LiMaDie Prüfung

Gavriel Ahlers

Der Stapel des rauen weißen Papiers fühlte sich bedrohlich in seinen Händen an. Er ließ das schmale Paket einmal auf den großen Holzschreibtisch fallen, damit die Seiten wie eine Einheit voreinander lagen. Dann griff er mit einer gezielten Armbewegung zum Tacker und jagte die metallische Klammer in die linke obere Ecke der DIN-A4-Blätter. In seinem Büro war es so ruhig, dass er die Schritte seiner Assistentin schon hören konnte, als sie erst aus dem Fahrstuhl stieg. Schnell verstaute er den Stapel Papiere in einer flüssigen Bewegung in der obersten Schublade, um sie gleich anschließend in besagter Schublade einzuschließen.

„Guten Tag, Gavriel. Ich habe eine Frage zu Ihrem Termin mit den anderen Vorstandsmitgliedern. Wenn Sie gestatten, ich würde gerne an der Sitzung teilnehmen – natürlich nur, wenn ich Sie dabei nicht störe. Allerdings wüsste ich gerne, wie ein wichtiges Meeting normalerweise so abläuft und ich habe gedacht… Nun ja, was sagen Sie dazu?“, blubberte die schüchterne Stimme von Helene Stauss, die erst in diesem Jahr ihren Abschluss an der Universität erworben hatte. Sie war hübsch, sehr ehrgeizig und Gavriel konnte nicht abstreiten, dass sie ihre Arbeit gut verrichtete. Unter gewöhnlichen Umständen mochte er diesen Fakt auch, doch es war kein gewöhnlicher Tag, da konnte er ihre jugendliche Neugierde absolut gar nicht gebrauchen.

„Tut mir leid, Helene, das geht nicht. Es ist zu kurzfristig, das verstehst du hoffentlich. Sonst noch etwas?“, fragte er kurz angebunden nach. Es tat ihm fast schon leid, dass er dabei unhöflich klang, doch das auf ihn lauernde Meeting setzte ihn so dermaßen unter Druck, dass er kein Geschick mehr für Schmeicheleien besaß.

„Die Statistiken, nach denen Sie gefragt haben“, äußerte sie sichtlich pikiert und hielt ihm demonstrativ den entsprechenden Ordner entgegen.

„Ach, ja, vielen Dank. Ist eigentlich endlich geklärt, ob die Ressourcen richtig verteilt wurden?“, fragte er mit einem Seitenblick zur Uhr. In nicht einmal einer Stunde würde das Meeting stattfinden. Hoffentlich gab es gute Nachrichten, er hatte bereits zu viel Geld in diese eine Sache investiert, um weitere Fehlschläge in Kauf zu nehmen.

„Meine Damen und Herren, wie jeden Monat haben wir uns heute versammelt, um die Ergebnisse des Nebenbetriebs Nano++ zu besprechen. Um gleich zur Sache zu kommen: Mir wurde vorhin berichtet, dass wir einen Fortschritt erreicht haben, ist dem denn so, Herr Klossner?“, fragte der Vorsitzende. Gavriel bekam eine Gänsehaut. Ein Fortschritt wäre großartig! Die Innovation bedeutete nicht nur Geld, sondern gleichzeitig große Macht. Diese durften sie sich keinesfalls entgehen lassen. Interessiert richtete er seinen Blick auf Herrn Klossner, einer der Wissenschaftler, die in dem Nebenbetrieb Nano++ arbeiteten. Der eher kleine und rundliche Mann räusperte in seinen ergrauten Schnauzbart, ehe er anfing.

„Nur ein kleiner, dennoch bedeutender Schritt, Herr Fuhrmann. Vereinfacht gesprochen haben die Nerven einer 63-jährigen Versuchsperson auf die Nanobots angesprochen. Anders ausgedrückt können wir mit Hilfe dieser Bots ihre erlahmten Extremitäten bewegen. Zwar ist es noch ein weiter Weg bis wir die Verbindung zu einer neurologischen Vernetzung herstellen können, doch nun sind wir immerhin in der Lage, Körperteile äußerst präzise ansteuern zu können. Keine Prothese der Welt wäre zu so einer gezielten Bewegung in der Lage“, erläuterte der Wissenschaftler mit einer näselnden Stimme. Gavriel ertappte sich dabei, wie er grinste. Zum ersten Mal nach unzähligen Jahren Forschung gab es ein nennenswertes Ergebnis – Halleluja! Sie besprachen noch andere Wichtigkeiten in Bezug auf das langwierige Projekt, zum Beispiel wurden Diagramme über die geflossenen Investment-Gelder an die Wand geschmissen, aber auch Gavriels zuvor zusammen getackerten Papiere kamen zum Einsatz: mehrere Dokumente hinsichtlich Rechtsparagraphen oder Spendengeldern wurden herumgereicht, um sie auf Fehler zu überprüfen. Dass die Firma sich mit Nano++ auf einem äußerst schmalen Grat am Rande der Legalität bewegte, war allen im Raum bewusst. Doch das Risiko war es allemal wert, denn der Gewinn versprach enorm zu werden. Unglücklicherweise existierten immer zwei Seiten einer Medaille – egal, aus welchem noch so hochwertigen Metall die Medaille bestehen mochte.

„Abschließen muss ich diese Versammlung leider mit negativem Beigeschmack. Michi Friedrich, mein Vertrauter im Werkschutz, hat erwähnt, ihm sei eine verdächtige Frau auf dem Gelände aufgefallen. Sie ist verdächtig in derlei Hinsicht, dass sie mit einer Kamera und einem Presseausweis ausgestattet war. Meine Lieben, Sie wissen was das bedeutet? Es besteht der Verdacht, dass wir beobachtet werden und daher bitte ich Sie um noch mehr Vorsicht und Diskretion als ohnehin schon“, damit verabschiedete sich der Präsident und verließ den Versammlungsraum beinahe schon fluchtartig. Wahrscheinlich musste er schleunigst weiter zum nächsten Meeting. In Gedanken formte Gavriel bereits einen Plan, um sämtlichen Gefahren prophylaktisch aus dem Weg zu gehen. Außergewöhnliche Taten erforderten außergewöhnliche Maßnahmen, nicht wahr? Am besten, er fand erst einmal heraus, wie die gute Frau hieß. Danach konnte er weitere Nachforschungen betreiben und die nächsten Schritte skizzieren. Er beschloss, seinen Plan vorerst für sich zu behalten, um nicht unnötig dicke Luft aufzuwirbeln.

Gavriel musterte den Arbeiter vor sich. Er war bestimmt Mitte Zwanzig, doch sein müdes Gesicht ließ ihn älter wirken. Die Wangen waren eingefallen und die Augenhöhlen mit Schatten betont. Jeder Angestellte, den er im Zuge seines Plans befragt hatte, hatte ausschließlich positives Feedback gegeben: Remiel Bernards Arbeit sei stets sorgfältig gemacht worden, egal wie körperlich anstrengend oder niedrig bezahlt sie auch gewesen sein mochte. Die meisten hatten sogar erwähnt, dass sie ihn als festen Kollegen behalten wollten. Gavriel hatte sich nach dieser Beschreibung einen ganz anderen Mann vorgestellt als jener, der ihm aktuell gegenüberstand. Trotz der Muskeln wirkte der Körper ausgemergelt. Zu gerne hätte Gavriel gewusst, warum er so aussah. Mit höchster Wahrscheinlichkeit bot der Leasing-Arbeitsvertrag einfach nicht genügend Einkommen, um ein ordentliches Erscheinungsbild zu ermöglichen. Zumindest würde es die lumpige Kleidung erklären.

„Sind Sie sicher, dass Sie dieses… Projekt übernehmen wollen? Ich verspreche Ihnen zwar eine Festanstellung mit gesichertem Einkommen und zusätzlich eine großzügige Vergütung, jedoch seien Sie sich bewusst, dass Sie kein normales Aufgabenfeld abdecken werden“, stellte Gavriel ein letztes Mal sicher, bevor er sein Gegenüber in seinen Plan einweihen würde. Dieser blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen geradewegs an und nickte fest. Offensichtlich war er von der Geldsumme geblendet, doch Gavriel dachte nicht weiter darüber nach und schüttelte die knochige Hand, während er ihn herzlich begrüßte:

„Willkommen bei Nano++, Herr Bernard!“

Er wollte gerade auf den Knopf seines Funkautoschlüssels drücken, als er von einer kleinen spiegelnden Oberfläche geblendet wurde. Irritiert blickte er sich um, um den Übeltäter zu finden, da entdeckte er ein geöffnetes Klapphandy auf dem Boden. Unscheinbar lag es auf dem Grund des Parkhauses – gut zwei Meter vor seinem Auto, sodass Gavriel vermutlich sogar darüber gelaufen wäre, hätte er es nicht vorher entdeckt. Vor sich hinmurmelnd, es lieber schnell aufzuheben, bevor noch ein Auto darüber walze, setzte er Gesagtes in Tat um. Sobald er mit dem Mobiltelefon in der Hand auf dem Fahrersitz saß, siegte seine Neugier und er drückte so lange auf den roten Hörer, bis das Display aufleuchtete. Gavriel war gleichzeitig überrascht wie misstrauisch, als er Sekunden später wieder auf das Display blickte, denn einen Sicherheitscode oder Ähnliches hatte er nicht bezwingen müssen. Auf der Startseite hatte er direkten Zugriff auf Kontakte, Mails, Internetbrowser, Musikalben et cetera. Nacheinander probierte er sich durch die einzelnen Kategorien. Auch als er bereits fast alle durchgesehen hatte, hatte er dabei noch keine einzige Datei gefunden. Nun blieb nur noch ein rotes Icon übrig, das auf das Fotoalbum verwies. Unsicher wählte er das Symbol aus. Irgendwie beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl. Sein Instinkt lag richtig, denn nachdem er das Album angeklickt hatte, blickte er vermehrt auf sein eigenes Gesicht. Als er die Bilder von sich so betrachtete, kroch unwillkürlich ein Kichern in ihm hoch. Kurzerhand lachte er auf. Na, das war doch mal interessant. Nein, ganz offensichtlich war er interessant. Leider war der Umstand überhaupt nicht lustig. Das Album beinhaltete neben aktuellen Aufnahmen auch Fotos, die ihn mit kurzgeschorenen Haaren abbildeten, ergo startete die Fotosammlung mindestens vor zwei Jahren. Es waren Fotos, die nur ein erfahrener Journalist oder ein Privatdetektiv schießen konnte. Sie zeigten in nahezu erschreckender Qualität, wie er beispielsweise das Gebäude betrat, in dem das Nano++-Projekt durchgeführt wurde, wie er Informationen mit anderen Mitarbeitern austauschte oder wie er mit einem der Ärzte sprach, die Nano++ mit Versuchspersonen versorgte. Darüber hinaus wurden viele weitere Situationen abgelichtet, in denen Gavriel eine bedeutsame Rolle spielte. Neben Fotos von ihm waren auch Aufzeichnungen einiger Gegenstände zu sehen, darunter auch eine Liste der benötigten Spenden. Zusammengefasst alles belastende Motive. Gavriel verzog das Gesicht – offensichtlich wollte man ihm und dem Unternehmen schaden. Bestimmt war es diese Leonie Enns gewesen. Sie war die Reporterin, die vom Werkschutz mit einer Kamera auf dem Werksgelände gesehen wurde. Es war schlichtweg ihr Beruf, Dingen nachzugehen und für Schlagzeilen zu sorgen, da war es die einzig logische Schlussfolgerung, dass sie die Fotos auf dem Handy geschossen hatte. Doch was sollte das? Hatte sie ihm das Handy hinterlassen und wenn ja, warum? Wollte sie ihn erpressen? Und bedeutete das im Umkehrschluss, Remiel Bernard hatte die Vereinbarung gar nicht eingehalten, ihn bloß in die Irre geführt und den Kostenvoranschlag als vollständige Bezahlung akzeptiert? Gavriels Gedanken überschlugen sich. Das Handy konnte unmöglicher Weise bloß rein zufällig vor seinem Auto liegen und simultan belastende Bilder aufweisen. Es könnte das Aus bedeuten, das Worst-Case Szenario schien wahr zu werden. In der Hoffnung, seine Gedanken zu stoppen oder mindestens abzulenken, schaltete er das Autoradio ein und trommelte ungeduldig auf das Armaturenbrett. Sofort begegneten ihm monotone, nasale Nachrichtensprecherstimmen.

„Der Fall um die ermordete Journalistin Leonie Enns wirft immer mehr Fragen auf. Es wird vermutet, dass das Tatmotiv mit ihrem Beruf in Verbindung steht, doch die Polizei macht hierzu noch keine Angaben. Sie bittet jedoch, jeden noch so kleinen Hinweis an folgende Nummer weiterzu-“, schnell schaltete Gavriel das Radio wieder aus. Remiel war ihm also doch treu geblieben. Doch wer hatte ihm dann das Telefon hinterlassen und was wollte dieser Jemand damit bezwecken? Hatte Leonie Enns etwa kurz vor ihrem Tod jemanden von ihrem Verdacht erzählt? Wieso war ihm das nicht schon früher in den Sinn gekommen? Er hätte es wissen müssen… Bestimmt hatte sie einem Vertrauten ihre Ergebnisse berichtet und um Rat gefragt, anders konnte es nicht sein. Was sollte er denn jetzt nur tun?

Remiel Bernard

Was sollte er denn jetzt nur tun? Das Messer glitzerte rot im düsteren Schein seiner Stirnlampe. Er hatte sich ganz in seinem Vorhaben verloren, sowas war ihm noch nie zuvor passiert. Nicht bei der blonden Frau und beim muskulösen Typ schon gleich gar nicht. Während die blonde Journalistin nichts weiter als ein Appetitanreger gewesen war, hatte der Muskelheini ihm einiges an Kraft abverlangt. Beide Aufträge hatten ihre Tücken aufgezeigt und Remiels Talent herausgefordert. Umso mehr hatte sich Remiel gefreut, dass dieses Mal wirklich alles von vorne bis hinten ohne besondere Vorkommnisse geklappt hatte. Er reflektierte seine Herangehensweise der letzten Stunde und konnte nicht nur die bekannte Freude, sondern auch Stolz wahrnehmen. Wer konnte denn schon behaupten, drei komplizierte Aufträge innerhalb kürzester Zeit vollständig und zuverlässig zu erledigen? Wie immer sorgte er dafür, auch ja nichts zu vergessen und wischte lieber dreimal zu oft seine Spuren auf als einmal zu wenig. Völlig erschöpft trug er sich mit seiner Ausrüstung zurück zum Auto. Wäre Morden nicht so anstrengend, hätte er noch effizienter sein können. Aber es gehörte eben nicht nur Überwindung, sondern auch Kraft dazu, ein Messer tief genug unter die Haut zu treiben, um Organe verletzen zu können. Gähnend schnallte er sich an. Schon wieder eine Person weniger auf der Welt. Es war wie Knabberzeug – ehe man sich versah, war die Schüssel leer. Remiel sehnte sich bereits nach dem nächsten Auftrag. Er war wie besessen von der Vorstellung, sein Messer ein weiteres Mal in lebendes Fleisch zu versenken begleitet von einem angsterfüllten Blick oder einem panischen Aufschrei des Opfers. Nur wegen Herrn Ahlers hatte er seine Schwäche für sein neues Hobby entdecken können und dafür war er ihm äußerst dankbar. Endlich hatte er mal etwas, auf das er stolz sein konnte. Etwas, das die anderen beeindruckte und präsentabel war, und nicht nur sein armseliges Leben. Wie Gavriel Ahlers ihn beäugt hatte, als sie den Pakt geschlossen hatten: als sei er von der Klapse geflohen oder so. Wenn er ihn in diesem Moment sehen könnte, was würde er wohl von ihm denken?

Zuhause angekommen war nicht nur sein Körper erledigt, sein Geist war ebenfalls hundemüde. Er hatte eine Fantasie nach der anderen gesponnen und der Ehrgeiz, es beim nächsten Mal noch besser zu machen, hatte ihm zusätzlich den letzten Nerv geraubt. Gerade so schaffte er es, seine Ausrüstung auf den Boden zu werfen, sich auf die Couch zu hieven und mit einer Decke zuzudecken, da war er auch schon eingeschlafen.

Plötzlich hörte er einen Aufschrei. Aus dem Schlaf geschreckt richtete er sich auf, während er versuchte, sich an die Helligkeit zu gewöhnen.

„Remiel? Was soll das ganze Blut? Wo warst du?“, fragte ihn seine Großmutter mit einer Mischung aus Unglauben und Schock in der Stimme. Nur mit Mühe schaffte er es, sie anzugucken. Seine Augen hatten den Umweg über die Uhr gemacht, sodass er nun wusste, dass bereits Mittag war.

„Ich war arbeiten“, erwiderte Remiel mit kratziger Stimme. Nur allmählich kamen seine Augen mit dem Licht zurecht und er rieb sie, um den Prozess zu beschleunigen.

„Remiel! Das… Warum ist Blut an deiner Arbeitstasche? Ach, Remiel… Wie lange sage ich dir schon, dass du kündigen sollst? Du kommst immer so heruntergekommen nach Hause… Sieh dich nur an! Du siehst aus wie… wie ein Killer! Ich kann’s nicht glauben… Deine Eltern wären enttäuscht“, sie ließ sich noch weiter über Remiel aus, doch dieser hörte gar nicht mehr zu. Das Wort „enttäuscht“ hallte surrend in seinem Kopf nach. Wie konnte sie es wagen? Endlich hatte er etwas gefunden, mit dem er sich identifizieren konnte, worin er gut war, aber Babsie würdigte es kein Stück! Wie konnte sie ihn nur so hintergehen? Sonst war sie doch auch immer auf seiner Seite – oder war das alles etwa nur ein dummes Spiel gewesen? Obwohl seine Gedanken zunehmend düsterer wurden, beschloss er, seiner Großmutter noch eine Chance zu geben und zu erklären, was genau sein neues Hobby war. Immerhin war seine Oma von einer anderen Generation und wusste gar nicht, wie es war, unter seinen Umständen aufzuwachsen.

„Oma, hör zu, ich hab da-“, doch sie unterbrach ihn sofort:

„Nein Remiel, das kann ich dir einfach nicht verzeihen! Sag, kommt das Blut etwa… Sei ehrlich, war das mit der jungen Journalistin etwa dein Werk? Oh Gott! Bitte nicht, bitte sag mir, dass du es nicht warst! Was soll ich nur tun? Ich glaube… Ich glaube, ich rufe die Polizei“, murmelte sie eher zu sich selbst als zu ihm. Erst jetzt erkannte Remiel die im Licht glänzende Tränenspur, die sich ins faltige Gesicht seiner Großmutter abgesetzt hatte. Noch nie hatte er seine Oma weinen sehen. Sonst war sie immer die Heldin in seinem bemitleidenswerten Leben gewesen, doch in diesem Moment gab sie für ihn nur das armselige Bild einer alten senilen Frau ab. Er wusste selbst nicht wie ihm geschah, doch die Wut kochte in ihm hoch. Wie konnte diese alte Hexe es wagen, ihn nicht aussprechen zu lassen? Kein Respekt mehr vor den Alten, was? Wenn, war es eher andersherum! In dem Moment, als sie nach dem Festnetztelefon griff, brannte eine Sicherung in ihm durch und noch ehe er es wirklich registrierte, hatte sie ächzend den dunklen Hörer fallen gelassen. Der warme geborgene Leib umarmte ihn halbherzig wie eine verdorrte Blume: ohne jegliche Körperspannung.

„Oma?“, fragte er, bekam jedoch keine Antwort. Die Augen verdrehend seufzte er auf und versuchte es noch einmal.

„Hey Oma, lass uns doch darüber reden! Du kannst mich nicht einfach ignorieren, ich stehe direkt vor dir… Oma!“, er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie mit der stummen Frage auf den Lippen, ob sie noch ganz bei Trost sei. Erst als er sie losließ und der kleine Körper in sich zusammensackte, wurde ihm bewusst, was eigentlich gerade geschehen war. Nein, das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht sein! Wie war das passiert? Immer noch voller Zweifel und Hoffnung kniete er sich zu der alten Dame hin und stupste sie an, um sicherzugehen, dass er auch wirklich nicht träumte. Sie regte sich nicht. Zitternd stand er wieder auf und sah sich das wüste Szenario an. Auf einen Schlag war all der vorige Zorn wieder in ihm gebündelt vereint mit frischer Wut, die auf ihn einprasselte wie kalter Gewitterregen. Daran war doch nur dieser Ahlers schuld! Ahlers war es gewesen, der ihn dazu gebracht hat, all diese Leute zu ermorden. Ahlers war es gewesen, der seine einzig verbliebene Familie umgebracht hatte – und dafür würde Ahlers büßen! Er war für alles verantwortlich gewesen, also musste er seine Taten auch wieder reinwaschen. Vielleicht war das ja von Anfang an der Plan gewesen? Vielleicht war es Remiels Bestimmung gewesen, Herrn Ahlers unter die Arme zu greifen und ihn auf den rechten Weg zurückzuführen. Sein Blick fiel auf den weißen Haarschopf von Babsie. Seine Oma hatte immer gesagt, dass Gott den Menschen Prüfungen schickte und nur diejenigen ins Paradies kamen, die diese Prüfung erfolgreich bestanden. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er sich: Er musste Ahlers prüfen, ob er dem Paradies würdig war. Fehler waren verzeihbar, wenn man sie bereute. Remiel würde alles dafür tun, dass Ahlers seine Tat bereute und dann wäre auch endlich mal eine weitere Person und nicht nur er selbst stolz auf ihn. Gott persönlich würde mit väterlichem Blick auf ihn herunterschauen.

Die nächsten Schritte hatten so einfach geklungen: Die Bilder der Journalistin ausborgen und sie Ahlers mit Hilfe eines Handys unterschieben, um ihn auf seine Fehler hinzuweisen. Dann Ahlers zeigen, wie er seine Fehler gutmachen könne. Sein Plan war auch wunderbar aufgegangen. Glücklicherweise hatte die Journalistin ihm nämlich schon so einiges an Arbeit abgenommen. Sie hatte verschiedene Spendenkonten zusammengetragen und in einer Liste festgehalten. Offensichtlich hatte sie ebenfalls gewollt, dass Herr Ahlers zur Abwechslung mal etwas Selbstloses tat, indem er zum Beispiel an Bedürftige spendete. Remiel war also nicht der einzige, der Ahlers auf die rechte Spur bringen sollte. Ursprünglich wollte er ein cooles Smartphone auftreiben, so wie in den ganzen Actionfilmen, doch als er den Hörer des Festnetztelefons zurück in die Station gelegt hatte, war ihm eine viel kostengünstigere Variante eingefallen: Omas Handy. Noch hatte er allerdings keinen Weg gefunden, wie man anonym eine SMS versenden konnte, sonst hätte er Ahlers bereits eine trostspendende Nachricht zukommen lassen. Vielleicht war es aber auch besser, ihm nicht zu sagen, dass alles schon wieder gut würde, wenn Ahlers es nur aufrichtig bereue. Immerhin unterlag es ohnehin der Prüfung, die Hinweise richtig zu deuten und ein Stück weit ohne fremde Hilfe zurechtzukommen, oder etwa nicht?

Remiel war positiv überrascht, als er von Ahlers Spendenaktion erfuhr. Seine Recherche ergab, dass dieser nämlich ganz nach Remiels Plan Geld an die aufgelisteten Spendenkonten überwies und nun auch noch unabhängig davon selbst ausgesuchte Hilfsorganisationen unterstützte. Wenn das mal kein Samariter-Akt war, dann wusste er auch nicht weiter. Allerdings brachte ihm dies nicht das erhoffte Gefühl der Befreiung. Nein, tatsächlich fühlte er sich genauso wie vorher. War sein Plan etwa doch gescheitert? Er konnte diese Frage nicht beantworten. Eigentlich war sogar alles mehr als gut verlaufen. Hatte er vielleicht einen Fehler gemacht, etwas übersehen? Sonst, wenn er Zweifel hatte, hatte er mit seiner Großmutter geredet, danach war die Welt wieder in Ordnung gewesen. Doch wenn er sie nun fragte, erwiderte sie lediglich ein besorgtes Gesicht. Konnte ein bisschen Geld denn ausreichen, um Morde zu verzeihen? War es richtig, einen Tod mit weltlichen Gegenständen wieder wett zu machen? Remiel fand darauf keine Antwort. Er hatte gedacht, dass er sich besser fühlen würde, wenn Ahlers seine Fehler sühnte. Stattdessen fühlte er sich beinahe noch schlimmer. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Es war nicht das erste Mal, dass ihm auffiel, wie die Wohnung anfing, zu müffeln. Doch auch wenn ihm von dem Gestank schlecht wurde, durfte er nicht lüften. Er brauchte den Rat seiner Großmutter, denn nur sie war im Stande gewesen, ihn zu beruhigen. Wenn der Nachbar bemerkte, dass Babsie im Wohnzimmer lag, würde er sie ihm wegnehmen. Das durfte er unter keinen Umständen zulassen! Remiel wurde schwindelig, weshalb er sich schnell auf den Weg ins Badezimmer machte. Erbrechen musste er Gott sei Dank nicht, doch sein Kopf war knallrot angelaufen. Nachdem er sich Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, um sich abzukühlen, betrachtete er lange sein Spiegelbild. Was war eigentlich seine Prüfung?

Gavriel Ahlers

Die Spendenkonten der Liste auf dem Handy bildeten eine exakte Schnittmenge jener Konten, die das Unternehmen als Deckmantel zur eigenen Finanzierung genutzt hatte. Um Nano++ finanzieren zu können, waren sie nämlich auf Fremdkapital angewiesen. Dafür nutzten sie Spendenkonten, in die die Hauptfirma selbst großzügig investierte, damit andere Wettbewerber darauf aufmerksam wurden und ihrerseits Geld stifteten. Was keiner wusste: Das Geld floss dabei nicht wie angegeben in eine Hilfsorganisation, sondern in die eigene Firmenkasse. Es konnte kein Zufall sein, dass sich ausgerechnet diese Spendenkonten auf dem Telefon befanden. Jemand spielte mit ihm. Wenn er doch nur herausfinden könnte, wer der Verantwortliche war. Gavriel musste jede Gefahr auslöschen. Er könnte es nicht ertragen, derjenige zu sein, der aus Unvorsichtigkeit das Unternehmen entlarvt hätte. Bald schon stand das nächste große Meeting an. Wenn er bis dahin nicht wusste, wer ihm indirekt drohte, konnte das übel ins Auge gehen. Es ging nicht nur um ihn, die gesamte Existenz des Unternehmens stand auf dem Spiel. Wenn die Öffentlichkeit erfuhr, was sich wirklich hinter den Spenden verbarg, müsse jeder mit drastischen Folgen rechnen. Gavriels Firma würde ein Wirtschaftstief erleben und sich wohlmöglich nie wieder davon erholen.

Zunächst hatte er von den bisherigen Akteuren ablenken wollen. Indem er an Alten- und Pflegeheime, also tatsächlich Bedürftige, Gelder verteilt hatte, hatte er das Augenmerk umlenken und somit weniger Achtsamkeit auf die Fake-Konten erzielen können. Sein Blick fiel auf die abschließbare Schublade, in der sich mittlerweile das Klapphandy befand. Schon mehrmals hatte er sich gefragt, ob wirklich er es finden sollte. Doch wer verlor schon so ein altes Ding, auf dem nichts anderes war als unzählige belastende Bilder von ihm und dem Nebenbetrieb Nano++? Und warum passierte sonst nichts? Normalerweise sammelte man Indizien, um jemanden zu erpressen. Doch abgesehen von dem Handy selbst, hatte man ihm im Laufe der Zeit lediglich eine kurze Nachricht mit den Worten „du wirst büßen“ aufs Handy gesendet. Die Nachricht wurde anonym über einen Internetanbieter verschickt und ließ sich dadurch nicht zurückverfolgen. Was sollte er damit anfangen?

Die Tage waren nur zäh vorübergegangen. In dieser Woche stand das nächste Meeting bevor und noch immer hatte Gavriel keinen Verdacht, wem das aus der Zeit gekommene Handy gehören könnte. Er wollte gerade den kleinen Pfad zu seiner Haustür entlanglaufen, da nahm er einen Schatten aus dem Augenwinkel wahr. Noch mehr heimlich geschossene Fotos von ihm würde er sicherlich nicht akzeptieren! Grimmig ballte er seine Hände zu Fäusten und trat mit schnellen langen Schritten zu dem Fleck, wo er glaubte, eine Person gesehen zu haben. Vor der Garage des Nachbarn erkannte er ein mageres Gesicht mit irren aufgerissenen Augen. Remiel Bernard.

„Erwischt!“, rief dieser und lachte. Noch bevor Gavriels Gehirn auch nur anfangen konnte, die Situation zu verarbeiten, redete Remiel weiter:

„Du bist ganz schön schlau! Erst dachte ich, ich mache etwas Gutes! Es hat sich auch wirklich wunderbar angefühlt: das Gefühl, beachtet zu werden. Die Nachrichten haben nur noch von mir geredet, kannst du das glauben? Aber wer hätte denn damit rechnen können, dass du plötzlich meine Oma umbringst?! Sie ist tot, Gott verdammt! Tot!“, brüllte er außer sich vor Wut. Er war unkontrolliert gestikulierend immer nähergekommen. Gavriel war instinktiv zurückgewichen, doch war er somit immer näher zur Hecke des Vorgartens getreten, sodass er mit jedem nächsten Schritt im Dornenbusch enden würde. Der Blick in Remiels Gesicht war beängstigend kalt, so einen Ausdruck hatte Gavriel noch nie zuvor gesehen. Ihm überkam ein Schauer. Fast schon spuckte Remiel, als er fortfuhr:

„Bevor ich dich getroffen hatte, war alles gut – jetzt ist alles nur noch scheiße! Wie kannst du es dir nur verzeihen, so viele Menschen umgebracht zu haben? Allen voran meine geliebte Großmutter?! Du sollst dafür büßen… Du sollst in der Hölle schmoren! Du sollst mindestens dasselbe Leid wie Oma erfahren! Keine Folter der Welt kann den Schmerz nachempfinden, den du ihr angerichtet hast. Du hast versagt!“ Gavriel verstand überhaupt nichts. Was faselte Remiel da? Er sollte doch nur die Journalistin beseitigen. Und in diesem Moment machte es klick. Remiel war derjenige gewesen, der ihm das Handy hinterlassen hatte. Er war der einzige gewesen, der Zugang zu den Nachforschungen der Journalistin hatte. Auch wenn er nicht verstand, warum Bernard ihm das Handy hatte zukommen lassen, war es dennoch beruhigend. Gavriel musste nun nämlich nicht mehr befürchten, dass Nano++ verraten würde. Davon abgesehen befand er sich jedoch in einer Lage, die alles andere als beruhigend war. Gavriel schluckte, während er die wutverzerrte Maske seines Gegenübers betrachtete. Ihm gefiel nicht, was Remiel mit „viele Menschen umgebracht“ andeutete. Was hatte er bloß angestellt? Hoffentlich nicht das, wonach es sich anhörte – obwohl die Chancen schlecht standen… Denn offensichtlich konnte der Wahnsinnige vor ihm nicht mehr differenzieren, was richtig und was falsch, was Realität und was Trug war. Wie sollte er aus dieser Situation nur heil wieder herauskommen?

4 thoughts on “Die Prüfung

  1. Hallo
    Danke für deine schöne Geschichte. Sie ist spannend und gut geschrieben.
    Kompliment.
    Ich habe sie gerne gelesen und kann mir sie auch als Film vorstellen.
    Man merkt, dass du lange am Plot, den Charakteren gearbeitet hast.
    Dein Stil zeigt, dass du über viel Erfahrung verfügst.

    Ich wünsche dir für deine Story alles Gute. Schreib weiter.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, dir auch mal meine Geschichte durchzulesen. Sie heißt: “Die silberne Katze”.
    Vielen Dank.

    1. Hallo LiMa,
      Ich mag deine Geschichte sehr gerne! Sie ist spannend, super geschrieben und man merkt, dass du dich mit den Themen, die du ansprichst, auseinandergesetzt hast.
      Obwohl es “nur” eine Kurzgeschichte ist, lernt man deine Charaktere sehr gut kennen, hierbei ist mir besonders Gavriel im Gedächtnis geblieben.
      Mein Like hast du definitiv und ich wünsche dir alles Gute für den weiteren Verlauf!
      LG Susu

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