hat mich begeistert und die Art und Weise wie du Caro zum Leben erweckt hast, hat mich fasziniert! Du lässt deine Geschichte genau so super enden, wie sie begann.
    Für mich dürfen gerne Fragen offen bleiben, denn genau das ist ein Erkennungsmerkmal von Kurzgeschichten! Ich kann mich nur wiederholen. Richtig, richtig gut!!

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  4. Hallo Vanessa,

    als ich deine Geschichte laß, kam mir der Text zu Anfang ziemlich holprig vor.
    Dort würde ich ein paar Stellen etwas umformulieren. Wie den z.B.:
    – Vielleicht besaß das Display Risse, sie schenkte dem jedoch keine Beachtung.
    “Besitzen” finde ich hier seltsam fehl am Platz. Nur ien Vorschlag: Selbst wenn das Display von Rissen überzogen gewesen wäre, hätte sie es in diesem Moment nicht registriert.

    – Schnell erhob sie sich und nahm die Flasche mit der klaren Flüssigkeit von der Theke, die für ihre Mutter das überlebenswichtige Wasser darstellte.
    (Sollte es sich hierbei, so wie ich es vermute, nicht tatsächlich um Wasser handeln)
    Schnell erhob sie sich und nahm die Flasche mit der klaren Flüssigkeit von der Theke, die für ihre Mutter so überlebenswichtig wie Wasser darstellte.

    – drückte sie die weiße Pille aus dem Cluster, nahm …
    Meintest du hier “Blister”?

    Je weiter ich in der Geschichte voran kam, desto flüssiger würde es jedoch.
    War das Ende so geplant, oder hast du den Plot aus Zeitgründen nicht weiter ausgearbeitet? Bisher gibt es noch einige lose Enden…

    Aber wie auch immer: Für den Anfang eine gute Basis.
    Ich hoffe du hast noch viel Spaß am Schreiben.

    Vielleicht hast du ja auch Zeit und Lust, um mal bei mir vorbeizuschauen und einen Kommentar zu hinterlassen.

    Viele Grüße
    J. D.
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/das-leben-eines-toten-mannes

  5. Hallo Vanessa

    Deine Geschichte macht süchtig.

    Das ist für dich ein dickes Lob, für mich persönlich aber eine Qual.
    🙂

    Verdammt.

    Ich will wissen, wie die Geschichte ausgeht.

    Im Grunde genommen liebe ich offene Enden und offene Fragen am Ende einer Shortstory.
    Doch manchmal nicht.
    🙂 🙁 🙂

    Du spielst perfekt mit den Erwartungen und Gedanken der Leserinnen und Leser.

    Du bist eine Könnerin.

    Das merkt man direkt.

    Die Parameter sind gut umgesetzt worden. Die Handlung hat mich überzeugt und die Spannung ist exzellent. Und das Finale ist wirklich einzigartig, überraschend und professionell.

    Man spürt deutlich und bereits nach wenigen Sätzen, wieviel Zeit, Liebe und Energie in diese Geschichte gesteckt wurde.

    Kompliment und Respekt.

    Wenn du so weiter schreibst, wirst du irgendwann noch einmal eine vielgelesene Schriftstellerin.

    Denn es ist erkennbar, dass diese Schriftstellerin bereits JETZT in dir steckt. In dir schlummert.

    Und sie will raus.

    Denn du hast einen guten Schreibstil.

    Deine Likezahlen bedeuten, dass du es definitiv noch ins EBook schaffen kannst.

    Gib niemals auf.
    Deine großartige Geschichte hat eine Veröffentlichung definitiv verdient.

    Und DU hast es dir verdient.

    Mein Herz hast du natürlich sicher.
    Und mein Like auch.
    🙂

    Ich sende dir hochachtungsvolle und liebe Grüße aus dem Münsterland.

    Und bitte schreibe noch viele bezaubernde Geschichten.

    Pass auf dich auf, bleib gesund und lebe deinen Traum.
    Dir und deiner Familie alles Gute und nur das Beste der Welt.

    Swen Artmann (Artsneurosia)

    Ich würde mich sehr freuen, wenn du einen kurzen Blick auf meine Geschichte werfen würdest.
    Über einen Kommentar würde ich mich besonders freuen.

    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Ich danke dir.
    Swen

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