Rika MohnVerloren gegangen

 

Verloren gegangen

 

Grobe Finger an großen Händen schließen sich fest um seinen Hals. Kurz bevor er denkt ersticken zu müssen, lockert sich die tödliche Klammer.

Der Griff löst sich von seinem Hals, nur um sich kurz darauf um seine schmalen Hüften zu klammern. Im gleichen Moment wird er auf den Bauch geworfen.

Die Schmerzen, die sich in seinen Unterleib hineinfressen, als der Mann tief in ihn hineindringt, lassen ihn aufbrüllen.

Und aufwachen…

 

Schweiß bedeckte den Körper, der noch immer zitterte.

Die Träne, die sich aus dem Augenwinkel löste, wurde wütend fortgewischt.

„Es war nur ein Traum. Nur ein beschissener Traum.“

Das kleine Nachtlicht schaffte mehr Schatten als Licht. Und doch war es in Momenten wie diesen der einzige Trost, den die gequälte Seele brauchte, um wieder zur Ruhe zu kommen.

***

 

Mittwoch, 21 Uhr

Mit schnellen Schritten schob Katrin den Rollstuhl Richtung Haustür. Es war schon spät und Julia war eingeschlafen. Es würde wieder anstrengend werden, die Zwanzigjährige ins Bett zu bringen. Wenn Julia so müde war, konnte sie weniger aktiv helfen. Katrin seufzte innerlich. Das hatte sie nun davon, dass sie sich und Julia einen Ausflug in ihr Lieblingslokal gegönnt hatte. Als Katrin an das leckere Essen dachte und wie gut es ihnen beiden gegangen war, musste sie lächeln. Doch, es war die richtige Entscheidung gewesen, nach langer Zeit mal wieder auszugehen.

 

Katrin wollte gerade die Wohnungstür aufschließen, als sie das Handy entdeckte, das auf Fußmatte lag. Verwundert bückte sie sich und hob es auf. Es war ein altes Modell. Wie kam das Ding dahin? Hatte das einer der anderen Mieter aus dem Haus verloren?

„Mama?“, hörte Katrin ihre Tochter rufen. Sie stand noch immer am Ende der kleinen Rampe, die von der Haustür hinaufführte.

Katrin drehte sich um und schaute Julia in die müden Augen.

„Warum gehst du nicht rein?“, fragte ihre Tochter.

„Gleich, mein Liebes“, antwortete Katrin. „Ich habe ein Handy gefunden. Muss wohl jemand verloren haben. Ich kümmere mich später darum.“

Sie steckte das Handy in ihre Hosentasche und schloss die Tür auf.

 

Eine Stunde später saß Katrin am Esstisch und hielt das Handy zwischen ihren Fingern. Sie drehte es hin und her und überlegte, was sie tun sollte. Sie könnte einen Zettel ins Haus hängen, mit der Information, dass sie das Handy gefunden hatte.

Vielleicht hatte der Besitzer ja ein Foto von sich oder seines Partners auf dem Display, überlegte sie. Bei ihr war es Julia, die sie von ihrem Display anlächelte. Warum sollten es andere nicht auch so halten? Der Knopf an der Seite war schnell gefunden und gedrückt.

Es gab tatsächlich eine Person auf dem Display, die Katrin anlächelte.

Das war sie selbst.

***

 

Wie lange brauchst du denn noch, bis du das Handy anmachst?

Der lauernde Blick hing gebannt an der Frau, die im Licht der Küchenlampe gut zu erkennen war. Das nervöse Kribbeln im Inneren wurde immer heftiger.

Mach das verdammte Ding an!

Endlich!

Zufrieden registrierte der heimliche Beobachter, wie die Frau am Tisch zusammenzuckte und geschockt das Bild betrachtete, welches ihr entgegenlächelte.

***

 

Donnerstag, 6 Uhr

Die Nacht war schrecklich gewesen. Katrin fühlte sich wie gerädert.

Es hatte eine Weile gedauert, bis sie den Anblick ihres Bildes auf dem fremden Handy einigermaßen verdaut hatte. Schnell hatte sie festgestellt, dass das Handy nicht gesichert war.

Auf dem Bildschirm gab es nicht viele Icons. Direkt in der Mitte befand sich das für die Galerie. Katrin tippte es an und es öffnete sich ein Ordner. Sie konnte nicht fassen, was sie zu sehen bekam.

Die Bilder zeigten sie.

Immer wieder sie, ob unterwegs oder zu Hause im Wohnzimmer, in der Küche, im Garten, überall dort, wo man vom Fenster oder der Straße aus ein Foto machen konnte. Ab und zu war Julia mit auf einem Bild. Aber es war eindeutig, dass der Fotograf es auf Katrin abgesehen hatte.

Es war gegen zwei Uhr morgens gewesen, als Katrin völlig übermüdet ins Bett gefallen war. Doch kaum war sie eingeschlafen, schrak sie auf, geweckt von Albträumen, die sich alle um die Fotos drehten.

 

Jetzt saß sie wieder am Esstisch, eine Tasse Kaffee vor sich und das Handy im Blick.

Katrin war froh, dass Julia noch schlief. Die musste nicht wissen, was ihrer Mutter noch zusätzlich den Schlaf kostete.

Denn seit Julias Unfall verging kaum eine Nacht, in der Katrin nicht weinend aufwachte. Immer drehte es sich dabei um Julia. Dabei ging es ihnen doch gut.

Vor dem Unfall…

 

Der Unfall war inzwischen über ein Jahr her.

Julia war mit dem Rad unterwegs gewesen. Ein Auto hatte sie gerammt und sie von ihrem Fahrrad gefegt. Der Fahrer beging Fahrerflucht und war bis zum heutigen Tag nicht gefunden.

Nur langsam gelang es damals Julia sich mit ihrer neuen Situation abzufinden. Obwohl Katrin alles ihr Mögliche tat, ihrer Tochter das Leben im Rollstuhl so lebenswert zu gestalten, wie es ihr möglich war. Katrin hatte selbst große Probleme damit, ihre Tochter beinahe hilflos im Rollstuhl sitzen zu sehen. Und da sie keine Pflegehilfe annehmen wollte, kam sie an manchen Tagen schnell an ihre Grenzen – körperlich und seelisch.

Und jetzt diese verfluchten Bilder.

***

 

Donnerstag, 15 Uhr

Als es läutete, ging Katrin erleichtert zur Wohnungstür.

Julias Freundin Lisa hatte sich angekündigt. Sie war inzwischen die einzige Freundin, die noch Kontakt zu Julia hielt. Die anderen „Freundinnen“ waren nach dem Unfall immer seltener zu Besuch gekommen, bis sie ganz wegblieben. Nur Lisa kam fast täglich. Sie unterstützte Katrin, die inzwischen selbst kaum noch Kraft hatte, sich um alles zu kümmern.

Das Lächeln war herzlich, das Katrin von Lisa entgegenkam, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. Doch es verschwand schnell.

„Ist was mit Julia?“, fragte Lisa mit besorgter Stimme und nahm Katrin zur Begrüßung kurz in die Arme.

„Nein, zum Glück nicht“, antwortete Katrin schnell. „Komm rein, ich zeig‘s dir.“ Ohne ein weiteres Wort drehte sich Katrin um und ging Richtung Wohnzimmer voraus.

Dort wartete bereits Julia in ihrem Rollstuhl auf die Besucherin.

„Hi“, begrüßte Lisa die Freundin und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Deren Augen lächelten schon bevor es der Mund tat. Die beiden unterhielten sich eine Weile. Leider wurde Julia wieder sehr schnell müde. Das kannte Lisa schon. Sie gönnte Julia die Pause und ging zu Katrin, die schon auf sie wartete.

 

„Erzähl, was ist los“, forderte Lisa Katrin auf. Die hatte nur darauf gewartet.

„Das habe ich vor unserer Tür gefunden“, sagte Katrin und zeigte mit zitternder Hand auf das Handy. „Ich wollte nachsehen, ob man es jemanden aus der Nachbarschaft zuordnen kann.“

„Und?“, fragte Lisa.

„Sieh selbst“, wurde sie von Katrin aufgefordert.

Lisa zuckte mit den Schultern und griff nach dem Handy. Kaum hatte sie den Bildschirm aktiviert verstand sie, was Katrin meinte.

Denn niemand anderes als Katrin lächelte ihr von dem Telefon entgegen.

„Das bist du“, stellte Lisa unnötigerweise fest.

„Ja, das bin ich“, erwiderte Katrin mit zitternder Stimme. „Es gibt noch mehr Bilder.“

Während Lisa sich die Bilder anschaute, hörte sie das Schniefen als Katrin wieder anfing zu weinen.

„Wer macht sowas? Warum?“, fragte Katrin ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.

Lisa schüttelte den Kopf und schaute Katrin an.

„Warst du bei der Polizei?“, fragte Lisa.

„Nein!“, wehrte Katrin sofort ab. „Was soll ich da? Denkst du, die machen was? Sind doch nur ein paar Bilder für die. Es ist doch nichts passiert.“

Lisa nickte und ging die Anruflisten durch. Alles leer und die Kontakte, die es gab, waren die üblichen, die bei jedem neu gekauften Handy drinstanden.

„Hast du eine Idee, wer das gewesen sein könnte?“, fragte Lisa Katrin.

Die schüttelte nur mit dem Kopf.

„Keine Ahnung. Sind wir nicht schon genug gestraft?“ Katrins Blick ging zu Julia, die mit geschlossenen Augen dasaß.

Lisa nahm das Handy wieder an sich, dass sie inzwischen auf den Tisch gelegt hatte. Katrin beobachtete sie dabei.

„Was machst du?“, fragte sie.

„Ich sehe mir die Details der Bilder an“, antwortete die junge Frau. „Die Fotos sind scheinbar nicht bearbeitet. Bei jedem kann man das Aufnahmedatum sehen. Gibst du mir bitte Zettel und Stift?“

„Was willst du damit?“, fragte Katrin.

„Ich will die Daten aufschreiben, wann die Bilder gemacht wurden. Vielleicht erinnerst du dich an den einen oder anderen Tag.“

Katrin war sich zwar nicht sicher, ob das was nützte. Aber alles war besser, als nur rumzusitzen und sich den Kopf zu zerbrechen. Also stand sie auf und holte das Gewünschte.

„Schau mal“, sagte Lisa und zeigte wenige Minuten später auf ihre Auflistung. „Die Bilder sind alle in den letzten zehn Monaten aufgenommen worden. In jedem Monat eins.“ Lisa warf einen kurzen Blick zu der Liste. „Was hast du zum Beispiel vor zwei Wochen am Mittwochvormittag gemacht?“

Katrin schüttelte den Kopf. Ihr Hirn schien sich im luftleeren Raum aufgelöst zu haben.

„Denk nach!“, wurde sie von Lisa aufgefordert.

„Ich kann nicht. Lass mir ein wenig Zeit“, bat Katrin erschöpft.

„Okay“, gab Lisa nach. „Pass auf. Ich gehe mit Julia eine Runde. Du legst dich hin und ruhst dich aus. Wenn wir wieder zurück sind, gehen wir die Liste durch.“

„Ich danke dir, Liebes. Wenn ich dich nicht hätte, ich wüsste nicht…“

„Klar, schon gut“, unterbrach Lisa Katrin.

***

 

20.45 Uhr

Die Dunkelheit hatte sich wie ein heimlicher Dieb in das Zimmer geschlichen.

Katrin lag noch immer auf dem Sofa und schrak hoch, als sie feststellte, wie spät es bereits war.

Sofort schnellte ihr Blick zu dem Platz, wo Julia normalerweise mit ihrem Rollstuhl stand. Doch der Platz war leer.

Katrin fiel ein, dass Lisa mit Julia nach draußen gegangen war. Sie schaute auf die Wanduhr und erschrak ein zweites Mal. So spät!

Schnell stand sie auf, zu schnell. Schwindel erfasste sie und hätte sie beinahe wieder auf das Sofa zurückgeworfen.

Als der Schwindel vorbei war, lief sie mit schnellen Schritten in Julias Zimmer. Sie hoffte, dass die beiden sie nur schlafen lassen wollten und sich deshalb leise ins andere Zimmer geschlichen hatten. Katrins Hoffnung zerbrach, als sie niemanden in Julias Zimmer entdeckte.

Mit klopfendem Herzen rannte sie förmlich ins Wohnzimmer, wo auf dem Couchtisch ihr Handy lag. Vielleicht hatte sie einen Anruf verpasst, weil sie zu fest geschlafen hatte? Doch auch diese Hoffnung wurde zerstört, als sie sah, dass sie weder einen verpassten Anruf hatte und auch keine SMS oder WhatsApp Nachricht von Lisa. Kurzentschlossen wählte sie Lisas Nummer. Nach dem dritten Klingeln sprang die Mailbox an. Als sie ihr eine Nachricht per WhatsApp schickte, stellte sie fest, dass die Nachricht zwar hinausgegangen war, aber Lisa sie nicht empfangen hatte. Scheinbar hatte sie das Handy aus.

Aufgebracht und gleichzeitig verängstigt lief Katrin in der Wohnung von einem Zimmer ins andere und schaltete überall das Licht ein. Dabei überlegte sie, was sie tun sollte. Die Polizei anrufen? Das war Quatsch, schließlich waren das zwei erwachsene Frauen, die gerade mal ein paar Stunden außer Haus waren. Als ihr Blick zum Esstisch fiel und sie das Telefon dort liegen sah, klopfte ihr Herz ein paar Schläge heftiger.

Was, wenn der, der die Bilder gemacht hat, sich die beiden geschnappt hatte?

„Nein, nein, nein, nein …“ Wie ein Mantra kam das Wort aus ihrem Mund.

Vielleicht waren sie nur bei der Nachbarin? Die kam ab und zu mal auf ein Schwätzchen rüber.

Neue Hoffnung durchströmte Katrin, als sie zur Wohnungstür eilte und diese öffnete.

Sie lauschte in Richtung Haustür. Von dort waren Stimmen zu hören.

 

„Meinst du…meine Mu…Mutter ist sauer?“, fragte Julia gerade.

„Da bin ich mir sogar ziemlich sicher“, kicherte Lisa zur Antwort und steckte Julia damit an.

Katrin atmete erleichtert auf. Sie wartete in der offenen Wohnungstür.

„Wo. Wart. Ihr?“, fragte Katrin zornig, noch bevor die beiden zur Tür herein waren.

„So…orry Mum. Wir ha…haben die Zeit ver…gessen“, entschuldigte sich Julia.

„Und dein Telefon gleich mit?“, zischte Katrin Lisa an. „Warum hast du nicht wenigstens angerufen?“, warf sie der jungen Frau vor.

„Tut mir echt leid, Katrin. Mein Akku ist alle“, erwiderte Lisa. „Dürfen wir bitte erst einmal reinkommen? Ich muss auf Toi…“

 

Eine Stunde später lag Julia im Bett. Für sie war es ein anstrengender aber auch schöner Tag gewesen.

Katrin hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Als sie erfuhr, dass die beiden alte Freundinnen getroffen hatten, mit denen sie in ein Gartenlokal gegangen sind, freute sie sich für ihre Tochter. Vielleicht kam die eine oder andere doch mal wieder auf einen kleinen Plausch vorbei.

Lisa fragte noch einmal nach den Bildern auf dem Handy, was Katrin sofort die relativ gute Laune verdarb. Sie wollte heute nichts mehr davon wissen. Also verabschiedete sich Lisa bis zum nächsten Tag und ging.

***

 

 

Freitag, 0,52 Uhr

Obwohl es schon so spät war, brannte in der Küche noch Licht.

Der eiskalte Blick ließ die Frau am Tisch nicht aus den Augen. Auch nicht, als die Nummer des Handys gewählt wurde.

Ein Lachen klang dumpf unter dem schwarzen Tuch hervor, welches das Gesicht bedeckte, als das erste Läuten Katrin zusammenfahren ließ. Jede ihrer Bewegungen war deutlich zu erkennen, so auch die Hand, die über dem Telefon schwebte. Erst beim fünften Läuten nahm sie das Gespräch zögerlich an.

„Ich vermisse dich!“

Mehr ein Hauch als ein Flüstern der drei Worte.

Ein zufriedenes Grinsen überzog das Gesicht. Ziel erreicht. Die Frau heulte sicher wieder die ganze Nacht. Dabei ahnte sie noch nicht einmal, dass das noch nicht alles war.

Schritt zwei war getan.

Der Nächste würde bald folgen.

Doch vorher musste die nächste Nacht überstanden sein.

So wie die unzähligen Nächte davor.

Mit den schrecklichen Träumen aus den Erinnerungen der Vergangenheit.

***

 

 

Freitag, 12.45 Uhr

Katrin saß am Esstisch und wartete auf Lisa. Sie hatte wieder eine miese Nacht hinter sich. Der nächtliche Anruf hatte sie komplett aus der Bahn geworfen.

Trotzdem wollte sie den Termin beim Friseur wahrnehmen. Die Ablenkung würde ihr guttun.

Normalerweise war Lisa zuverlässig. Sie wusste, wie wichtig Katrin die Termine außer Haus waren, seit Julia im Rollstuhl saß.

Endlich das Läuten der Türklingel. Schnell stand sie auf, um Lisa hereinzulassen.

Doch nicht Lisa stand vor der Tür, sondern der Postbote. Lächelnd hielt er ihr das kleine Päckchen hin.

„Für mich?“, fragte Katrin.

„Ja, Frau Lose, heute einmal für Sie.“ Der Postbote lächelte noch ein Stück freundlicher. Oft nahm Katrin Pakete für die Nachbarin an, wenn die unterwegs war. Schnell war der Empfang quittiert und Katrin wieder allein. Sie suchte nach dem Absender, konnte aber mit dem Namen Renè Müller nichts anfangen. Sie ging nach drinnen und schüttelte das Päckchen vorsichtig. Nur leises Geraschel war zu hören.

Julia schaute ihr erwartungsvoll entgegen. Sie war mit ihrem Rollstuhl ein Stück in den Flur hineingefahren.

„War das ni…nicht Lisa?“, fragte sie enttäuscht.

„Nein, mein Schatz. Dafür habe ich ein Überraschungspaket bekommen. Es wird trotzdem langsam Zeit, dass Lisa kommt.“ Ungeduldig warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Da klingelte es zum zweiten Mal.

Mit dem Päckchen in der Hand drehte sie sich um und öffnete erneut die Tür.

„Endlich.“ Die pure Erleichterung war aus dem Wort herauszuhören.

„Entschuldige bitte. Es kam mir was dazwischen“, Lisa machte einen geknickten Eindruck.

„Nicht so schlimm“, beschwichtigte Katrin sie. „Ich kann es noch pünktlich zum Friseur schaffen.“ Sie schaute auf ihre Hand, in der sie noch immer das Päckchen hielt. Ganz so, als wüsste sie nicht, was sie damit tun sollte.

„Was ist das?“, fragte Lisa.

„Hab ich gerade bekommen“, antwortete Katrin fahrig und sah sich nach ihrer Handtasche um.

„Gib es mir, ich stell es weg. Oder du nimm es mit. Beim Friseur hast du genug Zeit reinzuschauen“, schlug Lisa vor.

„Gute Idee.“

„Na dann“, Lisa klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. „Mach, dass du loskommst.“

„Danke.“ Katrin wollte Lisa nichts von dem Anruf sagen. Die würde ihr wahrscheinlich raten, doch zur Polizei zu gehen. Das wollte sie aber nicht.

Noch einmal winkte Katrin ihrer Tochter mit Kusshand zu, dann war sie aus der Tür.

***

 

13.30 Uhr

Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich hasse!

Du hast mir alles genommen.

Fühl dich ja nicht zu sicher, denn das bist du nicht.

Unfälle passieren immer wieder.

Der eiskalte Blick verließ den Spiegel, der das verhasste Gesicht zeigte.

***

 

14 Uhr

Katrin genoss die Kopfmassage. Leider war die viel zu schnell vorbei.

„Alles in Ordnung?“, fragte Hanna, ihre Friseurin, nachdem sie die Hände gelöst hatte.

„Ja danke, es war herrlich.“

„Magst du ein Glas Sekt?“

„Natürlich“, Katrin lachte. „Das gehört doch dazu. Oder? Wenn schon verwöhnen, dann richtig.“ Katrin kam schon viele Jahre in den Salon, um sich die Haare machen zu lassen. Sie hatte sich inzwischen ein wenig mit der Chefin angefreundet.

Nachdem ihre Haare eingefärbt und eingepackt waren, nahm sie ihren Sekt und setzte sich in die gemütliche Sitzgruppe. Jetzt musste sie eine halbe Stunde warten.

Während die andere Kundin ihre Wickel aus den Haaren bekam, holte Katrin das Päckchen aus ihrer Tasche.

Noch einmal las sie den Namen des Absenders doch auch jetzt sagte der ihr nichts.

Zum Glück war das Päckchen in Papier eingewickelt, das sie ziemlich leicht aufreißen konnte. Das Geräusch ließ Hanna und deren Kundin kurz in ihre Richtung blicken.

Katrin ignorierte die Blicke und machte sich daran, den Pappkarton zu öffnen, der unter dem Papier zum Vorschein kam.

Nachdem sie den geöffnet hatte, fand sie ein kleines Fotoalbum. Plötzlich schlug ihr Herz schneller. War der Absender vielleicht der gleiche Typ, von dem sie das Handy mit den Bildern und dem nächtlichen Anruf bekommen hatte?

Mit zitternden Fingern nahm sie das Album heraus und stellte den Karton auf den Tisch. Dann lag das Fotoalbum auf ihrem Schoß, der von dem Umhang bedeckt war. Vorsichtig schlug Katrin die erste Seite auf und stieß einen Schrei aus.

 

Noch immer aufgelöst saß Katrin in der kleinen Sitzgruppe.

Nach ihrem Schrei war Hanna besorgt zu ihr gelaufen. Katrin hörte kaum zu, als die Friseurin auf sie einredete. Vor ihrem inneren Auge stand das Bild, welches sie in dem Fotoalbum als Erstes gesehen hatte.

Julia vor über einem Jahr.

Zusammen mit ihrem Fahrrad im Straßengraben.

Ihr Körper verdreht und blutüberströmt.

Darüber mit einem schwarzen Stift ein fettes Totenkreuz gezeichnet.

„Ich muss nach Hause!“ Entschlossen stand Katrin auf. Hanna schaute sie erschrocken an.

„Du kannst so nicht gehen. Beruhige dich erst einmal. Was ist denn los?“

„Ich muss nach Hause! Sofort!“ Sie wollte einen Schritt machen, blieb aber mit dem Umhang an einem der Sessel hängen. Ungeduldig wollte sie sich losreißen.

„Warte! Deine Haare, so kannst du nicht raus.“

Mit einer Hand fühlte sie nach ihren Haaren und bekam Folie zu fassen.

Katrin nickte und ging zu einem der Waschbecken.

„Mach schnell, wasch das aus!“, forderte sie die Friseurin auf. „Und bestell mir ein Taxi!“ Ihr Ton ließ keine weitere Diskussion zu.

Keine Zehn Minuten später saß Katrin mit nassen Haaren auf dem Rücksitz im Taxi und gab dem Fahrer Anweisung, wo er hinzufahren hatte.

Der wollte schon einen Witz über ihre nassen Haare und dem Friseurbesuch machen, als er Katrins Augen sah. Wortlos startete er den Motor und fuhr los.

 

Zuhause angekommen sprang Katrin aus dem Taxi und bat den Fahrer zu warten Irgendetwas in ihr sagte ihr, dass sie Julia dort nicht finden würde. Aber sie wollte sichergehen. Die Wohnung dann tatsächlich leer vorzufinden, versetzte ihr einen Stich in der Brust. Sie dachte an Lisa. Waren die beiden unterwegs und Lisa hatte vergessen Bescheid zu sagen? Katrin schüttelte den Kopf. Daran glaubte sie selber nicht. Nicht nach dem Ärger vom gestrigen Abend.

Katrin merkte nicht, wie das Fotoalbum aus ihrem Griff rutschte und nach unten fiel. Erst als es aufschlug zuckte Katrin erschrocken zusammen.

Das Album lag aufgeschlagen vor ihren Füßen. Es zeigte das fürchterliche Bild von Julia im Straßengraben mit dem aufgemalten Kreuz.

Plötzlich wusste Katrin, wohin sie musste. Eilig hob sie das Fotoalbum auf und rannte förmlich zu dem wartenden Taxi und warf sich wieder auf den Rücksitz.

„Zur Bundesstraße hinter dem Gewerbepark West und dann Richtung Wertstoffhof. Ich sage Ihnen dann, wie es weitergeht“, informierte sie den Fahrer. Der nickte und fuhr los.

 

Katrin hatte das Fotoalbum wieder an ihre Brust gepresst. Sie wusste, dass sie sich alle Bilder darin ansehen musste. Vielleicht bekam sie darin einen Hinweis. Entschlossen legte sie das Album auf ihren Schoß und schlug es auf. Im gleichen Moment, als sie wieder das Bild von Julia und dem aufgemalten Kreuz sah, wurde ihr etwas anderes klar.

Derjenige, der Julia damals angefahren hatte, der hatte es mit Absicht getan.

Denn das Foto musste direkt nach dem Unfall aufgenommen worden sein. Aber warum? Wer tat ihrer Tochter sowas an?

Sie blätterte weiter. Die nächsten Bilder zeigten sie, wie sie im Krankenhaus an Julias Bett saß, dann Julia bei der Reha, im Krankenhaus, bei der Therapie.

Dann kamen die Bilder, die sie bereits vom Handy kannte.

Katrin blätterte zur nächsten Seite.

Zu ihrem Entsetzen blickte sie auf Szenen aus ihrem Leben, die sie bisher erfolgreich verdrängt hatte.

Aus einer Zeit, als sie selbst noch ein halbes Kind war.

Sie war damals sechzehn oder siebzehn Jahre alt gewesen und der Meinung, ihr und ihren Freunden gehöre die Welt.

Aber war das nicht das Recht der Jugend, so zu denken?

Heute sah Katrin das ein wenig anders. Doch damals…

Sie betrachtete angewidert die Bilder. Sie zeigten Aufnahmen von den wilden Partys mit Alkohol und Drogen und extremen Sexspielen.

Schnell blätterte sie die Seiten weiter, sie wollte die fürchterlichen Bilder nicht mehr sehen.

Und dann kam das letzte Bild.

Es zeigte ein Neugeborenes.

Darunter stand in roten Buchstaben:

Verloren gegangen!

Kleiner Junge sucht nach seiner Mami.

 

Katrin liefen heiße Tränen die Wangen hinab. Sie merkte es nicht. Dafür hämmerte ein Gedanke durch ihren Kopf.

Das ist mein kleiner Junge!

Sie wusste natürlich noch, dass sie damals mit siebzehn Jahren ein Kind geboren hatte. Aber sie wollte es nie haben. Hat es nicht einmal angeschaut. Hat nie wissen wollen, ob es ein Junge oder ein Mädchen gewesen war.

Jetzt wusste sie es. Und hätte doch gern darauf verzichtet.

 

„Wohin jetzt?“, holte der Taxifahrer sie in die Gegenwart zurück.

Katrin schaute auf und orientierte sich kurz. Dann erklärte sie ihm den nächsten Weg. Sie wusste noch ganz genau, wo man Julia vor einem Jahr gefunden hatte.

Noch bevor sie an die Stelle gelangten, klingelte plötzlich ihr Telefon.

Das hatte sie völlig vergessen gehabt. Sie hätte schon längst Lisa anrufen sollen.

Mit bebenden Fingern holte sie das Telefon aus ihrer Tasche und schaute auf das Display. Erleichtert stellte sie fest, dass Lisa tatsächlich die Anruferin war.

„Hallo Katrin“, hörte sie kurz darauf die fröhliche Stimme von Lisa. „Bist du beim Friseur fertig?“

„Was ist mit Julia?“, fragte Katrin ihrerseits, ohne auf Lisas Frage einzugehen.

„Die ist hier bei mir. Sie schläft ein wenig. Du klingst aufgeregt. Ist etwas passiert?“

„Ja… nein… Wo seid ihr?“ Katrin war noch immer besorgt, aber nicht mehr so sehr, wie vor dem Anruf. Sie bekam von Lisa erklärt, wohin sie musste und gab die Informationen an den Taxifahrer weiter.

Es war nicht mehr weit und trotzdem ein Ort, wo Katrin noch nie zuvor gewesen war.

Schon bald bogen sie in die Einfahrt eines alten Bauernhofes ein. Er schien nicht mehr bewirtschaftet zu sein. Als Katrin Lisa entdeckte, die vor einem Behindertentransporter stand und ihr zuwinkte, atmete sie erleichtert auf.

***

 

15.45 Uhr

Das Lächeln war aus Lisas Gesicht verschwunden, als Katrin sich ihr näherte.

„Wo ist Julia?“, fragte sie als Erstes. Kurz überzog ein Schatten Lisas Gesicht.

„Die ist im Wagen und schläft. Lass sie!“, befahl Lisa, als Katrin zum Auto gehen wollte.

„Was ist…?“, wollte Katrin fragen, doch der Blick in Lisas Augen ließ sie auf der Stelle verstummen.

„Du hältst die Klappe, wenn du nicht willst, dass dein Balg für immer schläft.“

„Was?“, fragte Katrin entsetzt. Zu mehr war sie nicht in der Lage.

„Hast du dir die Bilder angesehen?“, fragte Lisa und zeigte auf das Album, welches Katrin wieder an ihre Brust gedrückt festhielt. Katrin nickte.

„Alle? Auch das Letzte?“

„Ja. Aber ich…“

„Schweig!“, befahl Lisa. „Weißt du eigentlich, was du deinem Sohn angetan hast? Nein, ganz sicher nicht“, beantwortete sie ihre Frage selbst. „Dann hättest du dich für ihn interessieren müssen.“

„Ich habe…“, versuchte es Katrin wieder.

„Schnauze!“, verlangte Lisa. „Du hörst nur zu, sonst…“, drohte Lisa und zeigte auf das Fahrzeug. Katrin nickte.

„Geh zu dem Schuppen und mach die Tür auf!“ Lisa zeigte, wo sie meinte und ging zum Auto. Katrin tat, was Lisa verlangte. Sie versuchte einen Blick ins Innere des Fahrzeugs zu erhaschen, doch die Scheiben waren getönt.

Nachdem Lisa mit dem Auto in die Scheune gefahren war, musste Katrin das Tor wieder schließen.

„Setz dich dahin!“, befahl Lisa und zeigte auf einen alten Strohballen. Vor dem war eine Art Leinwand an der alten Holzwand angebracht.

Lisa beobachtete Katrin, wie sie ihrem Befehl nachkam und öffnete währenddessen die Schiebetür. So konnte Katrin ihre schlafende Tochter sehen, und würde hoffentlich keine Zicken machen.

 

„Du wirst dich sicher schon gefragt haben, was das Ganze hier soll“, begann Lisa. „Und vor allem, was ich mit deinem Sohn zu tun habe. Nun, wenn du genau zuhörst, ohne mich zu unterbrechen, dann bekommst du deine Antworten. Alles klar?“

Katrins Nicken reichte Lisa. Sie holte eine Fernbedienung aus der Hosentasche und plötzlich begann es auf der provisorischen Leinwand zu flimmern. Lisa hatte einen Beamer zum Leben erweckt und kommentierte nun die Bilder, die er auf der Leinwand zeigte.

„Hier siehst du deinen Sohn bei seiner ersten Familie. Er ist zu der Zeit ungefähr ein Jahr alt und weiß noch nicht, dass er bei der falschen Mutter ist. Das bekam er sehr schnell zu spüren, als er noch keine drei Jahre alt war. Denn sein „Schwesterchen“ wurde geboren und er war nur noch Ballast für die Mutter. Sie ließ all ihren Frust an ihm aus, misshandelte und verletzte ihn.

Das nächste Bild zeigt deinen Sohn in einem Kinderheim. Dahin wurde er abgeschoben, weil er plötzlich „schwer erziehbar“ und „gestört“ war. Angeblich eine Gefahr für seine Schwester, der er hin und wieder klarmachen musste, dass sie seinen Platz weggenommen hatte.

Mit fünf Jahren machte dein Sohn in diesem Heim seine erste Bekanntschaft mit dem Schwanz eines Mannes in seinem Arsch. Der Kerl bedauerte damals sehr, dass dein Sohn kein Mädchen war. Denn, dann hätte er zwei Löcher gehabt, wohin er seinen Schwanz hätte stecken können.

Die nächsten Bilder, liebe Katrin, erklären sich von selbst. Der Typ, der deinen Sohn entjungferte, machte gern Bilder von sich. Nett anzuschauen, oder?“ Das Schluchzen von Katrin ließ Lisa kurz innehalten. „Was? Gefällt dir etwa nicht, was du siehst?“, fragte sie höhnisch. „Na, dann frag mal den Hintern deines Sohnes.“

Lisa schaute zu Katrin, während sie ein Bild nach dem anderen über die Leinwand schickte. Alles Bilder von den sexuellen Misshandlungen des Jungen. „Schau hin!“, befahl Lisa, als Katrin die Hände vors Gesicht schlug.

Einige Bilder später setzte Lisa ihre Erklärung fort.

„Hier siehst du deinen Sohn mit seiner ersten Freundin. Sorry, wegen Datenschutz darf ich dir ihr Gesicht nicht zeigen, darum ist es geschwärzt.“ Lisa lachte dreckig. „Er hat sie im Heim kennengelernt. Seine erste große Liebe. Mit ihr ist er abgehauen, da war er sechszehn. Doch es stellte sich heraus, sie mochte lieber Mädchen. Wieder war nur ein Mädchen erwünscht.“ Die letzten Worte klangen traurig und verletzt.

Lisa holte tief Luft bevor sie das nächste Bild präsentierte.

Es zeigte einen jungen Mann. Er hatte wunderschöne Augen und einen sanften Blick. Scheu lächelte er in die Kamera. Lisas Blick hing an Katrin. Die schaute wie hypnotisiert auf das Gesicht. Dann runzelte sie die Stirn und warf einen Blick zu Lisa. Die ging extra noch einen Schritt ins Licht, damit Katrin ihr Gesicht genauer sehen konnte.

 

Katrin begriff endlich.

Lisas kalter Blick ging ihr durch und durch. Er hatte nichts mehr mit den sanften Augen auf dem Bild gemein.

Katrin wollte etwas sagen, doch Lisa ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Weißt du eigentlich, was für ein Tag heute ist?“, fragte Lisa.

Katrin überlegte fieberhaft. Lisa hatte im Spätsommer Geburtstag, soviel wusste sie. Nur der genaue Tag fiel ihr grad nicht ein.

„Nun?“, fragte Lisa noch einmal.

Doch Katrin wusste es nicht, darum schüttelte sie mit dem Kopf.

„Tut mir leid, ich…“, begann sie, wurde aber von Lisa grob unterbrochen, als die ihr ins Gesicht schlug.

„Halt dein dreckiges Maul!“, fauchte Lisa wütend. „Lügnerin! Nichts tut dir leid! Sonst wüsstest du, dass dein Sohn, den eine fremde Frau René genannt hat, heute vor genau 25 Jahren geboren wurde. Dein Sohn! Und du weißt es nicht mehr.“

Katrin hielt sich noch immer die brennende Wange. Tränen liefen über ihr Gesicht und die Hand. Sie wagte es nicht Lisa anzusprechen, aus Angst die würde noch einmal zuschlagen.

 

Lisa ging einen Schritt zurück und zeigte auf die Leinwand. „Da geht es weiter.“

Widerstrebend wandte Katrin ihren Blick wieder nach vorn.

„Du glaubst gar nicht, wieviel manche Kerle bereit sind zu zahlen, wenn sie ihren Schwanz in einen Jungenarsch reinstecken können“, sprach Lisa weiter. Auf diese Art bekam ich das nötige Geld für die vielen OPs zusammen. Und das kam dabei raus.“ Das letzte Bild zeigte Lisa, so wie sie heute auftrat.

„Der Rest war fast zu leicht.“ Lisa machte eine kurze Pause, bevor sie abfällig weitersprach. „Mit dem Aussehen hatte ich schnell die Informationen beisammen, die ich benötigte um dich zu finden. Ich hatte gehofft, wenn du den Jungen nicht haben wolltest, dann vielleicht das Mädchen.

Also freundete ich mich mit euch an, alles lief perfekt. Außer, dass SIE den Unfall überlebt hat, das war nicht geplant. Und anstatt SIE endlich verrecken zu lassen, hast du SIE noch mehr mit deiner Liebe überschüttet, die mir zugestanden hätte.“ Die letzten Worte stieß Lisa hasserfüllt aus.

Katrin sagte kein Wort. Zu geschockt war sie über das Gehörte.

„Mami?“ Kaum hörbar kam Julias Stimme aus dem Auto. Katrins Kopf fuhr ruckartig herum. Als sie aufsprang stellte sich Lisa ihr in den Weg.

„Da geblieben! Mami…“ verächtlich zog Lisa das Wort in die Länge.

„Geh beiseite, und lass mich zu meinem Kind!“ Noch nie war Katrin so wütend gewesen. All die Ängste, die sie die letzten Tage gehabt hatte und die Schuldgefühle, die sie wegen ihres Sohnes vor wenigen Minuten noch empfand, das alles gab es nicht mehr. Sie würde keine Rücksicht nehmen, wenn es um Julia ging.

Lisa senkte schnell den Kopf, trotzdem konnte Katrin den Zorn in ihren Augen sehen. Das störte sie nicht, als sie Lisa einfach beiseiteschob und zu Julia eilte.

Lisa folgte ihr langsam und ging Richtung Fahrerhaus.

Katrin hatte sich neben Julia gesetzt und streichelte ihr liebevoll übers Gesicht.

„Mach die Tür zu. Ich fahr euch. Danach seht ihr mich nie wieder“, hörte sie Lisa von vorn sagen.

Katrin schaute sie zuerst misstrauisch an. Doch als sie das traurige Lächeln von Lisa sah, nickte sie nur und schloss die Schiebetür.

 

Julia fragte was los sei, doch Katrin vertröstete ihre Tochter auf später.

Als der Motor aufheulte erschrak Katrin. Sie wollte sich anschnallen und schaute dabei nach vorn. Im Rückspiegel sah sie Lisas Gesicht. Es war eine Fratze voller Hass.

Das Auto machte einen Satz nach vorn. Katrin kam nicht mehr dazu sich anzuschnallen.

Sie wurde in den Sitz gepresst. Julias Rollstuhl war nicht gesichert und schoss gegen ihre Beine. Julia hielt sich krampfhaft an ihr fest, während der schwere Rollstuhl Katrin bewegungsunfähig machte. Kurz darauf splitterte auch schon die marode Schuppenwand auseinander, als Lisa mit Vollgas hindurch fuhr. Über die Bretter holpernd schoss das Auto voran.

Es raste weiter, über die Wiese hinauf auf den Weg und die Straße.

Katrin und Julia schrien vor Schmerzen und Angst. Lisa reagierte nicht.

***

 

Sie war als Junge ungeliebt und als Tochter war sie nicht willkommen.

Ein letzter Blick nach hinten.

„Tschüss Mami!“, rief Lisa, als sich die Betonwand der Überführung rasend schnell näherte.

Ein ohrenbetäubender Knall, dem eine Explosion und Trümmer folgen – Stille.

 

~ Ende ~

 

 

38 thoughts on “Verloren gegangen

  1. Ich habe mir die Geschichte ein zweites Mal durchgelesen. Beim ersten mal Lesen habe ich eine ganze Weile für mich zum Nachdenken gebraucht. Ich habe zwei Nächte darüber geschlafen und bin nun zu dem Entschluss gekommen,
    – auf Grund der Nachhaltigkeit und dem Inhalt,
    – die Herangehensweise an das Thema und die Handlung selbst,
    dieser Geschichte eine positive Wertung zu geben.
    Mein Dank geht ebenfalls an die Autorin. Da schließe ich mich meinen Vorkommentatoren an.

  2. Ich habe mir zuerst die Kommentare durchgelesen. – Das hat mich neugierig gemacht.
    Jetzt, nachdem ich die Geschichte von Frau Rika Mohn gelesen habe, MUSS ich auch einen Kommentar hier schreiben.
    Ja! Nicht nur empfehlenswert, auch lesenswert!
    Von mir gibt es ein “Daumenhoch”.

  3. Diese Geschichte hebt sich von den anderen ab. Bei dem was ich bisher gelesen habe, ist diese Geschichte durchaus zu empfehlen. Eine Platzierung in den oberen Reihen ist Frau Mohn mit der Geschichte “Verloren gegangen” nur zu wünschen.
    Herzliche Grüße, Ceara Rot

  4. Hallo Rika,
    da kann ich mich den Anderen nur anschließen.
    Der Inhalt dieser Kurzgeschichte ist in die heutige Zeit übertragbar. Ein gesellschaftspolitischer Hintergrund, in einer kurzweiligen Kurzgeschichte. Da wünsche ich mir sehr gern mehr davon.
    Viele Grüße und viel Erfolg!

  5. Oh, da habe ich doch glatt Deinen Namen falsch gelesen. Ich wollte Dich schon als “Rita” anschreiben.
    Na, macht ja nix, – ich habe mir Deine Geschichte bis zum Schluss durchgelesen. Sie hat mich gefesselt. Und, irgendwo da oben schrieb jemand von Nachhaltigkeit. Ja, doch, Deine Geschichte wirkt auch in mir nach. Jetzt, wo ich sie gelesen habe, da spüre ich etwas in mir. Ich weiß nicht. … Ich werde mir Deine Geschichte nocheinmal durchlesen. Vielleicht komme ich dann drauf.
    Ich wollte auch an der Ausschreibung teilnehmen, habe es aber nicht bis zum Abgabetermin geschafft. Somit erfreue ich mich hier an den vielen Geschichten und kann sie mir alle in Ruhe durchlesen. Es sind viele tolle Geschichten dabei.
    Bei Dir ist das auch so. Mit “Verloren gegangen” wünsche ich Dir einen der oberen Plätze.
    Sehr sehr gut.
    Na dann, viel Erfolg!
    Rita

  6. Liebe Rita,
    Vielen Dank, dass du dir meine Geschichte durchgelesen und mir so ein nettes Feedback gegeben hast.
    Schade, dass du selber den Abgabetermin verpasst hast. Allerdings finde ich super, dass du für dich jetzt das Beste daraus machst und das lesen der Geschichten genießt.
    Ich habe auch schon einige gelesen und ich muss sagen, die Konkurrenz ist sehr gut.
    Ich wünsche dir alles Gute.
    Liebe Grüße
    Rika

  7. Liebe Rika,

    ich bin auf Deine Geschichte durch den Zufallsgenerator “noch nicht gelesene Geschichten” gestoßen und muss wirklich zugeben, dass ich mich freue, dass es Deine Geschichte “getroffen” hat. Ich war wirklich von A bis Z gefesselt dabei und habe gleich zwischendrin schnell das Herzchen gedrückt, dass ich es am Ende nur nicht vergesse <3
    Vielen Dank für die spannende, fesselnde Lektüre!

    Vielleicht magst Du ja auch mal bei mir "vorbeilesen" (Die Nachtschicht)? Ich würde mich freuen!

    Liebe Grüße
    Anna

    1. Liebe Anna,
      inzwischen habe ich deine Geschichte gelesen. 😉
      Vielen Dank für deinen Besuch und das Herzchen. Freue mich, dassdir meine Geschichte gefalle hat.
      Es ist schon Irrsinn, viele gute Geschichten es hier gibt.
      Liebe Grüße
      Rika

  8. Liebe Rika,
    puh, was für eine Geschichte! Welch furchtbare Tat! Ich finde es immer sehr belastend, wenn Kinder zu Opfern werden. Du hast den Missbrauch sehr bildhaft geschildert. Das wird mich sicherlich noch eine Weile beschäftigen. Ansonsten hast du eine sehr spannende Geschichte geschrieben. Irgendwann war klar, dass Lisa etwas damit zu tun haben muss, aber als sich ihre wahre Identität enthüllte, hat es mich unheimlich überrascht. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Großartig! Mein Like bekommst du! 🙂
    Liebe Grüße
    Angela
    PS: Falls du magst, …, meine Geschichte heißt “Stunde der Vergeltung” 🙂
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stunde-der-vergeltung

  9. Liebe Angela,
    vielen Dank für deinen Besuch und dein Like.
    Ich hoffe, du hast etwas anders gelesen, damit du meine Bilder aus dem Kopf bekommst.
    Es ist ein schweres Thema und ich finde, man sollte es nicht totschweigen, allerdings auch nicht zu unbedacht damit umgehen. Leider ist die Realität noch grausamer, als wir Autoren es uns ausdenken können.
    Inzwischen war ich schon bei dir und bin noch immer begeistert.
    Liebe Grüße
    Rika

  10. Hallo Rika,
    -> “Verloren gegangen” <- Das ist ja mal eine tolle Kurzgeschichte. Da schließe ich mich meinen Vorrednern sehr gern an! Da habe ich hier wirklich schon anderes gelesen. Na dann, viel Glück für die Auslosung.
    Herzlichst,
    Sternenstaub

  11. Liebe Rika, Hey!
    Klasse Story, Deine Geschichte hebt sich von den anderen ab. Ich hoffe, Du hast damit Erfolg. Meine Stimme hast Du! Also, ich wünsche Dir alles Gute.
    Ach ja, meine Daumen sind gedrückt, – beide. Gefällt mir!
    LG, Tag Traum!

  12. Grüß Dich Rika!
    Hier ist schon so viel positives geschrieben worden. Ich schließe mich meinen Vorrednern an!
    Gute Geschichte. Super geschrieben. Dafür gibt es von mir natürlich einen Daumen nach oben. Den anderen Daumen drück ich ich Dir für die Nominierung.
    Also, viel Glück!

  13. Liebe Rika

    Was für eine großartige Geschichte.
    Und was bist du für eine großartige Autorin.

    Ich bin komplett zufällig hier gelandet und war total gefesselt und berührt.

    Deine Geschichte MUSS EINFACH INS EBOOK. Aktuell hast du noch alle Möglichkeiten.

    Dein Schreibstil ist genial und wirkt auf mich gereift und sicher.
    Die Geschichte, die Parameter, die Handlung, das Finale ….. alles absolut toll und spannend.

    Ich zolle dir den höchsten Respekt.

    Man spürt deutlich und bereits nach wenigen Sätzen, dass du viel Erfahrung, viel Liebe und Kreativität in diese Geschichte gesteckt hast.

    Und deshalb ist es sooo wichtig, dass du die nächsten 3 Wochen noch einmal alles für deine Geschichte gibst.

    Da sind so viele Geschichten likemäßig über dir, die nicht so kreativ umgesetzt sind. Also, schlag auf die Pauke.

    Deine Geschichte hat es verdient.
    Du hast es dir verdient.

    Natürlich lasse ich dir ein Like zurück.
    Und mein Herz.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.

    Du schaffst das, wenn du nur willst.

    Ich drück dir die Daumen.

    Ganz liebe Grüße und pass auf dich auf.
    Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Ich würde mich sehr freuen.

    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Ich danke dir.
    Swen

  14. Liebe Rika.
    ich habe mir deine Geschichte bis zum Schluss durchgelesen, während ich bei anderen Geschichten mit dem Lesen bereits in der Mitte abbrach. Bei dir ist es allerdings anders. Meinen Klick zum Like hast du bereits. Nun bleibt mir nur noch der Wunsch, dass du es für die Nominierung schaffst.
    Also, viel Glück, und,
    -> vielen Dank für diese Geschichte. Weiter so!

  15. Hallo Rika,
    Da hast du dir echt ein schweres Thema ausgesucht und so grandios umgesetzt. Einzelne Situationen hast du so glaubhaft dargestellt, dass ich beim Lesen wirklich einen Kloß im Hals hatte. Einfach klasse war auch die Auflösung. Mein Like bekommst du 💛. Ich wünsche Dir viel Erfolg für das Voting 🍀.

    Schönen Abend wünsche ich Dir.

    Liebe Grüße

    Maddy

    P. S Vielleicht findest Du ja Zeit und hast Lust meine Geschichte “Alte Bekannte” zu lesen 😊🍀😁🙈. Würde mich freuen.

  16. Hallo Rika!

    Ich bin sehr froh, dass ich deine Geschichte so knapp vor Votingende noch gefunden habe. Es wäre wirklich sehr schade gewesen, wenn ich diese tolle Geschichte nicht gelesen hätte. Hat mir extrem gut gefallen! Und natürlich ein Like von mir.

    GLG, Florian

    PS. Würde mich sehr freuen, wenn du auch meine Geschichze noch lesen und vlt auch kurz kommentieren könntest.

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/schach-matt

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