Georg H. BachDeath Metal

 

Georg H. Bach

 

Death Metal

 

 

 

„Fuck you!“, zischt er aufgebracht und reißt die Hintertür des Taxis auf. Den Mann auf dem Vordersitz scheint die ruppige Begrüßung völlig kalt zu lassen, jedenfalls zeigt er keinerlei Reaktion. Es schüttet schon den lieben langen Tag und an manchen Stellen steht das Regenwasser bereits bis in Höhe der Bordsteinkante. Eben, beim abrupten Haltemanöver, war das Taxi mit einem der Hinterreifen durch eine Pfütze gepflügt und das Spritzwasser hatte sich unschön gleichmäßig auf seiner frisch gereinigten Anzughose verteilt, bevor er zur Seite springen konnte.

Kacke.

Jonas lässt sich schwer auf die Rückbank fallen und beginnt genervt, an seinem nassen Hosenbein herum zu nesteln.
„Erlangen, Zentrum. Aber zackig“, herrscht er den Fahrer an. Wortlos und mit einem Ruck setzt der Mann am Steuer den Wagen in Bewegung. Es ist ein kalter Herbstabend und der Regen prasselt so heftig vom Himmel, dass die Scheibenwischer mit den Wassermassen überfordert sind.

Jonas will einfach nur nach Hause. Sein Magen knurrt und er ist todmüde. Seinen Tag hatte er damit verbracht, irgendwelchen Vollidioten Versicherungen anzudrehen. Wie er diesen Job hasste; aber mit irgendwas musste er ja schließlich seine Brötchen verdienen. Eigentlich hatte er gar nicht damit gerechnet, unterwegs von einem Taxi aufgegabelt zu werden, nicht hier draußen in Dechsendorf. Zuvor hatte er eine geschlagene halbe Stunde versucht, bei der Zentrale durchzukommen. Aber bei dem Schietwetter wollten wieder alle gleichzeitig einen Wagen bestellen. Normalerweise wäre er ja nie in diese Verlegenheit gekommen. Aber heute Morgen war seine Karre nicht angesprungen, und dass, obwohl er sie doch erst letzte Woche aus der Werkstatt geholt hatte. Dem Stümper würde er demnächst einen ordentlichen Einlauf verpassen, soviel stand fest. Um Punkt Fünf hatte er wie immer seine Dienststelle verlassen, weil er Null Bock hatte, auch nur eine Minute länger als nötig in diesem Scheißladen rumzuhängen. Als er sich gerade frustriert auf den Weg zu Bushaltestelle machen wollte, kam aus dem Nichts dieses Taxi um die Ecke gebogen.

 

Der Fahrer langt ins Handschuhfach und hält ihm wortlos und ohne sich dabei umzudrehen ein Schokoladen-Bonbon hin.

Jonas verdreht die Augen. Er ist eigentlich nicht in der Stimmung, sich Gastgeschenke von seinem Chauffeur aufdrängen zu lassen, sei es, weil dieser auf Wiedergutmachung für die Nummer mit der Pfütze aus ist oder weil er auf eine gute Bewertung am Fahrtende hofft. Trotzdem greift er widerwillig zu, windet das Schokoladenei aus der Folie und schiebt es sich in den Mund. Schließlich hat er hat den ganzen Tag nichts gegessen.

Eigentlich müsste Jonas seinem Retter ja dankbar sein, aber er kann Taxis auf den Tod nicht ausstehen, auch wenn ihn dieses hier gerade davor bewahrt, im strömenden Regen zum Bus zu laufen. Er mag es einfach nicht, wenn er nicht selbst hinterm Lenkrad sitzt. Und dann auch noch dieser Geruch! In der Vergangenheit hatte er sich schon öfter gefragt, ob die Taxiinnung ihre Fahrer eigentlich per Verordnung dazu verdonnerte, sich einen Duftbaum an den Spiegel zu hängen. Ihm wurde von dem Gestank jedenfalls immer speiübel.

Jonas schielt verstohlen über den Fahrersitz und verzieht beim Blick auf das baumelnde Etwas am Rückspiegel angewidert sein Gesicht.

Vanille. Der Geruch des Grauens. Heute scheint wirklich nicht sein Tag zu sein.

Noch mehr als alle Duftbäume dieser Welt verachtet er allerdings die Fahrer selbst. Die meisten dieser Typen waren in seinen Augen gescheiterte Existenzen, die es im Leben zu nichts gebracht hatten und die ihren Frust nun an ihren Mitmenschen ausließen, indem sie sie von morgens bis abends dumm vollquatschten. Dabei machten sie es sich auf eine perfide Art zunutze, dass man als Fahrgast ja nicht einfach aufstehen und davonlaufen konnte.

Fast ist Jonas ein bisschen verwundert darüber, dass ihn ausgerechnet dieser Kerl bislang mit seinem Gelaber verschont hat. Heimlich versucht er, ihn im Spiegel zu mustern, kann aber nur das Label einer roten Baseballmütze ausmachen.
1. FC Nürnberg. Scheißverein.
Der Fahrer hat sich offenbar entschlossen, den Feierabend-verkehr zu umfahren, jedenfalls steuert er den Wagen über die A3 Richtung Innenstadt. Während Jonas durch die regennassen Scheiben den Kosbacher Wald an sich vorbeiziehen sieht, macht sich ein leiser Anflug von Zufriedenheit in ihm breit. Wahrscheinlich hatte er den Fahrer beim Einsteigen so eingeschüchtert, dass er es jetzt vorzieht, seine Klappe zu halten. Außerdem scheint sich seine Taktik der Gesprächsvermeidung einmal mehr zu bewähren. Wenn es nicht anders ging und er Taxi fahren musste, so wie heute, nahm Jonas aus Prinzip auf der Rückbank Platz, direkt hinter dem Fahrer, weit außerhalb seines Gesichtsfelds, niemals vorne auf dem Beifahrersitz. Dabei fällt ihm ein, dass die Sache mit dem Vordersitz zu den Dingen gehört, an die er sich in seinem neuen Leben einfach nicht gewöhnen kann. Anders als in der Großstadt, aus der er kommt, erwarten die Taxifahrer hier in diesem gottverdammten Kaff normalerweise, dass man sich zu ihnen nach vorne setzt, andernfalls sind sie tödlich beleidigt.

Hamburg, meine Perle, wie sehr ich dich vermisse!

An was sich Jonas ebenfalls nur schwer gewöhnen kann, ist sein neuer Name. Denn Jonas heißt in Wahrheit eigentlich gar nicht Jonas.


Natürlich war nicht alles besser gewesen in seinem alten Leben, da machte er sich nichts vor. Aufgewachsen war Jonas, wie er sich heute nannte, in besseren Verhältnissen vor den Toren Hamburgs im Alten Land. Seine Eltern waren steinreiche Schnösel, die sich in erster Linie für ihre Karrieren interessierten. Sein Vater war Unternehmer in der Pharmaindustrie, seine Mutter betrieb eine Galerie in Altona. Für Jonas hatte es sich schon in früher Kindheit immer so angefühlt, als sei er für sie so etwas wie ein Hobby, ein Zeitvertreib, an dem sie irgendwann das Interesse verloren hatten. Insofern war er auch nicht weiter überrascht, als er mit Sechzehn zufällig herausfand, dass sie ihn als Baby adoptiert hatten. Aber wahnsinnig wütend, das war er. Noch oft dachte Jonas mit Genugtuung daran zurück, wie er seine Eltern damit konfrontiert hatte. Er hatte den Schürhaken aus dem Kamin genommen und sie mit ansehen lassen, wie er die komplette Wohnzimmereinrichtung zerlegte. Danach hatte er sich vom Acker gemacht und nie wieder blicken lassen.

Als er ein paar Tage später nach Hamburg kam, hatte er lediglich seinen tragbaren CD-Player und ein paar seiner Lieblings-Discs dabei. Jonas stand seinerzeit voll auf Death Metal nordischen Einschlags, und wer weiß, wie alles gekommen wäre, hätte er damals nicht diesen schrägen Vogel auf dem Konzert getroffen. Er hatte seine letzte Kohle zusammengekratzt, nur um einmal „At the Gates“ live zu sehen. In der Moshpit ging es richtig derbe zu Sache, was vor allem an diesem Kerl mit der langen dunklen Mähne lag, der beim Tanzen wahrlich keine Gefangenen machte. Mit seinen gut anderthalb Zentnern entfaltete er die Wucht einer Abrissbirne, was Jonas schwer imponierte. Nach dem Gig fasste er sich ein Herz und sprach ihn an. Der Typ nannte sich Jimmy und lud ihn spontan auf ein Bier ein. Es stellte sich heraus, dass Jimmy an dem Abend noch mit ein paar Kumpels von den Dark Devils unterwegs war, einem Harburger Motorradclub. Und weil Jonas noch eine Bleibe für die Nacht suchte, nahmen sie ihn mit und quartierten ihn kurzerhand in ihrem Vereinsheim ein. Noch in der gleichen Nacht lernte er Hotte, den Anführer der Devils, kennen. Hotte schien nicht gerade begeistert über das fremde Gesicht, ließ sich aber dennoch zu einer kühlen Begrüßung herab.

„Willkommen im Club, Kleiner“.

Das Vereinsgelände wurde Jonas´ Zuhause und die Dark Devils seine neue Familie. Er bekam schnell mit, was Hotte, Jimmy und ihre Jungs so trieben, wenn sie nicht gerade mit ihren Bikes durch die Gegend knatterten, vor allem womit sie so ihr Geld machten. Drogen, Prostitution, Waffen – ihr Geschäft umfasste nahezu alle Bereiche der organisierten Kriminalität. Jonas hatte die Schule nach der neunten Klasse geschmissen, war aber nicht auf den Kopf gefallen, und so dauerte es nicht lange, bis Hotte klar wurde, dass das dahergelaufene Milchgesicht durchaus seine Qualitäten hatte. „Milchgesicht“ – so hatten sie ihn immer genannt. Und alles nur, weil Jimmy irgendwann meinte, er würde aussehen wie der Junge von der Kinderschokoladen-Packung. 

Jonas wurde Jimmy zugeteilt, der mit Ende zwanzig deutlich älter war und mit einiger Erfahrung im Geschäft aufwarten konnte. Jonas fand schnell heraus, dass er anpassungsfähiger war, als er gedacht hatte. Mit Jimmy an seiner Seite lernte er, sich im Milieu rund um die Herbertstraße zu bewegen wie ein Fisch im Wasser. Und er bekam mit, dass man zuschnappen musste, wenn es darauf ankam. In jener Nacht, als Jimmy sich den albanischen Zuhälter vorknöpfte, der es gewagt hatte, in Hottes Revier zu pissen, war er mit von der Partie. Seitdem wusste er, wie es sich anhört, wenn man einen Schädelknochen mit einem Baseballschläger zum Bersten bringt.
Einige Jahre gingen ins Land, bis sich Jonas in der Hackordnung des Clans hinter Hotte und Jimmy auf Rang drei vorgearbeitet hatte. Und als es darum ging, ein neues Geschäftsfeld zu besetzen, von dem sich Hotte viel versprach, fiel die Wahl auf ihn als Verantwortlichen. Versicherungsbetrug war nach Hottes Auffassung das nächste große Ding. Er hatte sich einen Makler gefügig gemacht und mit dessen Hilfe einen Plan ausgeheckt, mit dem es absolut easy sei, die Versicherungen abzuzocken, wie er glaubte. Hotte würde die Mitglieder des Clubs dazu verdonnern, alle möglichen Verträge abzuschließen. Die Mitglieder würden dann bald darauf irgendeinen fingierten Schaden an ihrem Auto oder einen angeblichen Diebstahl eines alten Bikes melden. Das Geniale wäre, dass der Makler die Schäden bis zu einer bestimmten Höhe selbst verwalten könne, ohne dass die Versicherungen die Angaben prüften. Die ausgezahlten, viel zu hohen Prämien würden dann zwischen dem Clan und dem Makler aufgeteilt. Fifty-Fifty. Jonas sollte bei der ganzen Sache als verlängerte Arm Hottes agieren. Soweit der Plan.
Jonas machte sich mit stolz geschwellter Brust und großem Eifer an seine neue Aufgabe. Eigentlich sollte er auf Geheiß von Hotte lediglich hinterher sein, dass die Clubmitglieder nicht aus der Reihe tanzten. Aber das war Jonas nicht genug, und ihm fiel da zum ersten Mal auf, dass er offenbar einen leichten Hang zum Perfektionismus hatte. Er ließ es sich nämlich nicht nehmen, die Autos eigenhändig „zu schrotten“, wie er das nannte. Nachdem ihm die Besitzer die Autoschlüssel übergeben hatten, fuhr er an einen abgelegenen Ort und streifte mit dem Kotflügel eine Leitplanke, so dass ein geringer Blechschaden entstand. Danach machte er mit dem Makler höchst selbst die Papiere für die Versicherung fertig und brachte damit Hottes Kasse ordentlich zum Klingeln. Je besser das Geschäft lief, desto höher stieg Jonas in der Gunst von Hotte auf. Jimmy kam gar nicht gut damit klar, dass das Milchgesicht auf der Überholspur an ihm vorbeizog, und das Verhältnis zu Jonas kühlte mit der Zeit merklich ab.

Fast zehn Jahre lag ging alles gut und in den schwarzen Kassen der Dark Devils landete über eine Million Euro an veruntreuten Versicherungsprämien. Doch dann kam der Tag an dem Jonas beim Schrotten eines Porsche Cayenne von einer versteckten Polizeikamera gefilmt wurde. Die Bullen knöpften sich zunächst den Inhaber des SUV und danach Jonas vor. Die Show war vorbei.

Jonas landete in „Santa Fu“, wo er wieder etwas Neues über sich herausfand. Wenn es hart auf hart kam, kannte er weder Freund noch Feind. Dann war er bereit, von heute auf morgen alle Brücken hinter sich abzubrechen. Und so nahm er das Angebot des Staatsanwalts ohne mit der Wimper zu zucken an. Jonas bekam eine lächerlich kurze Haftstrafe aufgebrummt und sagte als Kronzeuge gegen Hotte, Jimmy und den Rest der Bande aus. Im Gegenzug steckte man ihn in ein Zeugenschutzprogramm, verfrachtete ihn in den Süden der Republik und verpasste ihm einen neuen Namen.

 

Jonas schaut genervt auf sein Smartphone. Es ist 17.15 Uhr. Auch auf der Landstraße fließt der Verkehr nicht so flüssig wie sonst.

Scheiß Regen!
Er merkt, wie seine Augenlieder schwer werden. Um nicht weg zu dämmern, steckt er seine Kopfhörer ins Ohr und dreht die Lautstärke bis zum Anschlag auf. Er wählt die Playlist mit den Bands, die er immer dann hört, wenn er an die alten Zeiten denken muss: Resurrection, Napalm Death, Massacre, Canibal Corpse und natürlich At the Gates. Slaughter of the Soul ist einfach ein geiler Track und auch heute noch eines seiner Lieblingsstücke. Beim Hören wird er fast etwas nostalgisch. Hotte hatte inzwischen ins Gras gebissen. Das Herz. Jimmy brummte eine lange Haftstrafe ab. Auch dank seiner Aussage hatten sie ihn für den Mord an dem Albaner drangekriegt.
“You feed off my pain. Feed off my life.”
Ihm fällt ein, dass er Schäfer gar nicht Bescheid gesagt hat. Schäfer ist sein verantwortlicher Zeugenschützer. Zum Deal mit den Bullen gehört, dass er sofort eine Ansage macht, wann immer etwas nicht nach Plan läuft. Eigentlich hätte er Schäfer gleich heute morgen informieren müssen, als die Karre nicht angesprungen war. Schäfer würde ihm bestimmt wieder Vorwürfe machen, wie leichtsinnig er doch sei. Egal, der Typ war eh ein Versager, der nichts auf die Reihe bekäme, sollte er tatsächlich wider Erwarten einmal in Gefahr geraten. Okay, er hatte ihm die Papiere beschafft. Aber die Wohnung, die ihm Schäfer als Unterschlupf angeboten hatte, war ein schlechter Witz gewesen. Jede Besenkammer hatte mehr Komfort. Das war nicht der Neuanfang, den er sich versprochen hatte. Da hätte er ja gleich im Bau bleiben können. Am Ende hatte er sich schließlich seine eigene Bleibe nahe der Altstadt gesucht. Zwei Zimmer mit Balkon. Sehr solide. Und vor allem unauffällig. Auch um den Job hatte er sich selbst gekümmert. Ausgerechnet die Versicherungsbranche. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie mit seiner Vorgeschichte. Klar, der Job war der Hass, aber mit Anfang Vierzig musste man sehen, wo man blieb. Wenigstens stellten ihm die Kollegen keine blöden Fragen und ließen ihn in Ruhe.

„Children, born of sin. Tear your soul apart.”

Das Taxi kriecht im Zeitlupentempo an der Raststätte Aurach Süd vorbei. Er überlegt kurz, ob er den Fahrer bitten soll, anzuhalten, damit er Bier kaufen kann, denn im Kühlschrank herrscht mal wieder gähnende Leere. Schnell verwirft er den Gedanken wieder, dazu müsste er ja mit dem Typen reden. Gequatscht hatte er heute wahrlich schon genug.

Reden war nie groß sein Ding gewesen, überhaupt war Jonas eigentlich nicht sehr gesellig. Selbst damals bei den Devils war er nach der Anfangszeit an der Seite von Jimmy immer seine eigenen Wege gegangen und hatte sich vom Rest der Clique ferngehalten. Jimmy hatten seine Alleingänge immer gestunken, genau wie Schäfer heute. Hotte war noch der Einzige gewesen, von dem er sich etwas hatte sagen lassen.
Jonas denkt noch, dass er vermutlich ein Autoritätsproblem hat und sieht vor seinem geistigen Auge noch einmal, wie der teure Couchtisch seiner Eltern unter seinen Hieben in lauter kleine Glassplitter zerfällt.

“There won’t be another dawn. We will reap as we have sown.”

Dann schläft Jonas ein.

 

Als er wieder zu sich kommt, ist ihm so, als müsse er sich vom Grund eines tiefen Sees nach oben kämpfen, zurück an die Wasseroberfläche. Langsam schlägt er die Augen auf, ringt nach Luft und versucht dabei, sich zu orientieren. Es ist stockdunkel und zunächst hat er keine Ahnung, wo er sich befindet. Beim Versuch aufzustehen, bemerkt er den Gurt über seiner Brust. Das ist der Moment, in dem ihm bewusst wird, dass er noch immer auf der Rückbank des Taxis sitzt. Benommen beugt er sich nach vorne, um nach dem Fahrer zu sehen, doch der Sitz ist leer.

„Was zur Hölle“, entfährt es Jonas und er nimmt die Kopfhörer ab, die immer noch in seinem Ohr klemmen.

Die Scheiben sind von innen beschlagen. Jonas will gerade damit anfangen, mit der Handfläche das Kondenswasser wegzuwischen, als sein Smartphone ihm den Eingang einer Nachricht meldet. Hektisch greift er in die Innentasche seines Jacketts und zieht das Handy hervor. 18.30 Uhr. Er muss über eine Stunde gepennt haben. Doch nicht nur das ist seltsam, denn ansonsten zeigt der Bildschirm nichts. Keine Nachricht. Noch bevor Jonas anfangen kann, sich richtig darüber zu wundern, ertönt das Signal ein zweites Mal. Da er sein Smartphone noch in der Hand hält, wird ihm klar, dass das Signal nicht von seinem Handy stammen kann. Er löst den Gurt, beugt sich nach vorn und sieht, dass im Fußraum noch ein anderes Handy liegt.

Jonas wusste nicht genau, wann es angefangen hatte und ob es vielleicht an seinem fortgeschrittenen Alter lag. Aber irgendwann war ihm aufgefallen, dass er sein Herz pochen hören konnte, wann immer sich sein Puls beschleunigte.

Er zögert einen Moment, dann beugt er sich nach unten und hebt das fremde Handy auf. Er stellt fest, dass der Besitzer die Tastensperre nicht aktiviert hat. Auf dem Display sieht er zwei eingegangene Nachrichten. Der Absender muss dem Besitzer unbekannt sein, jedenfalls ist unter der Nummer kein Name abgespeichert. Jonas tippt mit dem Zeigefinger nacheinander auf die beiden Nachrichten, um sie zu öffnen. Sie enthalten jeweils ein Foto. Als Jonas begreift, was die beiden Bilder zeigen, beginnt sein Herz so laut zu hämmern, dass es sich anfühlt, als würde jemand sein Trommelfell mit einem Presslufthammer bearbeiten.   

Jonas will nur noch weg, raus aus dem Wagen. Panisch stößt er die Tür auf und ein eiskalter Windstoß schlägt ihm wie eine Faust ins Gesicht. Beim Hinausklettern wundert er sich für den Bruchteil einer Sekunde, warum sein linker Fuß keinen Halt findet. Und schon im nächsten Moment zieht ihn die Schwerkraft vom Sitz. Bevor ihn sein eigenes Gewicht hinab in die Tiefe reißt, bekommt er mit seinem rechten Arm die Kopfstütze des Vordersitzes zu fassen. Als er nach unten sieht, stellt er zu seinem Entsetzen fest, dass seine Beine über einem dunklen Abgrund schweben. Unter Aufbietung all seiner Kräfte gelingt es ihm, auch mit dem linken Arm die Stütze zu erreichen. Wie ein Ertrinkender an eine Rettungsboje, klammert er sich mit beiden Armen an ihr fest. Das Taxi, aus dem Jonas gerade in Begriff ist herauszustürzen, hat inzwischen angefangen, sich zu bewegen, was seine Lage zusätzlich erschwert. Der Wagen schwankt und dreht sich bedrohlich hin und her, je heftiger er mit seinen Beinen strampelt. Jonas sieht nach oben und begreift mit einem Mal, was los ist. Eine eiserne Klaue, die zu einem riesigen Kran gehört, hat sich erbarmungslos in das Dach des Autos gekrallt. Jonas gelingt es, sich mit einem Klimmzug zurück ins Wageninnere zu wuchten. Sein Körpereinsatz bringt den Wagen jedoch so heftig ins Taumeln, dass Jonas beinah die Besinnung verliert. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen kann, meldet sich das fremde Handy, das immer noch auf dem Rücksitz liegt. Diesmal ist es keine Nachricht, sondern ein Anruf, und Jonas weiß genau, von wem er kommt, noch bevor er abgenommen hat.
„Respekt, Milchgesicht. So einen Stunt hätte ich dir gar nicht zugetraut. Bist ja schließlich nicht mehr der Jüngste. Auf den Fotos siehst du deutlich frischer aus. Hast du dich wiedererkannt?“

Jimmies Stimme klingt ruhig, fast entspannt.

„Lass mich runter, du Arsch“, brüllt Jonas verzweifelt in das Handy.

„Hey, sag mal. Was ist denn das für eine Begrüßung nach all den Jahren? Weißt du eigentlich, wie lange es her ist, dass wir uns zuletzt gesehen haben?“

„Scheiße, nein!“ Jonas überlegt, ob er einfach aus dem Wagen springen soll, zögert dann aber, weil er im Dunklen die Höhe nicht abschätzen kann.

„Rate doch mal“ fährt Jimmy fort, und klingt dabei beinah wie ein Quizmaster.

„Damals vor Gericht. 5 Jahre. Was weiß ich.“.

„Leider falsch“, hört er Jimmy sagen. „7 Jahre“.
Dann zerbersten die Seitenfenster des Wagens mit einem lauten Knall und die Eisenkralle beginnt sich langsam in den Innenraum zu bohren.

„Fuck!“ brüllt Jonas aus Leibeskräften! Was soll der Scheiß? Wo bist du?“

„Dreh dich doch mal um!“
In dem Moment, als Jonas den Kopf wendet und durch die Heckscheibe blickt, springt draußen ein Schweinwerfer an und taucht das Führerhaus des Lastenkrans in gleißendes Licht. Darin sitzt ein Mann mit einer roten Baseballmütze, die er sich gerade demonstrativ vom Kopf nimmt und ihm zuwinkt.
„Überraschung!“ Was sagst du zu meinem kurzen Haaren? Ich hatte irgendwie keinen Bock mehr auf die Matte. Spart echt Zeit morgens vorm Spiegel. Und die 50 Kilo weniger auf den Rippen tun mir auch ganz gut, findest du nicht?“

Für einen Moment ist nur das Surren des Aggregats zu hören, das den Scheinwerfer mit Strom speist.
„Wie … wie hast du mich gefunden?“,
stammelt Jimmy in das Handy.
„Ach, das war einfach. Weißt du, es ist so: Jedes System hat seine Schwächen, auch der Zeugenschutz. Wer das System kennt, weiß wo er die Fehler suchen muss. Und dich kenne ich nur zu gut, alter Freund. Dich und deine ewigen Alleingänge.“

„Du elendes Schwein!“, schluchzt Jonas.

Er sieht, wie Jimmy seine Hand an einen langen Hebel legt und ihn langsam nach vorne kippt. Der Wagen, der zu seinem Gefängnis geworden ist, sackt zwei Meter in die Tiefe.

Jonas schreit laut auf vor Entsetzen.
„Hey, du solltest langsam deinen Frieden mit der Welt machen, auch mit dem Typen aus der Werkstatt. Der kann echt nichts dafür, dass deine Karre heute Morgen nicht angesprungen ist. Dafür darfst du gerne mir die Schuld geben. Aber immerhin war ich zur Stelle, um dich nach der Arbeit aufzusammeln. Sorry, für die Nummer mit dem Anzug. Aber das gehörte nun mal zum Plan.  Sag mal ehrlich, so schlecht war der Service an Bord doch gar nicht, oder? Ich habe schön meine Fresse gehalten, so wie du´s gerne hast. Und denk nur an den leckeren Schokobon. Für dich mit einer Extrafüllung K.-o-Tropfen.“
„Fahr zur Hölle“,
presst Jonas hervor.
„Nein, Kleiner, dieses Ticket ist für dich gebucht. Schau mal, ich habe mir für deinen Ausstand was ganz Besonderes einfallen lassen.“

Mit einem Mal wird es taghell. Jonas ist geblendet und es dauert einen Moment bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt haben. Er schaut hinaus. Wohin er auch blickt, überall Berge von rostigem Schrott. Kühlschränke, Herde, Waschmaschinen und haufenweise ausgeweidete Autos, ausgeleuchtet im grellen Scheinwerferlicht.

„Weißt du eigentlich, wo du hier bist? Es gibt so viel Wissenswertes über Erlangen und du hast keinen blassen Schimmer von deiner neuen Heimat. Wusstest du, dass hier in deiner Nachbarschaft, in Eltersdorf, die größte Schrottpresse der Welt steht? Na, was sagst du, das ist doch die ideale Bühne für einen Abgang, oder?“

„Was hast du vor, du Wahnsinniger?“, stößt Jonas mit erstickter Stimme hervor.

„Schrotten war doch immer dein Ding, oder? Stell dir mal vor, hier werden jeden Tag bis zu 1.000 Tonnen Metall in kleine, praktische Quader gepresst. So ein Schrottquader ist doch ein prima Andenken. Das stellen wir uns schön aufs Vereinsgelände. Dann bis du uns immer ganz nah.“
Jonas bäumt sich noch einmal auf und beugt sich mit letzter Kraft aus dem Seitenfenster, um zu sehen, ob er sich nicht doch mit einem Sprung retten kann. Aber er schwebt mit dem Wagen gut 20 Meter über dem Boden und direkt unter ihm öffnet sich der weite Schlund der Schrottpresse. 

„Das kannst du nicht machen. Hör auf!“, brüllt er Jimmy durchs Handy an. „Um der alten Zeiten willen.“

„Gutes Stichwort. Apropos … alte Zeiten“. Jimmy schaltet den Scheinwerfer an seinem Kran zweimal nacheinander ein und aus. Danach hört Jonas ein Brummen, erst ganz leise, dann immer lauter und lauter. Es ist ein Sound, den er noch von früher kennt. Und dann sieht er sie kommen. Ein Schwarm apokalyptischer Reiter, der sich seinen Weg durch die Berge aus Schrott bahnt. Die Dark Devils. Sie fahren bis an den Rand der Presse, dann bringen sie ihre Bikes mit laufendem Motor zum Stehen. Einer der Devils hat einen Rekorder mitgebracht und aus dem Lautsprecher ertönen die ersten Takte von „Slaughter of the Soul“.

„Jimmy, bitte lass mich runter!“ fleht Jonas.
Er sieht hinüber zu Jimmy, der seinen Blick langsam über die Armaturen des Lastenkrans schweifen lässt.

„Dein Wunsch sei mir Befehl“, sagt Jimmy und drückt auf einen der vielen Knöpfe an seinem Pult.

„Fuck you, Milchgesicht!“

Die Eisenklaue öffnet sich, dann rauscht Jonas samt dem Wagen im freien Fall hinab in die Tiefe.

Das letzte, was er in seinem Leben hört, ist wie das rhythmische Hämmern des 30-Tonnen-Rotors sich mit dem Schlagzeug aus seinem Lieblingssong verbündet.  

„Never again.

My tired eyes have seen enough.

Of all your lies.

My hate is blind!

„Krasser Sound”, denkt Jonas noch. Danach wird alles schwarz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

13 thoughts on “Death Metal

  1. Die Geschichte ist mega, mega gut! Die Idee ist so gut durchdacht! Und brutal, was ich aber sehr gut finde. Das mit der Schrottpresse ist eine eklige Vorstellung 😄 aber VERDAMMT GUT! Ich drücke dir die Daumen fürs eBook! Meine Stimme hast du! ☺️😊
    Und das mit dem Gurt – Ich dachte erst, er ist auf einen Tisch oder irgendwas anderes geschnallt. Sehr gut gemacht! Großes Lob!

  2. Was mir sehr gut gefallen hat, ist dein Schreibstil 🙂 Deine Geschichte liest sich super flüssig und reißt den Leser auf jeden Fall mit.
    Am Ende hätte ich mir noch einen tollen Twist bzw. eine unerwartete Wendung gewünscht.

    1. Heyy,
      von mir hättest du wahrscheinlich alleine schon wegen der Metal Songs ein Like bekommen, aber die Story ist auch echt gut, ich mag die Idee mit dem Taxifahrer, liest sich alles super flüssig und richtig cool mit den Liedzeilen zwischendurch😁🤘

      LG Laura (“121 Tage”)

  3. Lieber Herr Hase ;),

    danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meine Geschichte zu lesen und natürlich für Ihr Feedback.

    Ich freue mich, dass Sie sie Anspielung verstanden haben. Ich bin ein großer Fan von Max Goldt!

    Viele Grüße,
    Georg

    1. Lieber Georg

      Was für eine großartige Geschichte.

      Ich bin immer noch hin und weg.

      Du hast einen ganz individuellen Schreibstil, und dieser gefällt mir sehr gut.

      Deine Geschichte schreit nach einer Verfilmung.
      Nach einer Veröffentlichung sowieso.

      Ich glaube, du bist ein endkrasser, genial veranlagter Typ.

      Zumindest schreibst du so.

      So müssen Kurzgeschichten sein.
      So müssen Kurzgeschichten aufgebaut sein.
      So müssen Kurzgeschichten enden.

      Das Finale ist wirklich einzigartig und emotional.
      Und vor allem überraschend.

      Du hast ein schönes Erzähltalent.

      Ich kann an deiner Geschichte nichts Negatives finden.

      Es ist so traurig, dass du erst so wenige Herzen hat.

      Mein Like hast du natürlich sicher.

      Ich mag deine Story.
      Ich mag deine Protagonisten.
      Ich liebe deinen Schreibstil.
      Und ich verehre dein Talent.

      Ich wünsche dir deiner Geschichte alles Gute.
      Und noch viel mehr Leserinnen und Leser.

      Denn du hast es verdient.

      Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

      Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
      Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen.
      Aber natürlich nur über einen ehrlichen.
      🙂

      Meine Geschichte heißt:

      “Die silberne Katze”

      Ich danke dir.
      Swen

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