elena22Mutterliebe

 

Heute war ein besonderer Tag. Die Sonne fiel stark auf die grünen Wiesen vor dem Eingang. Es hatte vor ein paar Stunden geregnet und die Sonnenstrahlen zerbrachen die Regentropfen tief im Gras. Thomas war früh wach. Die ganze Nacht hatte er kein Auge zu getan. Der heutige Tag kam jedes Jahr aufs Neue. Und jedes Jahr wachte er an dem Tag schweißgebadet auf. Es war ein Tag, das sein dunkles Loch immer weiter vergrößerte, das sich nun jetzt seit mehr als einem Jahr in seinem Körper ausbreitete. Er stand nun vor der Eingangstür und konnte sich nicht durchringen den Türgriff nach unten zu drücken. Er hatte keine Kraft und konnte sich jetzt schon kaum auf den Beinen halten, weshalb sie ihm als Stütze dienen musste. Er hatte sich schon oft gefragt, weshalb sie bei ihm blieb. Er fand keine Antwort darauf. Leute nannten es Liebe, und vielleicht war das Gottes Ausgleich für sein sonst leeres Dasein. „Es ist okay“, sagte sie in einem so leisen Ton, wie er es nur vorm Schlafengehen hörte. „Wir müssen das nicht tun“. Sie versuchte ihn zu beruhigen, doch sie schaffte es nicht. „Ich weiß“. Er musste nicht den Ort betreten, von dem er am meisten Angst hatte und gleichzeitig viel lieber hier sein würde als gefangen in seinem eigenen Körper. Unwissend. Voll mit Leere und Hoffnungslosigkeit. Er nahm ihre Hand und streichelte ihr über den Bauch. „Es muss sein. Für ihn. Und für dich.“ Sie nickte nur. Mit zitternden Händen öffnete er die Tür zu einem Ort, den er nie hätte betreten wollen, wäre da nicht sie und ihr kleines Wunder. „Wo sollen wir suchen“?, fragte er, ganz bestürzt über das, was er sah. So viele tote Körper. Genauso wie er. Der Unterschied war nur, dass er lebendig begraben worden war. Sie schaute sich um. „Es soll scheinbar nach Nachnamen sortiert sein. Nachnamen. Wie lächerlich. Als ob das hier noch wichtig wäre. „Hier, S wie Scheling. Komm.“ Sie nahm seine Hand. Scheling. Wie doch ein Name so viele Erinnerungen auslösen konnte und gleichzeitig einer Person Identität gibt. Außer man hat keine. Dann kann ein Name dich nicht mehr retten. Sie kamen an einen Stein, so klein, dass man ihn schon fast übersehen konnte. „Hier ist es.“ Jetzt stand er vor dem Stein der beiden Personen, zu denen er die höchste emotionale Verbindung spüren sollte. Doch für ihn waren sie nur Fremde. Fremde, dessen Fotos er zufällig kannte und dessen Namen er wusste. Er wurde ganz still. Sein Herz raste. Eine laute Stimme bannte sich ihren Weg zu seinem Unterbewusstsein. Du musst abhauen. Verlasse diesen Ort auf der Stelle. Du kennst diese Personen nicht. Du hast keinerlei Verbindung zu ihnen. Sie hielt seine Hand. Er hatte nicht das Bedürfnis wegzulaufen, eher noch wollte er einfach im Boden versinken. Er wollte weinen, schreien. Emotionen zeigen. Es geschah nichts. Er blieb still. „Ich will alleine sein“, äußerte er nach geraumer Zeit, die Sonne, schon hinter den Wolken verschwunden. „Okay.“ Sie klang verunsichert. Sollte sie ihn wirklich alleine lassen? Hier? Sie beschloss trotz aller Zweifel zu gehen. Vielleicht hilft es ja. Vielleicht. Ein Wort, das sie zu oft verwendete. Ein Wort, das in dieser gebrochenen Welt helfen würde. Zu schnell würde sie herausfinden das ein Vielleicht nichts heilt. Es verschlimmert nur noch. „Ich werde zu Hause auf dich warten.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und ging zurück Richtung Ausgang. Was mache ich hier nur? Niemand kann mir helfen. Auch nicht ihr. Er sah auf die Fotos. Er waren schwarz-weiß Fotographien aus den 80iger Jahren. Dieselben Fotos hatte er auch in der Kiste. Kiste der Erinnerungen. So hatte sie die Kiste genannt. Er fand den Namen nicht passend, weil es keine Erinnerungen für ihn waren. Es waren Momentaufnahmen aus seiner vergangenen Zeit, als er noch er war. Manchmal wollte er diese Momente rekonstruieren, wissen wer er eigentlich ist, doch heute wollte er nichts. Und er bekam nichts. Und seltsamer Weise kam er damit nicht zurecht. „Das ist ihr Vater, Harald, und ihr Mutter Helga.“ Er erinnerte sich noch genau an die Worte des Arztes. „Schauen Sie sich diese Bilder mal an. Meistens kommt die Erinnerung wieder. Eine wirklich starke Amnesie hat es in ihrer Lage noch nie gegeben.“ „Na, dann bin ich ja der Erste“, hatte er gesagt, und versucht dabei zu lächeln. Es gab in seiner Situation allerdings nichts was ihm Freude bereitete oder zumindest beruhigte. Es machte keinen Sinn. Es war hoffnungslos. Mona sagte immer, die Hoffnung dürfe man nie aufgeben. Doch manchmal gab man die Hoffnung nicht auf. Manchmal war die Hoffnung von Anfang an nicht da. Er schaute die Bilder nochmal an, drehte sich dann nach rechts und wollte den Friedhof verlassen, als er neben dem Grab etwas bemerkte. Komisch, dachte er. Was macht denn sowas hier? Ist es möglich sowas hier zu vergessen oder zu verlieren? Er hielt ein silbernes Handy in der Hand. Es schien ein älteres Model zu sein. Die Kratzer und die Splitter auf dem Display verstärkten den Gedanken. Es muss wohl jemand verloren haben, dachte er. Eine andere Möglichkeit kann es nicht geben. Er beschloss das Handy in der Kirche, nahe des Friedhofs, abzugeben. Dort gab es einen Bereich für gefundene Gegenstände. Er war schon fast am Ausgang, als das Handy in seiner Hand aufleuchtete. „Was zum…?“Er hatte doch gar nichts gedrückt. Das Display erleuchtete in einem satten Blau, und ehe er wusste was hier geschah, erschien eine Nachricht. In diesem Moment wusste er, warum er diesen Ort vermeiden wollte. Und warum es ab dem Moment nicht mehr anders ging. Getrieben von einer Mischung aus Neugier und Angst öffnete er die Nachricht. In schwarzer, dicker Schrift stand dort:

 

Es macht Angst, nicht wahr? Hier zu sein. Alleine. Ohne deine hübsche Freundin. Aber du wolltest es ja so. Jetzt weißt du wie es sich anfühlt? Kannst du dir jetzt vorstellen wie es mir geht? Wie es ihm geht?

 

Er hatte ein verrücktes Gefühl, das diese Nachricht an ihn gerichtet war. Doch warum? Konnte es wirklich sein? Es war wirklich verrückt. Und er wollte es nicht glauben. Kannst du dir vorstellen, wie es mir geht? Wie es ihm geht? Es ging ihm nicht aus dem Kopf. Sein Leben war ein Alptraum und das hier was der Höhepunkt. Er konnte das Handy nicht abgeben. Es war an ihn gerichtet. Im Nachhinein hätte er das Handy abgeben sollen. Nein, er hätte es zerstören sollen. Daran konnte er aber zu diesem Zeitpunkt nicht denken. Sein Kopf ratterte nur. Tausend Gedanken überschwemmten ihn und er konnten keinen klar fassen. Es war, als stünde er unter Strom und ein kleiner Drahtzieher hätte ein Feuer entfacht. Er dachte nicht mehr nach und steckte das Handy in seine Jackentasche und machte sich auf den Weg zurück, ohne das Wichtigste zurückzulassen. Er brauchte eine Stunde länger für den Nachhauseweg als sonst. Auf seinem Handy zeichneten sich schon sieben verpasste Anrufe von seiner Freundin ab. Er wollte nicht reden. Er konnte es nicht. Fast am Haus angekommen, kam sie schon von weitem auf ihn zugerannt. „Wo warst du? Ich war kurz davor die Polizei zu rufen.“ Sie war außer Atem und rote Augenringe zeichneten sich ab. Sie hatte geweint. Er wird psychische Probleme haben, haben die Ärzte gesagt. Doch er hatte keine. Er spürte keinen Schmerz. Der Schmerz traf sie. Mitten dort, wo es am meisten weh tat. „Ich war…unterwegs.“ Er versuchte sich von ihr zu lösen. Wie viele Lügen hatte er ihr im Laufe der Jahre schon aufgetischt? Er wollte nicht mehr lügen. Doch mit der Wahrheit würde er eine Lawine auslösen, die sie nicht hätte stemmen können. „Unterwegs? So lange? Ich kenn dich doch.“ Er hörte die Ungläubigkeit in ihrer Stimme. Sie kannte ihn. Mehr als er sich selbst. „Bitte…“ Sie konnte ihre Tränen kaum zurückhalten. „Erzähl mir was los ist.“ Ihre Sätze klangen so abgehackt. Bei jedem einzelnen Wort wurde sie ruhiger. Ich kann nicht. „Können wir bitte ins Haus gehen? Es ist kalt.“ Das war nicht gelogen. Die Sonne hatte sich verabschiedet, der Himmel war schwarz und klar und er spürte einen eisigen Wind, vom dem er nicht sicher war, ob er der einzige war, der ihn spürte. Sie nahm seine Hand und beide gingen rein ins Haus. Er setzte sich an den Küchentisch und sie machte ihm einen Tee. „Was hast du draußen gemacht“? Auf einen Schlag klang sie ganz bestimmt. Sie hatte genug von seinen Lügen. Sie wollte die Wahrheit. Wer die Wahrheit hören will, den sollte man vorher fragen, ob er sie ertragen kann. Sie konnte die Wahrheit nicht ertragen. Er konnte die Wahrheit nicht ertragen. Er sah sie an. Diese dunklen, grünen Augen hatte er vor fast 2 Jahren das erste Mal gesehen. Und sich sofort verliebt. „Es war… ein Junge.“ Er schaute sie nicht an. Der Tee in seiner Hand wurde langsam kalt. „Wie bitte? Was für ein Junge?“ Sie streichelte unbewusst ihren Bauch. „Ein Grab. Neben meinen Eltern. Ein kleiner Junge. Gestorben mit nur 10 Jahren.“ Er stockte. Sollte er es sagen?  Sollte er die Wörter aussprechen, vor denen er am meisten Angst hatte? „Am 6.Juni.“ Es wurde still. Man hörte nur leise die Tasse klimpern, als er sie zurück auf den Tisch stellte. Ihr Gesicht wurde weiß. Der Ort, wo er all die Jahre alles ablesen konnte, war nicht mehr da. Sie war leer. Genauso wie er. „Du weißt, dass das nichts zu bedeuten hat, oder? Das ist nur ein Tag.“ Da war es wieder. Nur. Wie konnte ein Mensch ein Wort nur so missbrauchen? Schließlich aber hatte sie Recht. Es war nur ein Tag. Es war nur eine Erinnerung. Es war nur sein Leben. Er stand auf. „Entschuldigung, ich habe das nicht so gemeint. Bitte, setz dich wieder.“ Er wollte nicht. Ein letztes Mal drehte er sich zu ihr um. „Ich dachte du verstehst mich besser. Aber das bin ja nur ich.“ Sie versuchte, ihn aufzuhalten, versuchte ihn zum Bleiben zu überreden, doch es war sinnlos. Mit Worten zerstörst und erreichst du alles. Sie hatte es zerstört. Er war schon längst in dem Arbeitszimmer, als sie immer einen Zettel schrieb und es unter der Tür durchschob. Sie wollte ihn nicht mehr stören. Das hatte sie schon genug getan. Sie verließ das Haus ganz leise. Er bekam davon nichts mit. Eine halbe Stunde später klingelte es. Er wollte die Tür nicht öffnen. Wollte mit niemandem sprechen. Als es bereits zum dritten Mal klingelte, hatte er keine andere Wahl. Er schaute durch den Spion und öffnete die Tür. Die Frau, die nun vor ihm stand, hatte er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen. „Guten Tag, Herr Scheling. Entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte ihnen einen Brief vorbeibringen. Er wurde in den falschen Briefkasten geworfen.“ Thomas hatte keine Lust auf fremde Personen. Er war kurz davor, die Tür vor ihrer Nase zuzuschlagen. „Wer sind sie?“ Er klang laut und streng. „Achso, Entschuldigung, wie dumm von mir, sie kennen bestimmt nicht alle in dieser Straße. Ich bin ihre…“ Er schnitt ihr das Wort ab. „Nachbarin.“ „Ja, genau.“ Sie versuchte zu lächeln, aber man merkte ihr ihre Anspannung an. Sie hielt ihm den Brief hin, aber er versteckte seine Hände tief in seine Hosentaschen. „Ich kenne alle Nachbarin.“ Es war, als würde er sie durchlöchern und mit jedem Wort schien es, als hätte er es fast geschafft. „Ich bin neu hinzugezogen.“ Ihre Stimme klang wieder sicherer. „Aha, und was wollen sie jetzt hier?“ „Ihr Brief.“ Sie hielt es ihm wieder hin. Er packte den Brief. „Auf Wiedersehen.“ Schon war die Tür wieder zu. Er begann zu schwitzen. Was war hier los? Erst das Handy und dann dieser Brief? Was wurde hier gespielt? Verlor er nach seinem Gedächtnis nun auch noch den Verstand? Nachbarin. Ich kenne alle Nachbarn hier. Das Haus der Meiers wurde doch nicht etwa schon verkauft, oder? Er hatte das Gefühl, nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden zu können. Seine Hand zitterte, als er versuchte den Brief zu öffnen. Er was an ihn adressiert. Natürlich. Wie auch sonst. Der Briefumschlag war sauber. Keine Spuren von Flecken oder anderen Schmierereien. Als ob er eben erst geschrieben wurde. Komisch, Din A3 Papier. Das konnte kein gewöhnlicher Brief sein. Was auf dem Papier stand war auch alles andere als gewöhnlich.

 

Nun, da du jetzt das Handy hast, gibt es hier einen weitern Hinweis. Erinnerst du dich? Erinnerst du dich, Tommy ?

 

Er konnte sich nicht erinnern, jemals Tommy genannt worden zu sein. War das sein Spitzname? Woher kannte der Unbekannte so ein privates Detail von ihm? Er wollte den Zettel mit dem Briefumschlag aus der Hand legen, als er etwas dünnes in dem Umschlag spürte. Es war ein Foto. Ein Foto von einem Jungen. Ich kenn diesen Jungen. Nur woher? Die Wahrheit lag im Bild. Die Grübchen. Irgendwo hatte er sie schon mal gesehen. Der Friedhof. Konnte das sein? War das der Junge vom Grabmal? Er schaute sich noch einmal das Foto an. Das konnte nicht sein. Das war der Junge vom Grabmal. Gedanken verloren merkte er nicht, wie das Handy in seiner Jackentasche vibrierte. Sein Blick wurde starr. Langsam nahm er das Handy aus der Tasche. Sie haben eine neue Nachricht. Er klickte auf den Briefumschlag. Was er sah, machte ihm mehr Angst als all diese Nachrichten und das Foto zusammen. Die Fotos zeigten ihn in seinem Arbeitszimmer. Ihn am Küchentisch. Ihn draußen vorm Haus. Ihn im Bett mit seiner Freundin. Hat die Person es jetzt nicht nur auf ihn, sondern auch auf seine zukünftige Familie abgesehen? Ängstlich schaute er umher. War er die ganze Zeit nicht alleine? Wurde er die ganze Zeit beobachtet wurde. Wurde er in diesem Moment beobachtet? Ihm wurde schwindelig und er bekam schwer Lust. Er stand auf, um sich ein Glass Wasser zu holen. Lange hielt er sich nicht auf den Beinen und fiel zu Boden. Er war langsam zu viel. Er hatte keine Kraft mehr. Wer beschattete ihn? Und noch viel wichtiger, warum? Er hatte doch schon alles verloren. Seine Freundin, sein Leben, sich selbst. Er wollte nur noch sterben. Plötzlich vibrierte das Handy wieder. Neue Nachricht.

 

Komm zur Gustav-Böller Straße. Ich habe eine Überraschung für dich.

 

PS: Sie wird dich umhauen.

 

Thomas hätte lieber gucken sollen, was man unter dieser Adresse alles fand. Sie kam ihm nicht bekannt vor, noch nie hatte er davon gehört. Jetzt muss ich noch zu einem Ort. Als ob es nicht schon genug wäre. Aber genau das war es, genug. Er wurde anscheinend von jemandem gestalkt, der ihn mit einem kleinen Jungen in Verbindung brachte. Er konnte jetzt nicht aufhören. Es stand kurz davor, die Wahrheit zu erfahren.

 

Als er ankam, was es kurz nach Ein Uhr nachts. Er hatte Mona eine Nachricht hinterlassen, dass er im Hotel schlafen würde. Sie solle nach Hause kommen, dem Baby würde es sonst schaden. Mir schadet es jedoch am meisten, weil ich dich brauche. Das hatte er natürlich nicht geschrieben. Sie wollte das nicht lesen. Sie wollte eine Entschuldigung. Er hatte sehr emotional darauf reagiert. Es war nicht böse gemeint von ihr. Doch böse oder nicht, die Intention dahinter war allemal dieselbe. Sie wollte ihn schützen. Leider wurde er zu oft „beschützt“. Es half alles nichts. Lieber wollte er qualvoll mit der Wahrheit sterben, als mit der Illusion zu leben, dass man ihm noch helfen könnte. Die Gustav-Böller Straße war leer. Zu Recht. Es war kein Freitagabend und das war nicht Berlin. Er mochte es hier von Anfang an, als er wegen Mona hierherzog. Er wusste ja nicht, wo er davor gewohnt hatte und es war ihm auch egal. Er fühlte sich wohl. Gerade wollte er sich allerdings einfach nur in Luft auflösen. Er war alleine, in einer fremden Straße, mit einem fremden Handy und war offenbar Minuten davon entfernt, die Wahrheit zu erfahren. Die Straße bewohnten nicht viele Leute und Thomas war sich sicher, dass er nicht nach einem Haus Ausschau halten musste. Er war etwas Größeres. Angsteinflößendes. Etwas, was seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen sollte. Es kniff die Augen zusammen, um das Schild zu lesen, was ein paar Meter vor ihm grell aufleuchtete:

 

Jugendamt, Böller Allee. Geschlossen.

 

Jugendamt? Was sollte er hier? Ging es um den kleinen Jungen? Was hat er damit zu tun?

 

Das Handy vibrierte.

 

Na, erkennst du es wieder? Das muss dir doch vertraut sein, oder?

 

Er hörte eine Stimme hinter sich und sah in vertraute Augen. „Sie sind doch die Nachbarin. Sie haben mir diesen abscheulichen Brief gebracht? Was wollen sie von mir? Wer ist der Junge? Die Frau lachte. „Das es dir immer noch nicht einfällt. Unglaublich. Aber wer würde sich schon selbst gerne als Mörder betrachten?“ Mörder. Dieses Wort hallte in seinem Kopf, bis er das Gefühl hatte, Echos in seiner Umgebung wahrzunehmen. „Ich hatte dich hübscher in Erinnerung gehabt. Aber das machen schlechte Taten nun mal. Sie zeigen das wahre Gesicht eines Menschen.“ Die Frau ging immer weiter auf ihn zu und er blieb stillstehen. Er war wie angewurzelt. „Wovon reden sie? Ich kenne sie nicht.“ „Ich weiß. Gedächtnisverlust. Schädel-Hirn-Trauma. Wie ich die Ärzte anbetteln musste, damit sie Informationen rausrücken. Du kannst gut schauspielern. Was ist mit ihm? Erkennst du ihn? Hast du ihn erkannt auf dem Friedhof? Wie mitgenommen du gewirkt hat. Wie einfühlsam. Gestorben mit 10 Jahren. Denkst du, deine Freundin hat es dir abgekauft, dein billiges Mitleid? Denkst du sie will dich? Denkst du, du wärst ein guter Vater? Noch mal ein Sohn. Ironie des Schicksals, was?“ Du kannst den Tod an Paul nicht wieder gut machen. Nie. Paul. Alles in seinem Kopf begann sich zu drehen. Paul. Jugendamt. Autounfall. Amnesie. Laura. „Laura, bist du das?“ Er machte einen Schritt auf sie zu. „Gut erkannt. Das Schauspiel hat ein Ende für dich. Ich weiß was du getan hast. Sie alle wissen es.“ Sie sah aus, als wäre sie von einem Dämon besessen. Erinnerungsstück für Erinnerungsstück kam alles wieder. Alles auf einmal. „Sie ist verrückt. Sie wird für deinen Sohn die Hölle werden, so wie sie es für dich ist.“ Die Stimmen seiner Eltern wurden so deutlich, dass er das Gefühl bekam, gleich selber durchzudrehen.

 

 

 

„Papa, wo fahren wir hin?“ „In ein Abenteuer. Es wird dir gefallen.“ „Ich habe schon alles…“ Boom. Zersplitterte Fensterscheiben. Blut. Notruf. Tod.

 

„Es tut mir leid.“ Mehr konnte er nicht sagen.

 

Sie kochte vor Wut. Jede Ader in ihrem Körper stand ab. Sie war besessen. Von Rache. Von Vergeltung. Doch Thomas sah noch etwas anderes. Tief in ihrem Gesicht verbarg sich alles, was er jetzt seit fast 2 Jahren spürte. Wut. Trauer. Hoffnungslosigkeit. Leere. „Du hast meinen Sohn ermordet. Du hast mich ermordet. Und jetzt sieh an, deine Schlampe bekommt einen Sohn. Ist es nicht schön eine zweite Chance zu bekommen? Macht es dich geil, dass du deinen Fehler wiedergutmachen kannst? Erzähl mir nicht, dass es dir leid tut, was mit meinem Sohn passiert ist. Du hast ihn vergessen, nicht wahr? Seinen ersten Schultag, seine erste 1 in einer Arbeit, seinen Herzschlag. All das hast du vergessen. Und jetzt werde ich dich für immer vergessen.“ Es passierte schnell. Alles, was er sah war ein silbernes Messer in ihrer Hand. Alles, an was er denken konnte, war das Handy. Das zersplitterte, alte, silberne Handy.

 

 

 

Fünf Wochen später

 

„Herzlichen Glückwunsch, Frau Herzling. Sie haben die Geburt gut überstanden und ihrem Kleinen geht es auch hervorragend.“ Mona war überglücklich. Ihr Sohn war auf der Welt. Er war gesund. Alles war gut. Nein, das war gelogen. Alles würde gut werden. Sie dachte an Thomas. Ich kann dir das nicht erklären. Du bist besser dran ohne mich. Das war seine letzte Nachricht. Sie hat ihn versucht zu erreichen, aber ohne Erfolg. Vielleicht war das auch besser so. Für Sie. Vielleicht auch für Juno. Sie schaute ihm tief in seine dunklen, braunen Augen. Hoffentlich hast du nur das gute von deinem Vater geerbt. In Gedanken versunken öffnete sich plötzlich die Tür zum Krankenhauszimmer. „Entschuldigen Sie bitte.“ Die Krankenschwester schaute auf das Klappbrett. „Frau Herzling , herzlichen Glückwunsch zur Geburt ihres ersten Kindes. Ich müsste ihn mal kurz einer Untersuchung unterziehen. Es dauert nicht lange.“ Mona war verunsichert. Sie hatte Juno doch erst für ein paar Minuten bei sich. „Stimmt irgendetwas nicht? Der Arzt hat gesagt es ist alles gut.“ Die Krankenschwester lächelte. „Es ist nur eine Routineuntersuchung. Machen sie sich keine Sorgen.“ „Okay. Ich vertraue ihnen. Er ist mein ein und alles.“ „Das weiß ich.“ Mona schaute auf ihr Namensschild. „Frau Meier… Danke. Halten sie mich nicht zu lange von ihm fern.“ „Das werde ich nicht, versprochen“, sagte sie und verließ das Krankenhaus als eine neue Frau. „Jetzt bist du endlich wieder bei mir“, sagte sie, als sie das Kind hinten auf den Kindersitz setzte. „Ich werde dich nie mehr hergeben, mein Paulchen.“ Vor ihrer Abfahrt schmiss sie nur noch den Notizblock weg, auf dem sie die Nachricht für die Schlampe geschrieben hatte. Das brauche ich jetzt nicht mehr. Ihr Lachen übertönte den Motor des Wagens.

 

 

 

9 thoughts on “Mutterliebe

  1. Die Geschichte ist wirklich toll. Allerdings war ich am Ende dann doch etwas verwirrt. Liegt zwischen der Geburt und dem Tod von Thomas Tage, Wochen? Wurde seine Leiche nicht gefunden?
    Bis auf diese Unklarheiten gefällt mir deine Idee und auch das Ende.
    Ich wünsche dir weiterhin viel Spaß und Erfolg beim Schreiben 🙂

      1. Hallo Elena

        Deine Geschichte ist dir super gelungen.
        Ich habe sie gerne gelesen und wollte unbedingt direkt wissen, wie sie endet.

        Du hast einen sehr natürlichen und angenehm zu lesenden Schreibstil.

        Insgesamt war die Grundidee der Story cool, die Handlung ordentlich und nachvollziehbar, die Protagonisten klar und toll angelegt, die Dialoge realistisch und das Finale einfach nur super.
        So mag ich Kurzgeschichtenenden.

        Du kannst sehr stolz auf dich und auf deine Geschichten sein.
        Man spürt, wie sehr du dich in deine Thematik vertieft hast.
        Das überträgt sich direkt auf den Leser.

        Ich wünsche dir und deiner Geschichte noch viele begeisterte Leserinnen und Leser… und natürlich noch viel mehr Likes und Herzchen.

        Mein Like hast du natürlich sicher.

        Ganz liebe Grüße und schreib weiter.
        Denn dann wirst du noch viele tolle Geschichten verfassen.

        Pass auf dich auf.
        Swen Artmann (Artsneurosia)

        Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
        Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen.

        Meine Geschichte heißt:

        “Die silberne Katze”

        Vielen Dank.
        Swen

  2. Hallo Elena!
    Deine Geschichte fand ich toll – es dauerte zwar ein kurzes Weilchen bis ich
    “drin” war, aber dann lies es sich gut lesen!
    Mein Herz hast du!
    Wenn du magst, kannst du ja mal einen Blick auf meine Geschichte “Die Rache” werfen!
    LG, Iris

  3. Hallo Elena,
    eine tolle Geschichte hast du da geschrieben!
    Du hast einen total eigenen Schreibstil, das hebt Dich von vielen anderen hier ab – Klasse!
    Ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen, sie hat mich gefesselt. Du hast einen tollen Plot und ein Spitzenende hinbekommen! Großes Kompliment.

    Mein Like hast Du!

    LG,
    der schweenie

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen und ein kleines Feedback da zu lassen …
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/glasauge

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