OscarianaWildeDer Fremde

In der Regel sah ich zu, wie er seine Wohnung verließ. Erdgeschoss, in einer verlassenen Ecke am Ende der Straße. Wenn ich auf dem richtigen Punkt auf der anderen Straßenseite stand, konnte ich obendrein in seine Küche blicken, wo ich üblicherweise zusah, wie er seinen Kaffee trank. Heute hatte ich ihn jedoch verpasst. Er musste früher aus dem Haus gegangen sein, als ich es von ihm gewohnt war. Das machte mich neugierig. Neugieriger als sonst.

Ich lief ihm schon eine Weile nach. Weshalb wusste ich selbst nicht. Weder wirkte er sonderlich interessant, noch besaß ich ein sexuelles Interesse an ihm. Dafür war er zu alt. Doch etwas an ihm reizte meine Nerven. Seit ich ihn das erste Mal sah, juckte es in meinen Fingern, mehr über ihn zu erfahren.

Ich wartete bis zur üblichen Zeit. Ich wollte vermeiden, dass er ohne Vorwarnung zurückkam und mich erwischte. Mit einem letzten Blick auf meine Armbanduhr schlurfte ich los. Schnurstracks steuerte ich die Haustüre an. Ein Mehrfamilienhaus.

Zu hoffen, dass jemand durch Zufall nach draußen trat, war mir zu riskant und zu mühsam. Daher musterte ich sorgfältig die Klingelanlage.

Gerda Wegemann. Der Name klang nach einer älteren Dame. Genau richtig für diesen Moment.

Ich klingelte.

Nach einer Weile knisterte die Anlage. >>Ja?<<

Ganz so alt klang sie doch nicht. Egal.

>>Guten Morgen<<, säuselte ich in die Sprechstelle. >>Verzeihen Sie bitte, aber ich habe ein kleines Problem.<<

Etwas raschelte. Ich befürchtete, sie würde einhängen. Rasch sprach ich weiter.

>>Mein Name ist Mandy Seifert.<< Eine Lüge. >>Ich wohne seit kurzem hier. Ich bin bei meinem Freund eingezogen, aber er ist schon zur Arbeit gefahren. Ich wollte mein Fahrrad rausstellen und die Tür ist zugefallen. Und mein Schlüssel liegt noch im Treppenhaus. Könnten Sie mir kurz aufmachen?<<

Sorgsam schaute ich zu den verschiedenen Fenstern hinauf.

Hoffentlich starrte sie nicht nach draußen. Bei dem fehlenden Fahrrad würde sie skeptisch werden.

Stille.

Unkontrolliert zitterten meine Knie. Mir behagte es nicht, so lange hier rumzustehen. Zwar versuchte ich nicht das erste Mal, in ein Haus einzudringen, aber dieses Mal bedeutete es mir etwas. Und ich wollte nicht erwischt werden.

>>Hallo?<<, hakte ich nach.

>>Na schön<<, raunte es trotzig auf der anderen Seite. >>Sie sollten sich aber im Haus vorstellen. Sonst könnte ja jeder irgendwo klingeln, um reinzukommen.<<

Wie recht sie hatte!

>>Selbstverständlich<<, stimmte ich zu. >>Das war unhöflich von mir. Ich komme am Wochenende vorbei und stelle mich bei Ihnen vor. Versprochen.<<

Der Öffner surrte.

>>Danke.<< Hastig drückte ich die Tür auf.

Das war leichter als erwartet. Für gewöhnlich sind die Menschen skeptischer.

Ich ging zur ersten Tür auf der rechten Seite. Sie kam von der Lage her als einzige infrage. Voller Neugier beugte ich mich vor, las das Namensschild.

Becker. Mehr stand da nicht.

Zumindest wusste ich endlich, wie er hieß. Seinen Vornamen würde ich früher oder später herausfinden.

Umsichtig linste ich über die Schulter. Das Treppenhaus lag still. Jedoch etwas chaotisch. Ein ramponierter Kinderwagen thronte in der Ecke. Wahrscheinlich schon eine Weile nicht mehr benutzt, was aber für mich keine Bedeutung spielte. Ich wollte nichts weiter als durch diese Tür. Und dabei durfte mich keiner sehen.

Als ich mir sicher war, dass niemand herunterkommen würde, machte ich mich ans Werk. Flink holte ich mein Werkzeug aus meiner Daunenjacke hervor. Dies bestand aus flachen Metallteilen, die ich als Spanner nutzen konnte. Klassisches Mitbringsel für Lockpicking. Das hatte ich als zwölfjährige von meinem Stiefvater gelernt. Er war kein ehrlicher Kerl, aber er war auch nicht übel. Besser als die Kerle, die meine Mutter zuvor mitgebracht hatte. An meinen richtigen Vater erinnerte ich mich nicht mehr.

Es dauerte länger, als ich gehofft hatte, die Tür zu öffnen. Das Schloss war eindeutig keines der Billigteile aus dem Baumarkt. Doch ich schaffte es. Allerdings hinterließ ich winzige Kratzer, die ich ursprünglich vermeiden wollte.

Rasch trat ich ein und schloss die Tür hinter mir. Voller Entdeckerfreude sah ich mich um. Er besaß nicht viel. Ausschließlich das nötigste. Das machte es mir leichter, mir ein Bild von ihm zu schaffen.

Von meinen Touren, die ich einlegte, wenn ich ihm folgte, wusste ich, dass er Automechaniker war. Das zeigte sich auch deutlich an den eingetrockneten Ölflecken, die auf dem abgenutzten Sofa prangten. Außerdem hingen eine Handvoll Fotos von Oldtimern an den Wänden. Die restlichen Möbel schienen ebenfalls mindestens so alt wie er selbst zu sein. Dem Muster zufolge mussten sie aus den Sechzigern stammen.

Ich nahm einen Duft wahr, den ich tief einatmete. Lange konnte er nicht fort sein. Ich roch sein Parfum. Herb mit holziger Note.

Ohne etwas zu berühren, streifte ich durch die kleine Wohnung. Das Bett war ungemacht, Kleider lagen planlos in der Ecke. In der Küche stand noch seine benutzte Tasse, und Reste von eingekochten Nudeln klebten in einem Topf auf dem Herd, von denen ich mir sicher war, dass sie seit einigen Tagen dort stehen mussten. Alles in allem war der Kerl ziemlich langweilig.

Ernüchtert trat ich zurück ins Wohnzimmer. Dort sah ich mich genauer um, berührte aber nichts, um nicht versehentlich Fingerabdrücke zu hinterlassen. Doch es war, als wollte er seine Identität verbergen. Nichts deutete auf ihn selbst hin. Keine Briefe mit vollem Namen, keine Fotos. Ich fand nicht einmal CDs, die mir sagen könnten, was er gerne hörte.

Ich gestand mir ein, dass es nichts brachte, hier zu sein. Missgestimmt torkelte ich zur Eingangstür. Doch urplötzlich erspähte ich was aus dem Augenwinkel und erstarrte. Irritiert blinzelte ich zum Sofa. Auf dem Abstelltisch lagen Automagazine. Nichts, auf das ich für gewöhnlich achten würde. Doch darunter lugte was hervor. Wissenshungrig schaute ich es mir genauer an. Die Ecke eines Umschlages. Sofort juckte es mir in den Fingern danach zu greifen. Ich zögerte aber.

Sekunden verstrichen. Mein Herz passte sich dem Takt meiner Armbanduhr an. Ich hörte mein Blut in den Ohren rauschen. Die Neugierde ließ mich fahrig werden.

Wäre es möglich, dass der Inhalt mir sagte, wer er war?

Ich konnte nicht anders. Ohne darüber nachzudenken, zerrte ich den Umschlag unter den Heften hervor. Ein vergilbtes Papier, das schon eine Weile herumliegen musste. Etwas stand darauf. Etwas, dass mich in Schockstarre versetzte.

Lona Wagner. Mein Name!

Ungläubig ließ ich den Umschlag fallen, sprang auf die Beine. Ich benötigte dringend frische Luft. Stolpernd hetzte ich zum Fenster, riss es auf und streckte den Kopf hinaus. Die kühle Herbstbrise wehte mir um die Nase.

Hatte er mich bemerkt? War der Umschlag absichtlich dort hingelegt worden, damit ich ihn sah? Aber woher kannte er meinen Namen?

Mir wurde übel, meine Knie zitterten. Schweiß stand mir auf der Stirn. So fühlte es sich also an, wenn jemand dir hinterher schleicht. Ich hatte mich zuvor nie gefragt, wie das für die anderen war, wenn ich das mit ihnen tat. Doch es war schrecklich.

Als ich mich etwas beruhigt hatte, schloss ich wieder das Fenster, wischte über den Griff und ging zurück zu dem Umschlag. Dieses schlichte Ding wirkte so bedrohlich wie eine Klinge an meinem Hals. Doch ich wollte wissen, was es bedeutete. Mit bebenden Fingern nahm ich ihn an mich. Für einen Brief war er zu schwer und zu groß. Mit Bedacht schielte ich hinein und stockte.

Ein Smartphone!

Stirnrunzelnd nahm ich es an mich. Ein Post-it klebte daran. Ein einziges Wort stand darauf: Amateur.

Ich stopfte das Post-it zurück in den Umschlag und drückte die Tasten. Der Akku war leer.

>>Verdammt<<, ächzte ich und probierte mein Glück nochmal. Vergebens.

Gebannt starrte ich das nutzlose Teil an.

Was wollte dieser Kerl mir mit einem defekten Telefon sagen?

Auf dem Hausflur knallte es. Erschrocken fuhr ich herum. Lauschte.

Kindergeschrei. Anscheinend brachte ein Nachbar seine Kinder in die Schule. Das bedeutete jedoch auch, dass ich schon zu lange hier war. Ich musste hier raus, bevor man mich erwischte. Auch, wenn es dieser Herr Becker wohl kaum selbst sein würde. Es sei denn …

Mir wurde bange. Ein Kloß steckte in meinem Hals.

Hatte er das geplant? War er deswegen so früh aus dem Haus gegangen, weil er hoffte, mich erwischen zu können, wenn ich endlich in seine Wohnung eindringen würde?

Panik machte sich in mir breit. Da ich den Umschlag und das Telefon ohnehin mit meinen Fingerabdrücken übersäht hatte, steckte ich beides ein. Daraufhin eilte ich zur Tür, lauschte erneut und verschwand schließlich nach draußen.

Ein ungutes Gefühl beflügelte mich, als ich die Straße entlang hetzte. Als verfolgte mich jemand. Immer wieder sah ich über die Schulter zurück, ohne langsamer zu werden. Ich wollte weg. Nach Hause. Oder an einen Ort, der wenigstens nicht hier war.

Nach einer Weile fand ich diesen Ort in einem winzigen Café. Ich kannte es nicht und war auch noch nie zuvor hier gewesen. Daher kam es mir am sichersten vor. Geduckt trottete ich hinein und warf mich in eine Sitznische in der hintersten Ecke.

Um diese Uhrzeit war es schlecht besucht. Außer mir befanden sich nur noch ein altes Rentnerpaar sowie eine Gruppe Schulschwänzer im Laden. Letzteres machte allerdings so viel Lärm wie eine komplette Blaskapelle.

Mürrisch trat ein Kellner an mich heran, der mich mit einem Brummen und Kopfnicken begrüßte.

>>Einen Kaffee, bitte<<, murmelte ich.

>>Noch was dazu?<<

Ich schüttelte den Kopf und er trat ab.

Ich wartete, bis er mir meine Bestellung brachte, reichte ihm ein paar Münzen und zog letztendlich das Smartphone aus der Jacke. Ein veraltetes Modell in roter Farbe.

Wieder drückte ich darauf herum. Doch auch jetzt machte es keinen Muckser. Fahrig drehte ich es in den Fingern. An der Rückseite hatte es grobe Kratzer. Ich strich darüber. An dem alten Ding konnte man den Akku noch austauschen. Schaulustig nahm ich den Deckel ab und staunte.

Kein Wunder, dass das Ding nicht ansprang. Es hatte keinen Akku mehr!

Doch etwas anderes lag noch darin. Die Speicherkarte.

Ich zog diese heraus und musterte sie skeptisch. Bestimmt wollte er mir damit was sagen.

Ich holte mein eigenes Telefon hervor, begutachtete es und hatte Glück. Es besaß einen Steckplatz!

Etwas schwerfällig steckte ich die Karte ein und lud die Daten. Mit einem Mal zeigte der Speicher eine gehörige Menge an Dateien an. Fotos. Fieberhaft öffnete ich den Ordner, nur um sofort wieder in Panik zu verfallen und das Handy fallen zu lassen. Mir schlug mein Herz bis in die Kehle hinauf.

Was sollte dieser Scheiß?

Zitternd hob ich das Telefon auf und starrte nochmals auf das erste Bild. Es zeigte mich! Ich wischte weiter. Wieder ich. Auch auf dem Nächsten prangte mein Gesicht. Es hörte nicht auf. Ich wischte und wischte und auf jedem Foto auf dieser Speicherkarte war ich zu sehen!

Ein Wimmern glitt mir über die Lippen. Ich traute mich kaum noch, mich zu bewegen. Mit einem Mal fühlte ich mich wie ein Ausstellungsstück in einem Museum. Als hafteten sämtliche Augenpaare auf mir. Dabei schenkte mir nicht einmal das Rentnerpaar einen Blick.

Eine unsichtbare Hand drückte mir die Luft ab. Ich röchelte aus Angst.

Meine Hand zitterte so sehr, dass ich das Telefon auf den Tisch legen musste. Tief atmete ich ein und wieder aus. Das half jedoch wenig. Stattdessen verschlimmerte es den Druck in meinem Kopf. Mir wurde schwindelig. Doch die Neugierde nagte weiterhin an mir.

Wer auch immer dieser Kerl war, er war gut. Wenn nicht sogar besser als ich. Und das besorgte mich.

Hastig schluckte ich den Kaffee herunter, um meine Kehle zu befeuchten. Daraufhin wagte ich mich erneut an die Fotos heran. Sie zeigten mich in Alltagssituationen. Beim Einkaufen, bei Joggen, sogar bei dem Einbruch in den kleinen Tante-Emma-Laden, den ich erst vor einer Woche durchgeführt hatte. Am meisten verstörte mich aber das letzte Bild. Das einzige Foto, auf dem ich nicht allein war. Ich, sitzend in einem Sessel. Ein Sessel, der in der Wohnung meiner Mutter stand. Neben mir mein Stiefvater.

Das Foto konnte nicht alt sein. Ich erinnerte mich, wie ich erst vier Wochen zuvor die beiden besucht und mit Karl diskutiert hatte.

Ein Schauer lief mir über den Rücken.

Zu dem Zeitpunkt bin ich diesem Becker noch nicht gefolgt!

Rasch hob ich den Kopf. Schaute mich im Café um.

Wer auch immer dieser Becker war, er kannte mich schon länger als ich ihn …

Keuchend sprang ich auf. Gerade in dem Moment erhaschte ich einen Schatten, der an der Fensterfront vorbeihuschte. Ich stockte.

War das …?

Ich war mir sicher, das war der Kerl.

Hektisch steckte ich mein Telefon ein und hastete zur Tür. Doch er war nicht zu sehen. Skeptisch rieb ich mir über die Augen, blinzelte und schaute mich auf der Straße um. In meinem Kopf drehte es sich. Doch egal, wie sehr ich mich anstrengte, der Kerl war nicht zu sehen.

Ich marschierte einige Schritte, um den Kopf frei zu bekommen. Dabei wusste ich nicht einmal, wohin ich ging.

Wieder zog ich das Telefon hervor, um die Fotos zu betrachten. Unachtsam rannte ich in eine bieder aussehende Frau, die mir einen scharfen Blick zuwarf. Ich ließ mich davon nicht ablenken. Erneut blickte ich auf das Smartphone und das unbekannte Foto mit meinem Gesicht. Zögernd hielt ich inne, stierte begieriger darauf.

Es musste einen Hinweis geben, wer dieser Kerl ist und was er wollte!

Doch ich fand nichts. Seufzend steckte ich das Telefon wieder ein.

Mein Atem beruhigte sich ein wenig, auch wenn ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Wer auch immer dieser Kerl war, er wollte mir damit was sagen. Aber was?

Neben mir prasselte ein Stein auf den Boden und kugelte ein Stück auf dem Asphalt entlang. Verwirrt starrte ich darauf. Dann landete der nächste neben mir. Jemand warf sie hinter meinem Rücken zu mir.

Harsch drehte ich mich herum, um daraufhin eine bekannte Silhouette zu erkennen. Sofort legte mein Herz den nächsten Sprint ein. Gelassen stand er einfach so da. Dieser Becker. Und dabei grinste er noch.

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Nie im Leben wäre es mir in den Sinn gekommen, mal auf der anderen Seite zu stehen und beobachtet zu werden.

>>Wer sind Sie?<<, fragte ich mit zitternder Stimme und machte eine behutsamen Schritt auf ihn zu.

Er antwortete nicht. Stattdessen zuckte er mit den Schultern. Dieser Kerl hatte seine Gefühle um einiges besser im Griff als ich.

Das machte mich rasend.

Abermals setzte ich den Fuß nach vorn, nur um sofort wieder innezuhalten. Ein fröstelnder Schauer rann mir die Wirbelsäule hinab, während er mich seelenruhig beobachtete.

Schwer schluckte ich.

Ich traute diesem Kerl nicht. Doch wenn ich eines gelernt hatte, dann dass man nie herausfinden würde, wer dein Stalker ist, wenn man sich ihm nicht stellte.

Tief holte ich Luft, kramte das Telefon zum wiederholten Male hervor und suchte ein gewisses Foto, um es in seine Richtung zu halten.

>>Wieso machen Sie ein Foto von mir und meinem Vater?<<

Becker lachte.

Langsam ging ich näher an ihn heran, behielt aber genügend Abstand zu ihm.

>>Auf allen anderen Fotos bin ich allein zu sehen. Wieso haben Sie eines mit meinem Vater?<< Meine Stimme zitterte immer mehr. Die Worte kamen nur noch abgehakt aus mir heraus. >>Wollen Sie mir irgendetwas damit sagen? Kein Stalker weicht von seinem Motiv ab. Ich würde nie jemand anderes mit ablichten. Wieso tun Sie das?<<

Stumm legte er den Kopf schräg. Fast schon fürsorglich, und irgendwie auch mitleidig, betrachtete er mich.

>>Lona …<<, seufzte er.

Ich hielt den Atem an. Seine Stimme klang so warm und freundschaftlich, dass es mich irritierte. Als hätte ich sie schon einmal gehört.

>>Wer sind Sie?<<, wollte ich wissen.

Doch wieder blieb er mir eine Antwort schuldig.

Ich fühlte mich wie einem Starrwettbewerb. Keiner von uns beiden wich dem Blick des anderen aus. Ich traute mich nicht einmal mehr, zu blinzeln.

Schließlich tat er etwas, was mich ablenkte. Er sah über meine Schulter, nickte mit dem Kinn in das Nichts hinter mir. Ich fuhr herum. Außer den vorbeifahrenden Autos, einigen Passanten und einer streunenden Katze am Ende der Straße, sah ich aber nichts.

>>Was …?<< Ich drehte mich zurück in seine Richtung. Doch wo er gerade noch stand, war nur noch eine leere Fläche.

>>Mistkerl<<, fluchte ich und hetzte los.

Dieser Kerl hatte es tatsächlich gewagt, mich mit so einem billigen Trick hereinzulegen. Und ich war auch noch so dumm gewesen, darauf hereinzufallen.

Während ich um die Ecke sprintete, sah ich, wie er nicht unweit über den Gehsteig lief. Erbost rannte ich ihm hinterher, setzte zum Sprung an und warf mich auf ihn. Ich brachte ihn zum Stolpern, strauchelte aber ebenfalls. Ich kam nicht rechtzeitig wieder auf die Beine. Und ehe ich mich versah, spürte ich einen festen Druck an der Schulter und fiel …

 

Ich erwachte in einem hellen Raum. Ein Piepsen drang an meine Ohren. Mein Körper schmerzte. Allem voran mein Kopf. Mit einem Gefühl von Übelkeit setzte ich mich auf, blinzelte die Müdigkeit aus meinen Augen. Schließlich erkannte ich Umrisse. Ich befand mich in einem Krankenhausbett. Auf der anderen Seite des Raumes lag ein weiterer Patient. Das Piepsen kam von dem Monitor, an dem er angeschlossen war. Das Gerät neben mir war ausgeschalten.

Wie war ich hierhergekommen?

Ich suchte nach dem Notfallknopf und drückte ihn. Es dauerte nicht lange, bis eine untersetzte Krankenschwester auftauchte, die mich mit einem Lächeln beäugte. >>Da sind Sie ja<<, trällerte sie in einer lächerlichen Sing-Sang-Stimme. >>Ich glaubte schon, Sie wollen einen Rekord im Dauerschlafen aufstellen.<<

Ich rollte mit den Augen. Zumindest versuchte ich es, bereute es aber sofort. Ein Stechen durchfuhr meine Schläfe.

>>Wieso bin ich hier?<<, ächzte ich und betastete meine Stirn.

Das Lächeln der Schwester erstarb. Fast schon tadelnd musterte sie mich. >>Sie waren ein recht ungezogenes Ding<<, begann sie und allein für diese Worte hätte ich ihr am liebsten eine verpasst. >>Sie wollten einen Mann auf offener Straße ausrauben.<<

Ich weitete die Augen. Dieser Becker hatte es geschafft, mich noch als die Böse hinzustellen!

>>Ich wollte ihn nicht ausrauben. Ich -<<, protestierte ich.

Die Krankenschwester schüttelte den Kopf und würgte meine Worte mit einer eindeutigen Geste ab. >>Sie können es nicht abstreiten. Es gab genügend Zeugen. Und Sie brauchen sich nicht wundern, dass Sie hier gelandet sind. Der Mann hatte sich gewehrt und sie davon gestoßen. Dabei sind sie heftig mit dem Kopf auf den Asphalt geknallt. Dabei hatten Sie noch Glück. Was, wenn ein Auto Sie erwischt hätte?<<

Angestrengt dachte ich nach. Ich konnte mich daran nicht mehr erinnern.

>>Wo ist dieser Kerl?<<

Stutzend zuckte sie zurück. >>Das weiß ich nicht. Einige Passanten sahen, wie er wegging. Aber bisher kam noch keine Anzeige. Ich an Ihrer Stelle würde damit aber rechnen.<<

Das tat ich nicht. Sonst müsste er damit rechnen, dass ich die Fotos der Polizei zeigen würde.

Apropos Fotos …

>>Wo ist mein Handy?<< Reflexartig griff ich an den Beistelltisch und kramte darin herum.

>>Das weiß ich nicht<<, murmelte sie und griff nach meinem Handgelenk. >>Sie sollten sich aber lieber etwas ausruhen.<<

Grob entriss ich mich ihrem Griff. >>Ich will mein Handy. Wo ist es?<< Wieder kramte ich in dem Tisch, doch dort lag es nicht. Panisch rappelte ich mich auf und riss sämtliche Fächer auf.

>>Immer mit der Ruhe, mein Fräulein. Vielleicht hat ihr Vater es an sich genommen.<<

Ich erstarrte. >>Mein Vater? Er war hier?<<

Mit einem aufgesetzten Lächeln tastete sie nach etwas, dass auf dem Tisch lag und das ich bisher nicht beachtet hatte. Sie reichte mir einen Umschlag. Ein Umschlag, auf dem mein Name prangte.

Mir wurde übel. Von wegen mein Vater war hier gewesen. Das war dieser Becker.

Mit zittrigen Fingern nahm ich ihn entgegen.

>>Gehen Sie raus<<, presste ich atemlos hervor.

Etwas brüskiert schnappte die Krankenschwester nach Luft, folgte aber meiner Bitte und verließ das Zimmer.

Sekunden verstrichen, während ich den Umschlag beäugte. Er war dünn. Ein Telefon konnte dieses Mal nicht darin liegen.

Beklommen öffnete ich ihn. Ich fand ein Foto, das ich hervorzog. Vor Schreck keuchte ich. Wieder war darauf ich abgelichtet. Doch es war alt. Ich konnte höchstens fünf gewesen sein. Links neben mir meine Mutter. Und rechts …

Ich schnappte nach Luft. Das war Becker! Jünger und mit breitem Lächeln auf den Lippen. Er hatte nicht gelogen. Er war mein Vater …

 

 

Ende.

21 thoughts on “Der Fremde

  1. Gut umgesetzt und flott erzählt. Nicht ganz klar ist mir, weshalb „Becker“ sich bei der Gegenüberstellung noch nicht zu erkennen gibt aber der Verfolgungsjagd mit Angriff. Führt allerdings zu der schönen Wendung am Schluss. Gefällt mir.

      1. Danke für das Feedback.

        Mein Grundgedanke beim Ende war der, dass sie es nicht glauben würde, wenn er es auf der Straße einfach so ohne Beweise sagen würde.
        Das Foto jedoch ist ein Beweis, den sie nicht sofort abstreiten kann.

  2. Moin!
    Bei deiner Geschichte sind die Parameter ja mal richtig gut umgesetzt! Der Stalker der zum Opfer wird. In einem Rutsch durchgelesen. Spannend, lässt zum Ende etwas nach. Aber der Gute Gesamteindruck bleibt dennoch…Klasse!

    LG Frank aka leonjoestick ( Der Ponyjäger)

  3. Ich schließe mich den Anderen an: sehr angenehmer Schreibstil, liest sich schön flüssig!
    Gerade den Anfang finde ich interessant. Aus der Sicht der Stalkerin zu lesen, ist mal was Anderes und nach meinem Geschmack hätte es noch ein bisschen so weitergehen können. Den Twist, dass die Stalkerin zur Gestalkten wird, hast du super umgesetzt.
    Ich stimme monaline jedoch in der Hinsicht zu, als dass Becker doch schon früher hätte sagen können, dass er ihr Vater ist – wieso er das nicht tut, bleibt mir schleierhaft.

    Insgesamt aber eine gute Geschichte, die sich super liest! Mein Like hast du.
    Wenn du Lust hast, kannst du dir meine ja auch mal durchlesen und kritisieren 🙂 https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/verdraengnis

    Ganz liebe Grüße,
    Jaqueline

  4. Ich kann mich den Anderen nur anschließen. Sehr gut geschrieben und spannend. Vor allem am Anfang. Die Perspektive eines Stalkers ist toll. Aber auch ich schließe mich Monaline und schnaggiknaggi an, dass er hätte sagen können, dass er der Vater ist. Das sie dies nicht geglaubt hätte möglich, aber das hätte man auch einbinden können.
    Dennoch absolut Super Idee und daher meine Stimme.

    Auch ich würde mich freuen, wenn du meine Geschichte liest und eventuell ein Feedback da lässt.
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/alles-verloren

  5. Hi,
    die Geschichte ist wirklich sehr spannend und der Text lässt sich super flüssig lesen. Besonders interessant finde ich das Setting, dass die Protagonisten zuerst selbst als Stalkerin unterwegs ist. Auch passt hier die Erzählweise aus der Ich-Perspektive sehr gut. Ganz besonders hat mir noch gefallen, mit wie wenigen Worten die Geschichte am Ende aufgedeckt wurde.

    Meinen Like hast du dafür 🙂

    Vielleicht hast du ja nochmal lust und Zeit auch meine Geschichte zu lesen, dass würde mich sehr freuen:
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/rate-wer-ich-bin

  6. Hi, tolle Geschichte, mal was anderes.
    Auch, wenn ab einem Gewissen Punkt eigentlich klar war, wer Becker ist, hat die Geschichte nie an Spannung verloren. Allerdings hinterlässt sie einige offene Fragen, bei denen ich mir gewünscht hätte, dass diese zumindest angerissen werden :
    – Warum stalkt Lona diesen Becker?
    – Warum stalkt Becker sie und gibt sich ihr nicht als Vater zu erkennen?

    Dennoch sehr gute Geschichte!

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen >> Glasauge
    Über ein Feedback würde ich mich sehr freuen.

  7. Hallo,
    Schöne Geschichte! Die Idee mit dem Stalker der zum Gestalkten wird finde ich gut, auch wenn ich mich nach wie vor frage, warum er es eigentlich gemacht hat….
    Übrigens hat sie an der Tür bestimmt auch Fingerabdrücke hinterlassen, die sie ja eigentlich vermeiden wollte 😉
    LG Yvonne/ voll.kreativ (Der goldene Pokal)

  8. Hallo,
    Die Perspektive deiner Geschichte macht sie besonders interessant und hat mich direkt gefesselt. Ich fand sie toll und rasant.
    Mein Like hast sicher 😁.
    Ich wünsche dir viel Erfolg 🍀.

    Ganz liebe Grüße

    Maddy

    P. S Meine Geschichte heißt “Alte Bekannte” 🙈🙊😊

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